Liebe Leserinnen und Leser,
an dieser Stelle erscheinen keine weiteren Beiträge. Auf alle bereits erschienenen Artikel können Sie nach wie vor zugreifen.
Herzliche Grüsse, die Redaktion
Logo

England the Brave!

Thomas Wyss am Montag den 8. September 2014
Britain Soccer England Norway

Hände hoch: Wayne Rooney feiert seinen Treffer gegen Norwegen, den einzigen des letzten Testspiels. Fotos: Alastair Grant (AP Photo)

Die englische Nationalmannschaft befindet sich in einer «grossen Depression» – und das noch bevor sie mit dem heutigen Spiel gegen die Schweiz in die EM-Qualifikation startet. Dies behaupten zumindest die Medien des Königsreichs, und zwar für einmal nicht nur die treffsicher verletzenden Revolverblätter, sondern auch die BBC oder die «Times».

Britain Soccer England Norway

Luft nach oben: Noch nie kamen so wenige Fans ins Wembley, um die «Three Lions» zu sehen.

Diese erschütternde Diagnose folgte nach dem biederen 1:0 am letzten Mittwoch im Testspiel gegen Norwegen, für das sich – wohl auch wegen der miesen WM-Kampagne mit dem Vorrunden-Out – gerade mal noch 40’000 Anhänger für einen Besuch im Wembley zu erwärmen vermochten. Das knapp halb gefüllte Stadion bedeutete einen tristen Minusrekord: In der Geschichte des englischen Fussballs waren bei einem Match in diesem Fussballtempel noch niemals weniger Zuschauer gezählt worden – ein Faktum, das ein paar Leute zum Hashtag #ThingsBetterThanBeingAtWembleyRightNow inspirierte, die zynische Spontanaktion wurde im Königreich ein grosser Erfolg.

Statt nun in diesen allgemeinen Pöbel-Chor einzustimmen und den Abgesang um ein paar Strophen zu verlängern, wollen wir an dieser Stelle in kurzer Form daran erinnern, was wir der englischen Fussballnationalmannschaft – ja der britischen Fussballkultur im Allgemeinen – seit den 60er-Jahren alles zu verdanken haben. Hier die Top-5-Liste, die selbstverständlich unvollständig ist und nach Belieben verlängert werden darf.

1. Das Elfmeter-Drama. 1990 ein 4:5 im WM-Halbfinal gegen Deutschland, 1996 ein 5:6 im EM-Halbfinal gegen den selben Gegner, 1998 ein 3:4 im WM-Achtelfinal gegen Argentinien, 2004 ein 7:8 im EM-Viertelfinal gegen Portugal, 2006 ein 1:3 im WM-Viertelfinal gegen den gleichen Kontrahenten, 2012 ein 2:4 im EM-Viertelfinal gegen Italien. Ohne den legendären Penalty-Fluch der «Three Lions» wäre Fussball wohl heute noch eine ganz gewöhnliche Sportart.

2. Das Wembley-Tor. Das sogenannte «Wembley-Tor» von England-Stürmer Geoff Hurst am 30. Juli 1966 in der 101. Minute des WM-Finals zwischen England und Deutschland zum zwischenzeitlichen 3:2 ist wohl der berühmteste aller umstrittenen Treffer in der Geschichte der Historie des WM-Fussballs – knapp vor dem Treffer der «Hand Gottes» (dargeboten in irdischer Gestalt von Diego «El Pibe de Oro» Maradona) am 22. Juni 1986 im WM-Viertelfinal zwischen Argentinien, und logo, England.


Das «Wembley-Tor» hat nicht nur den Schweizer Postbeamten und Amateur-Schiedsrichter Gottfried «Godi» Dienst zum berühmten Mann gemacht, es hat auch aufgezeigt, dass es im Fussball niemals nur eine Wahrheit gibt (daran wird auch die moderne Torlinien-Technik nichts ändern). England erzielt Jahrzehnte später nochmals eine Art «Wembley-Tor», und zwar 27. Juni 2010 im WM-Achtelfinal gegen Deutschland durch Frank Lampard. In diesem Fall war der Ball allerdings deutlich hinter der deutschen Torlinie aufgesprungen – was die ganze Welt gesehen hatte – die ganze Welt mit Ausnahme des uruguayischen Schiedsrichters Jorge Larrionda und dessen Landsmann und Assistent Mauriciso Espionsa.

