Midlife-Crisis? Nehm ich!
Da steh ich an der Bar, nippe an meinem Bier und warte, bis etwas passiert. Das dauert jeweils nicht lange: Ein alter Kumpel steht auf einmal vor mir. Zwischen Bier bestellen, Bier bezahlen und Bier nach draussen zu seinen Freunden tragen, kommt er direkt auf meinen Lebenswandel zu sprechen. Für ihn ist der Fall klar: «Junge, du steckst mitten in der Midlife-Crisis.» Von irgendwem hatte er die Eckpunkte meines Lebensabschnittes erfahren: Frisch geschieden, junge Freundin, oft im Nachtleben unterwegs. Und das mit über 40! Für ihn bin ich ein Paradebeispiel eines Mannes, der noch einmal Gas gibt, bevor es an die Planung der Pension geht.
Ich nehme einen Schluck Bier, lächle und denke für mich: «Jaja, du bist nicht der Erste, der aus der Ferne mein Leben analysiert.» Sofort schiessen mir weitere solche «Ferndiagnosen» von Krankheiten durch den Kopf, die man bei mir diagnostiziert haben will: ADHS, Asperger-Syndrom, manische Depression, alles schon gehört – alles belächelt. Diese Befunde stammen samt und besonders von Menschen, die mich nicht näher kennen. Sie sagen viel über diese aus, wenig über mich. Ich nehme sie so ernst wie den Fussball-Reporter am TV, der in seiner Sprecherkabine sitzt und fünf Sekunden nach einem Foul über den sich am Boden wälzenden Spieler weiss: «Das sieht nicht gut aus, wahrscheinlich ein Bänderriss.»
Von dummen Schubladen und guten Ausreden
Der Schluck Bier verstärkt meine gute Stimmung. Der Alkohol bringt die Endorphine in Wallung. Die Glückshormone hüpfen in meinem Hirn zum Afrobeat von Fela Kuti, der aus den Boxen in der Bar dröhnt. «Midlife-Crisis» hallt es in meinem Kopf nach. Als ob sich die Probleme in meinem Leben an einen Zeitplan halten würden. Ich lasse meine Krisen im Schnelldurchlauf Revue passieren: Wie oft war ich verzweifelt auf der Suche nach einem neuen Job? Wie oft fühlte ich mich von meiner Liebe nicht verstanden? Wie oft wollte ich weg aus dem Kaff? Oder gleich alles miteinander. Doch mit meinem Alter hatte das nie was zu tun.
Midlife-Crisis, das ist nicht einmal eine Diagnose nach dem amerikanischen Handbuch der Psychiatrie. Und was weiss denn der Kumpel schon über mein Leben, wenn wir uns einmal pro Jahr begegnen und er auch dann kaum mit mir spricht? Für Persönlichkeitsanalysen bevorzuge ich nahestehende Freunde oder Profis und nicht einen fernen Bekannten. Midlife-Crisis: Nicht zu viel überlegen, schon gar nicht diskutieren, einfach mal Stempel drauf: Pam, und abgehackt ist das Thema. Das ist mir schlicht zu plump, über wen auch immer dieses Urteil gefällt wird. Es gehört in die Kategorie: schräges, aber nicht krass abartiges Verhalten kategorisieren, um es gesellschaftsverträglich erscheinen zu lassen. Eine Schublade für besseres Verständnis quasi.
Bevor ich einen weiteren Schluck von meinem Bier nehme, fällt mir der einzige Vorteil seines Befunds ein, und ich lache dem Kumpel ins Gesicht: «Weisst du, mein Leben ist eine einzige Ansammlung von Krisen. Da kommt mir dein Befund gerade recht. Endlich hat mein wirres Tun eine offizielle Legitimierung. Endlich muss ich nicht lange Erklärungen für Taten abgeben, die «man» nicht tut. Weil ich die perfekte Entschuldigung habe. Ich kann einfach sagen: Sorry, Midlife-Crisis.»
14 Kommentare zu «Midlife-Crisis? Nehm ich!»
Es ist aber nun mal seltener, dass sich einer mit 30 von seiner 28-Jährigen scheiden lässt und eine 18-jährige nimmt, als dass sich einer in den 40ern von seiner Frau um die 40 trennt und stattdessen eine 28-jährige (alles ca.) nimmt. Was man auch gut verstehen kann.
Und für solche Muster (hier aus Männersicht geschildert) findet sich dann eben irgendwann ein Wort. Dem Gemusterten passt das nicht immer, er fühlt sich nicht individuell erkannt.
Ist er auch gar nicht – beschrieben wird nur das Muster, nach dem er sich verhält.
Es ist oft ein Geldproblem. Mit 20 oder 30 kann sich doch keiner den richtig geilen Töff oder das Cabrio leisten. Über 40 ist die Kohle dann auf einmal da und die berühmte „Hälfte des Lebens“ grinst einem höhnisch ins Gesicht. Gut verständlich also, dass manche Männer dann wenigstens noch 3-5 Jahre lang das machen wollen, was sie schon immer hätten machen wollen. Inklusive junger Freundin und was auch immer. Gönnen wir ihnen doch den Spass.
Wenn dieser Spass nicht zu Lasten seiner Kinder geht, für die er eigentlich als Ü40 in der Lage sein sollte, Verantwortung zu tragen, kann ich Ihren Kommentar nachvollziehen.
