Du schon wieder?

Vielleicht wird ja morgen alles anders. Foto: iStock

Passiert es Ihnen auch gelegentlich, dass Sie morgens in den Spiegel sehen und sich fragen: Du schon wieder? Später, auf dem Weg zur Arbeit, ist alles wie immer. Sie sitzen im Bus und scrollen durch die Zeitung, im Wissen, dass Sie einen Grossteil dessen, was Sie gerade lesen, vergessen haben werden, sobald Sie im Büro den Computer anschalten. Sie geben Ihr Passwort ein, öffnen Ihre Mailbox (47 neue Nachrichten) und denken, bevor Sie mit der Korrespondenz beginnen: Vielleicht wird morgen alles anders.

Kürzlich im Tram, auf dem Weg zur Arbeit. Ich trug meinen kobaltblauen Anzug mit dunkelblauem Hemd, Krawatte und Budapester Schuhe. Die Person, die neben mir sass (und die ich nicht weiter beachtet hatte), war soeben ausgestiegen. Das Tram hatte sich wieder in Bewegung gesetzt, als ich auf dem vakant gewordenen Nebensitz ein Buch entdeckte: «The Big Sleep» von Raymond Chandler.

Die rätselhafte handgeschriebene Notiz

Ich nahm es in die Hand; eine antiquarische Taschenbuch-Ausgabe, nur leicht lädiert, auf dem Cover war Robert Mitchum als Philip Marlow zu sehen (ich kannte bis jetzt nur die Verfilmung mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall von 1946). In der Hand hielt er einen rauchenden Revolver, während sich eine junge Frau ängstlich an ihn schmiegte. Ein hübsches Buch, dachte ich, schnupperte daran (es roch tatsächlich alt) und beschloss, sofort mit dem Lesen zu beginnen. Ich schlug es auf, warf einen Blick auf das Kleingedruckte zur Edition (Vintage Books New York, September 1976), blätterte weiter und entdeckte auf der nächsten Seite, rechts über dem Titel, folgende Notiz, die mit Bleistift auf das vergilbte Papier gekritzelt war: Help – 766 6099. Ein Hilferuf? Womöglich von der Person, die eben noch neben mir gesessen war?

Ich zerstreute den Gedanken und versuchte, mich in die Lektüre zu vertiefen, doch ich kam nicht über den ersten Abschnitt hinaus, was nicht an Chandler liegen konnte. Vielmehr kreiste meine Fantasie um die rätselhafte Nummer. Was, wenn ich sie wählte? Vielleicht war sie das Kennwort für ein grosses Abenteuer. Die Weiche in eine neue Dimension. Der Erkennungscode zu einem labyrinthischen Kriminalfall, den zu lösen ich auserkoren war. Möglicherweise, dachte ich, während ich aus dem Fenster starrte, genügte ein einziger Anruf, und ich würde in eine Geschichte verwickelt, aus der ich nicht mehr herausfand: «Wir erwarten Sie um zwölf in der Bar am Ende der Strasse. Kommen Sie pünktlich und stellen Sie keine weiteren Fragen.» Oder so ähnlich.

Im Büro war alles wie immer. Ich schaltete den Computer an und tippte mein persönliches Passwort ein. Der Bildschirm hiess mich willkommen und ich öffnete meine Mailbox (47 neue Nachrichten). Eine grosse Müdigkeit überkam mich. Neben der Tastatur lag «The Big Sleep» wie eine verheissungsvolle Alternative, nach der ich nur zu greifen brauchte. Verstohlen sah ich mich um, nahm das Buch zur Hand, zögerte einen Augenblick – dann schlug ich es auf und wählte die Nummer über dem Titel. Es klingelte siebzehn mal, bevor die Sitar aus «Tomorrow Never Knows» von The Beatles ertönte. Kaum setzte der Gesang ein («Turn off your mind, relax and float down stream …»), wurde die Musik unterbrochen, und eine zielstrebige Stimme sprach: «Technischer Dienst, wie kann ich helfen?»

Langsam legte ich den Hörer zurück in die Gabel. Ich stand auf und goss etwas Wasser in die Topfpflanze. Vielleicht wird ja morgen alles anders.

18 Kommentare zu «Du schon wieder?»

  • Miau sagt:

    Lesegenuss vom Feinsten!

  • Colisa sagt:

    Wunderbar, man vergisst wie schön die deutsche Sprache ist.

    • Ralf Schrader sagt:

      … und muss dann einen Hollywood- Schinken, den sich 90% der gut Deutsch sprechenden bei Todesstrafe nicht ansehen, als Metapher bemühen?

      Die deutsche Sprache ist schön, wenn sie ohne englische Einsprengsel nicht nur geschrieben, sondern auch gedacht wird.

      • Sonusfaber sagt:

        @ Ralf Schrader – die deutsche Sprache ist wunderbar und glücklicherweise alles andere als „rein“ – keine der wichtigsten Sprachen der Welt ist es. Sprachen sind etwas Lebendiges und Anpassungsfähiges, wandeln sich in einem fort. Sie selber verwenden das lateinische Wort „Metapher“ in Ihrem Kommentar und wohl im Alltag auch viele andere inzwischen verdeutschte Fremdwörter, von denen die meisten von uns nicht wissen, dass sie es sind – wie etwa „Dame“.

