
Nach den Pfiffen gegen Seferovic titelte die «SonntagsZeitung»: «Wir Banausen». Ein Psychologe sagte gegenüber dem TA: «Das sind keine Fans – das sind Rowdys.» Aber wo setzen wir den Massstab für Sportkultur an, wenn Fans immer noch lebensgefährliche Petarden im Stadion zünden? Foto: Keystone/Laurent Gillieron
Üblicherweise bereiten im Fussball falsche Schiedsrichterpfiffe Unheil. Diesmal waren es Zuschauerpfiffe. Kaum zu glauben, was die Pfiffe gegen den Schweizer Nationalspieler Haris Seferovic im Lande ausgelöst haben. Wir seien keine Fussballnation, steht geschrieben, folglich auch keine Sportnation, und mein geschätzter Kollege David Wiederkehr kommt gar zur Auffassung, die Schweiz habe keine «echte Sportkultur». Schande über unser Land, zur Hölle mit jenen, die in Basel die Finger zwischen die Zähne gesteckt haben!
Was ist denn eigentlich passiert? Es gab in Basel einige Zuschauer, die mit dem Gebotenen nicht zufrieden waren und ihre Wolle an Haris Seferovic abreagierten. Ob Seferovic der richtige Zornableiter war, bleibe dahingestellt. Aber warum sollen Fussball-Zuschauer ihr Missfallen nicht zum Ausdruck bringen, nur weil die Spieler mit dem Schweizer Kreuz auf der Brust herumrennen? Im Theater und in der Oper wird auch gebuht und gepfiffen, wenn sich die Vorstellungen des Regisseurs zu weit von den Erwartungen des Publikums entfernen. Ohne dass ein solches Missfallen gleich als halbe Staatskrise bewertet wird. Wenn das Publikum in den Kathedralen der hohen Künste pfeift und buht, redet niemand davon, dass die Schweiz keine Kulturkultur hat.
Keine Schockgegner 2014 und 2016
Man kann die Sache auch anders sehen: Vielleicht haben wir Schweizer derart viel Sportkultur, dass wir sehr wohl einschätzen können, wie stark jene Mannschaften sind, an denen die Nationalmannschaft die Weltrangliste hochklettert.
Für die Qualifikation zur WM-Endrunde 2014 in Brasilien waren das: Island, Slowenien, Norwegen, Albanien und Zypern, allesamt nicht gerade Schockgegner, aber die Schweiz überstand unter Ottmar Hitzfeld diese Gruppe ohne Niederlage – Chapeau! Für die Euro 2016 in Frankreich: San Marino, Litauen, Estland und Slowenien, dazu England, und gegen England gab es zwei klare Niederlagen. Also Rang 2, Pflicht erfüllt, mehr aber nicht. Kommen wir zur WM-Endrunde 2018 in Russland: Andorra, Färöer, Lettland und Ungarn gehören sicher nicht zur Crème de la Crème des Weltfussballs, auch hier reichte es zur Pflichterfüllung, aber weil die Schweizer gegen Andorra & Co. zu wenige Tore schossen und gegen Portugal nur das Heimspiel gewannen, wurden sie in die Barrage gegen Nordirland verbannt.
Hält man sich vor Augen, wer wo spielt, sind die Schweizer im Vergleich zu Nordirland eine Weltauswahl. Auch hier: Pflicht erfüllt, mehr nicht, zumal ein Schiedsrichter bei der Pflichterfüllung mithelfen musste. Und vergessen wir bei dieser Übersicht nicht, dass die Schweiz die Euro-Endrunde 2012 nicht schaffte. England und Montenegro waren stärker.
Die Schweizer Fans trauen ihrer Mannschaft mehr zu
Es gebe keine kleinen Mannschaften mehr, pflegen seit den Zeiten von Berti Vogts die Nationaltrainer zu sagen. Das ist natürlich Unsinn. Was anderes als kleine Gegner sollen denn Andorra, San Marino, Färöer, Estland, Lettland, Litauen, Liechtenstein, Malta, Luxemburg und Gibraltar sein? Vielleicht spüren die Fans, dass es für die Schweiz endlich an der Zeit wäre, sich wieder einmal gegen einen namhaften Gegner durchzusetzen, vielleicht messen sie ihre Ansprüche an jenen Spielern, die sich in jüngster Vergangenheit stets nach oben orientieren, aber diese Ebene als Nationalteam offensichtlich noch nicht erreicht haben.
Zurück zur Sportkultur: Solange in den Stadien lebensgefährliche Petarden knallen, vor den Stadien ständig die Polizei ausrücken muss und ausserhalb der Stadien Eisenbahnzüge verwüstet werden, darf nicht ein harmloses Pfeifkonzert als Massstab für die Frage gelten, ob die Schweiz eine Fankultur hat oder nicht.
Sehr geehrter Herr Tognoni
Der Kommentar bringt es lasergenau auf den Punkt, dass der zweite Rang nicht mehr als die Pflichterfüllung war.
Wenn die Mannschaft so gut wäre, wie das FIFA–Ranking vorgaukelt, dann hätten wir nicht mehrere Zitterpartien gegen die kleinen Gegner erleben müssen.