Das ist nicht eine Frage des Alters, sondern die Frage wie weit der grenzenlose Hedonismus ohne grössere Langzeitschäden ausgelebt werden kann. Sonst verschiebt sich die Midlife-Phase bald Richtung Endlife-Punkt. Zum Glück wird das verpasste „Sex Drugs and Rock’n’Roll“-Leben der Mid-Ager eher mit einer Harley kompensiert, als dass es im Backstage-Bereich wirklich ausgelebt würde.
Wer nach wie vor den Drang verspürt, die eigenen Taten zu erklären, hat es IMHO nicht mit einer Midlife-Crisis zu tun, sondern der zweiten Pubertät!
Hier hat man als Frau durchaus Vorteile, da wird nicht mehr analysiert, diagnostiziert und u.U. gar therapiert; da ist der Zug eh abgefahren… 😉
@tststs: Mit „sondern der zweiten Pubertät“ gehe ich einig und rate dem Autor zum Mut, so weiter zu machen, denn:
Wer bis 50 noch nicht erwachsen wurde, muss nicht mehr.
Die meisten von uns wissen nicht einmal, was in ihnen vor sich geht, gilt doch ihre Aufmerksamkeit ausschliesslich dem, was sich im Aussen abspielt. Sie sind von sich selbst abgelenkt in einem fort und wohl auch daher all ihre lachhaften Diagnosen über Krethi und Plethi. Bei mir prallen alle an mich gerichteten „Du bist …“-Aussagen, und seien sich auch noch so schmeichelhaft, erbarmungslos ab. Denn jedes Bild, das man sich von mir macht, ist eh grundfalsch! Jedes! Daher bitte kein Bildnis!
@Martinoni: Was Sie hier beschreiben, wird gemeinhin als Altersstarrsinn bezeichnet, tritt aber erst nach der Midlife Crisis auf.
Man bezeichnet es gemeinhin so? Oder eher als selbstsicher, vielleicht auch abgeklärt? Ja was denn nun, man kann den man nicht fragen, es gibt ihn nicht..
Flori anthana, ihr Kommentar hat eine wundervolle Pointe..
Sobald Urteile und Etiketten sind so schnell rausgehauen, dass unsere Aufmerksamkeit gar nicht mehr weiter für ein tieferes Verständnis beim Thema bleibt. Ist auch anstrengend, könnte sogar schmerzhaft werden.
Aus eigener Erfahrung gesehen, bin ich seit Kind auf Altersstarrsinnig, d.h. die Krise hat ich wahrscheinlich vor der Geburt.
Alles Starrsinnigen wünsche ich Freude an Ihrer Hartnäckigkeit und Geduld mit den Mitmenschen.
es kommt bei jedem der punkt der neu-Ausrichtung ob mit oder ohne frisches Weibchen. es wäre besser es nicht als midlife crisis zu bezeichnen sondern eine neu-Orientierung, der sogennante Kassensturz Effekt. wieviele Frauen haben nach auszug der Kinder ein reboot? also nicht gleich alles als krise abstempeln das Resultat zählt!
Ähnlich wie es tststs ausdrückt: da ist etwas gar viel Selbstrechtfertigung aus Ihren Worten rauszuhören.
Doof finde ich diejenigen, welche jegliches Engagement als „Krise“ belächeln.
In jedem Alter müssen wir uns fragen, wo bin ich, was will ich, und dann mutig tun.
Mir scheint es, dass einige meinen, dass man ab einem gewissen Alter sich einfach schön langweilig aufs Grab vorbereiten soll und ja nicht nochmals Dampf machen darf.
Ich habe mich vor 6 Jahren, mit 45 getrennt und das nach einer Beziehung von 25 Jahren. Es ging mir noch nie besser als jetzt mit +50 und Single. Genug Zeit für alle Hobbys, finanziell unabhängig. Geschieden sind wir noch nicht, den Unterhalt bezahle ich gerne und freiwillig. Mir bleibt noch mehr als genug. Es ist einfach schön, sich jetzt alle Wünsche erfüllen zu können, was auch immer das sein mag. Ich hoffe sehr, dass geht noch ganz lang einfach so weiter. Wie anderen meinen Zustand nennen spielt für mich keine Rolle, ich nenne es pures Glück!
Da kann ich Ihnen recht geben. Ich bin seit 9 Jahren Single. Seitdem pures Glück. Ich habe ‚Karriere‘ gemacht (da, nun zeitlich ungebunden). Und mein Job gefällt mir. Auch ich schätze, nun meine eigenen Wünsche erfüllen zu können.
Ab 50 wird man halt seiner eigenen Endlichkeit bewusster. Darüber was man hätte besser machen können und was man eigentlich immer noch machen wollte. Man glaubt für sich und seinen Egoismus Zeit zu brauchen, Verpasstes nachholen zu müssen und will es nochmals richtig krachen lassen. Ich habe die richtige Partnerin, die mir seit 22 Jahren zur Seite steht, wahre Liebe und Vertrauen schenkt und dafür sorgte, dass ich mit den Füssen immer auf dem Boden blieb. Auch in dieser Krise war sie mein Coach, mit allem Verständnis und voller Unterstützung. Wenn ich „Anflüge“ habe, kommt immer ein zärtliches und witziges „..ja, mein alter Mann…“. So machte ich mich dann glücklich und gab nochmals Krisen-Gas. Mit einer gemeinsamen Südamerika Reise für Verliebte und einem Cabrio für sie.