        • Othmar Riesen sagt:

          Tut mir leid, liebe Freunde: ich spreche D, F und E fliessend, schreibe auch gerade ein Buch auf Deutsch. Doch die deutsche Sprache finde ich im Vergleich hässlich: sîe ist sperrig, unelegant, schwerfällig, kompliziert. Ich lese kaum ein Buch auf Deutsch. Am ehesten lese ich auf Englisch, mit meinen Freunden rede ich am liebsten auf Französisch.

          • Roxy sagt:

            Ihre Meinung Herr Riesen, ihr Geschmack. Ich kenne Philologen die sprechen einige Sprachen mehr als Sie, und lieben die deutsche Sprache. Sie hat ihre Vorzüge, aber diese erschliessen sich nicht jedermann.

  • Roxy sagt:

    Hm … Sie haben zu viele Filme gesehen oder derartige Romane gelesen? Schreiben können Sie. Aber wenn das ihr tatsächliches Gefühlsleben ist, lautet mein Rat an Sie: werden Sie erwachsen (Mr. Mitty). Wenn sie etwas Neues erleben wollen, müssen Sie etwas Neues tun, etwas Neues wagen. Tagträume helfen da wenig.

    • Carolina sagt:

      Tagträume und Fantasien – z.B. beim Lesen – entführen mich in neue Welten, die mir oft Abstand vom Alltag gewähren und mich dankbarer, erfüllter, freudiger und erholter wieder in meine reale Welt zurückkehren lassen. Erwachsen sein heisst nicht, dass ich darauf verzichten muss, ganz im Gegenteil. Auch ohne kreuzunglücklich mit meinem Alltag zu sein – was ich tatsächlich nicht bin – brauche ich diese kleinen Fluchten und geniesse sie, ohne mich zu entschuldigen! Und das dürfte auch für den Autor gelten……..

    • Maura Hanley sagt:

      Roxy: Mit Tagträumen fängt das Abenteuer erst an. Tagträume sind Inspirationen für Kommendes – so hole ich meine ‚neuen‘ Lebensabenteuer vom Lebensbaum herunter – und schon fängt wieder ein neues Lebenskapitel an.

      • Roxy sagt:

        Carolina- ich liebe phantastische Geschichten und könnte mir vorstellen einen Roman so zu beginnen. Die klassische Story: etwas melancholischer Midager stolpert in das Abenteuer seines Lebens….
        Wir jedoch können unser Leben auch verträumen und so unsere realen Möglichkeiten verpassen, zu neuen Ufern aufzubrechen. Falls wir dazu wirklich ein Bedürfnis haben, sollten wir nicht auf Wunder warten, sondern einfach mal Neues wagen. War nur ein Feedback, keine Kritik.

  • Paolo Martinoni sagt:

    Noch nie habe ich einen so schönen Blog-Text gelesen, noch nie in all den Jahren. Labsal, Erfrischung pur für meine Seele – erst recht auf diesen Seiten, wo es nur so wimmelt von lamentierenden Bloggerinnen! Vielen Dank!

  • Christina Staeger sagt:

    Lieber Frank Heer, mir hat Ihr Text ebenfalls sehr gut gefallen! Beim Übertitel „Die rätselhafte handgeschriebene Notiz“ ist mir ein ganz spezielles Buch in den Sinn gekommen, welches ich jetzt gleich nochmals lesen werde: „Das Schiff des Theseus“! Ein Buch im Buch (Autoren J.J. Abrams und Doug Dorst) – einfach fantastisch!

    • Frank Heer sagt:

      Danke für den Tipp und auch ganz allgemein für das freundliche Feedback, welches ich über das letzte Jahr für meine Texte bekommen habe. Dies wird mein letzter Beitrag für Michèle & Friends gewesen sein, da der Blog per Ende Monat eingestellt wird.
      Herzlichen Dank fürs Lesen und alles Gute,
      Frank Heer

      • Katharina I sagt:

        Das darf doch nicht wahr sein! Herr Heer! Sie können Ihre Fans doch nicht einfach so zurücklassen! Was sollen wir denn jetzt lesen? Chandler und all die anderen sind zwar gut, aber nie und nimmer ein Ersatz für Sie. Help!!

  • Thomas Schmitt sagt:

    Sehr schöner Text aber ich hoffe, Sie haben das gefundene Buch zum Fundservice des Trams gebracht und nicht einfach dem Mitreisenden das Buch geklaut 🙂

  • Abig Gabri Meier sagt:

    Das ist eine wunderbare, filigrane Morgengeschichte! Erstaunlich, wie die Zuwendung und Aufmerksamkeit den ganz kleinen Begebenheiten des Alltags die Sicht auf die Welt verändern kann. Sie können das und ich freue mich!

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