Es ist entlarvend, wenn ein FIFA-Funktionär Fussball-Fans mit Theater-Besuchern vergleicht. Und leider völlig am Thema vorbeigeschrieben. Es geht doch gar nicht darum, dass ein Fussballpublikum nicht seinen Unmut zum Ausdruck bringen darf. Natürlich darf es das. Nur hat ein kleiner Teil des Publikums am vorletzten Sonntag zur völligen Unzeit zum niederen Mittel des Pfeifens gegriffen und damit gezeigt, dass es weder Sachverstand noch Gespür hat. Die Schweiz stand 5min vor der WM-Quali, 5min vor einem grossen Erfolg, in einem Spiel, das auf der Kippe stand, in einem Moment, wo die Mannschaft Unterstützung, den 12. Mann braucht, und sicher keine Pfiffe gegen einen verunsicherten Spieler.
…oder um beim Bild von Tognoni zu bleiben. Wenn ein Theater-Publikum bei einem Stück von Bertold Brecht pfeift, sollte es sich fragen, ob es am rechten Ort ist und vielleicht das nächste Mal nicht doch besser wieder einen bodenständigen Schwank schauen geht.
Was aber, wenn das Publikum ein Brecht-Theater erwartet, weil es zu diesem Anlass erschien und dann bloss einen bodenständigen Schwank vorgesetzt bekommt?
Ein sehr guter Kommentar von Guido Tognoni, dem nur beizupflichten ist. Die Fussballer der Nationalmannschaft sind in den letzten Jahren nicht müde geworden, zu betonen, den nächsten Schritt zu machen. Und der kann nur heissen, sich gegen Mannschaften wie in der WM-Ausscheidung durchzusetzen – Portugal mal ausgenommen. Das haben die Schweizer geschafft, mehr aber auch nicht. Denn sie haben in einigen Spielen viel zu wenig Tore geschossen. Und da ist das Hauptproblem zu orten, warum die Schweiz keine grosse Mannschaft hat. Nicht nur dort, denn auch im Mittelfeld ist die Torgefahr der Spieler ein laues Lüftchen. Xhaka ist hinten ein Lenker, aber vorne tritt er kaum je in Erscheinung.
Zu wenig für ein Spieler seiner Klasse und vor allem der eigenen Ansprüche. Dass ein Spieler wie Seferovic in seinem Club schon wieder mehrheitlich auf der Bank sitzt, macht die Sache auch nicht besser. Seferovic müsste sich mal fragen, wieso er bei jedem Club am Anfang Tore schiesst und nach ein paar Spielen nicht mehr? Ein Spieler, der sich nicht in Selbstzufriedenheit übt, sollte in der Lage sein, einige Pfiffe aus dem Publikum zu verkraften. Alles in allem muss die Mannschaft erst noch beweisen, dass die Taten genauso vortrefflich sind wie die Worte.
Aber wäre es nicht sinnvoller eine Mannschaft, die 5min vor der WM Qualifikation steht, in einem Spiel, das auf der Kippe steht, mit einem Stürmer, den besten den wir zurzeit nun mal haben und der offensichtlich verunsichert ist, zu unterstützen, anstatt auszupfeifen?
@Buttner. Dann kommt wohl bei einigen wieder hoch, dass er eine Frau geschlagen haben soll, anstatt dass man sich auf’s anfeuern besinnt. Ein Weinstein-scher Geschmack bleibt halt zurück…
Danke für den guten Kommentar, es war höchste Zeit, die Relationen der Fankultur mal ein bisschen zurechtzurücken! Auch wann das der liebe Rüdiger da unten nicht wahrhaben will/kann …
Vielen Dank für diesen Artikel. Es ist unsäglich, mit welch verkehrten und sinnfreien Argumenten die letzte Woche umhergeschleudert wurde in den Medien. Es wird Drittliga-Sportkultur (alles was zählt ist “Einsatz” ) mit Spitzenfussball, welcher in erster Linie ein Milliarden-Geschäft ist, verwechselt. Und Spitzenfussballer werden nun mal nach Talent ausgewählt und nicht danach ob sie “Einsatz” zeigen. Darum, wenn die Leistung nicht stimmt und damit ist nun mal nicht einfach nur der “Einsatz” gemeint, wieso soll man seinem Unmut nicht Ausdruck verleihen dürfen? In welcher Welt leben wir eigentlich, in der so schlechter Fussball über die 180 Minuten auch noch gelobt werden soll?!
Fan(atiker) und Kultur passen so oder so nicht. Aber der Ex-Fifa-Angestellte Tognioni ist eh nicht aussagekräftig in seiner Elfenbeinturm-Artigen Welt/Anschauung…
Aber, aber Rüdiger, pack deine Fussballkinder in Watte, schütze sie mit Kopfhöhrer (ihr seid “Spitzenspieler” die leider wiedermal nicht den besten Tag erwischt habt, aber ihr seid Spitze),verteile Tennisbälle für in den Mund, sodass die Leute nicht mehr pfeiffen können.Habe noch ein grösseres Lager voll mit Taschentüchern, könnten abgeholt werden zum abtrocknen der Tränen.
Es ging um den Guido allgemein. Ansonsten bin ich eh nicht für die Schweizerische-Kosovarische-Natzi und Menschen wie Seferovic (Ex-Freundin anscheinend geschlagen) kann ich eh nicht ernst nehmen. Und Fussball-Fanatiker schon gar nicht
Hr. Rüdiger stime ich Ihnen 100% zu.