3. Die Fliegenfänger. Wohl noch älter als der Penalty-Fluch ist Englands traditionelles Torhüter-Problem. Wobei die akute und bis heute andauernde Phase der Misere mit Peter Shiltons Fehlgriff begann, der nach einem zwar abgefälschten, aber doch haltbaren Freistoss von Andy Brehme im WM-Halbfinal am 4. Juli 1990 elegant daneben langte. Die Namen anderer englischen Antihelden auf dem Goalieposten sind David Seaman, David James, Paul Robinson – und ja, last but not least die aktuelle Nummer 1 Joe Hart, der auch gern mal in die Luft statt nach dem Ball greift. Kurz und gut: Ohne Englands nationale Fliegenfänger wären die WM- und EM-Spiele (oft bereits in der Qualifikation) nur halb so unterhaltsam, wie sie manchmal sind.

4. Der absurdeste Match. Ebenfalls in die Kategorie «Humor» gehört der nächste Punkt: Der absurdeste Fussballmatch, der jemals stattfand! Obwohl ihn die berühmte britische Komiker-Truppe des Monty Python’s Flying Circus inszenierte, war England selbst nicht daran beteiligt – das Spiel fand nämlich in Form eines Sketches zwischen den grossen Philosophen Deutschlands und Griechenlands statt, notabene anno 1972 im Münchner Olympiastadion.


Beteiligt waren auf deutscher Seite unter anderem Kant, Schopenhauer, Hegel, Wittgestein, Jaspers, Nietsche, Heidegger, Marx und Franz Beckenbauer (!), für die Griechen liefen Denker wie Archimedes, Platon, Sokrates, Aristoteles, Sophokles, Epikur oder Heraklit auf, als Schiedsrichter amtet Konfuzius. Den einzigen Treffer der Partie erzielt Sokrates in der 90. Minute aus Abseitsposition, Nietzsche erhält eine gelbe Karte, nachdem er Konfuzius bezichtigt hat, dass er keinen freien Willen besitze. Erst wer dieses Spiel gesehen hat, weiss, weshalb im und um den Fussball immer so viel diskutiert wird.

5. Geburt des Fangesangs. Wenn es nicht wahr ist, ist es mindestens gut erfunden: Die «Tatsache», dass der modernen Fussballfangesang auf ein im Nebel versunkenes Spiel im Jahr 1963 an der Anfield Road in Liverpool zurückgeht. Wer die Geschichte dazu lesen mag: Hier ein Beitrag aus «11 Freunde», dem führenden deutschsprachigen Fussballkulturmagazin.

England the Brave, alles wird gut! Wer weiss, vielleicht gelingt ja heute Abend in Basel ein diskussionsloser Sieg gegen die Schweiz, der sich danach zu einem geradezu historischen Triumphzug entwickelt, an dessen Ende Wayne Rooney in der Nacht vom 10. Juni 2016 im restlos ausverkauften Stade de France in Paris im Beisein der Queen den EM-Pokal in die Höhe stemmen wird.

Thomas Wyss

Thomas Wyss

Thomas Wyss ist Autor und Redaktor im Blauen Bund des «Tages-Anzeigers». Vor allem aber ist er leidenschaftlicher Tsüri-Bueb. Am Samstag präsentiert er jeweils seine städtische «Gebrauchsanleitung».

Weitere Artikel

« Zur Übersicht

Ein Kommentar zu “England the Brave!”

  1. daniel binggeli sagt:

    prognostisch einwandfrei! 😉
    und in der reihe wunderbar!

Hinterlassen Sie eine Antwort

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

 Zeichen verfügbar

Die Redaktion behält sich vor, Kommentare nicht zu publizieren. Dies gilt insbesondere für ehrverletzende, rassistische, unsachliche, themenfremde Kommentare oder solche in Mundart oder Fremdsprachen. Kommentare mit Fantasienamen oder mit ganz offensichtlich falschen Namen werden ebenfalls nicht veröffentlicht. Über die Entscheide der Redaktion wird keine Korrespondenz geführt.