Die Bürde des Menschen
Neulich, in der Bar am Ende der Strasse. Wir sassen an der Theke und mein Kumpel Urs sagte: «Es liegt in der Natur des Menschen, dass er verdrängt, was ihm aufstösst. Zum Beispiel die nächste Darmspiegelung, den anstehenden Kindergeburtstag im Trampolino oder die eigene Sterblichkeit. Sloterdijk schreibt: ‹Wir bauen einen Kokon um uns.›»
«Stimmt», sagte ich. «Ich erinnere mich an eine Zeit in meiner Kindheit, als das Wort Tod so unvorstellbar war wie Sex oder Krieg. Es waren abstrakte Begriffe.»
«Hat man ein gewisses Alter erreicht», fuhr Urs fort, «sagen wir, die Hälfte der im westeuropäischen Schnitt vorgesehenen Lebensdauer, wird es immer verflixter, dem Tod mit jener überheblichen Gelassenheit entgegenzublicken, die uns eigen war, als wir einundzwanzig waren und auf dem Mofa ohne Helm ins Tessin düsten. Heute reicht ein Husten, und wir bangen um unser Leben.»
Wir schwiegen eine Weile und hörten der Musik zu, welche die Jukebox spielte: «Something on Your Mind» von Karen Dalton, einer sträflich in Vergessenheit geratenen Folk-Sängerin aus den Siebzigern.
«Hier ein Gedankenspiel», sagte Urs. «Angenommen, eine freundliche Stimme aus dem Off fragte dich, kurz vor deiner Zeugung, ob du lieber als Mensch oder als Tier zur Welt kommen wolltest. Was wäre deine Antwort?»
«Moment. Es kommt auf das Tier drauf an. Da gibt es frappante Unterschiede.»
«Einverstanden. Doch selbst wenn dir die komplette Fauna zur Verfügung stünde, bin ich überzeugt, dass am Ende weder ein besonders intelligenter Säuger noch eine Art, die mit extralanger Lebensdauer trumpft, etwa der Grönlandhai (400 Jahre) oder der Riesenschwamm (10’000 Jahre), das Rennen machen würde.»
«Vermutlich nicht», gab ich Urs recht. «Darum entschiede ich mich auf jeden Fall für den Homo sapiens als ‹wahrheitssuchendes Lebewesen›, wie Nietzsche sagte.»
«Gut», nickte Urs. «Mit etwas Glück sind deine Eltern nicht arm. Du kommst in Europa oder Nordamerika zur Welt, stirbst nicht im Kleinkindesalter an Mangelernährung oder Malaria und hast das Privileg, in einem gewaltfreien Umfeld aufzuwachsen. Vielleicht aber auch nicht – und das wäre dann der Moment, in dem dir klar würde, dass allein der Umstand, geboren zu werden, mit erheblichen Risiken verbunden ist.»
«Trotzdem würde ich mich für den Menschen entscheiden», sagte ich, nachdem ich zwei neue Biere bestellt hatte. «No risk, no fun! Man kann nicht ewig den Sandkasten hinterm Mond bewirtschaften.»
«Dem Mutigen gehört die Welt», rief Urs und erhob sein Glas. «Doch da gibt es etwas, was dir die Stimme noch nicht gesagt hat: Nämlich, dass der Mensch als einzige Kreatur auf dem blauen Planeten um seine Sterblichkeit weiss. Im Gegensatz zum Tier plagt ihn sein Leben lang die deprimierende Aussicht, dass dieses früher oder später zu Ende geht. Dagegen sinniert das Schwein selbst auf dem Weg zum Schlachthof nicht über sein drohendes Schicksal. Mit anderen Worten: Du wirst dich zeit deines Lebens mit dem Tod beschäftigen, so wie die Putzfrau mit einem untilgbaren Fleck.»
«Kann schon sein», antwortete ich, «aber sagtest du nicht, der Mensch verdränge, was ihm aufstösst? Der Kokon, in den wir uns hüllen, ist wie ein Relikt aus der Tierwelt und steht für ein dickes Fell. Er scheint mir eine vortreffliche Ausstattung zu sein: Verdrängung als lebensbejahendes Prinzip.»
Urs runzelte die Stirn. Vor dem Fenster leuchtete ein gelber Mond, und die Jukebox spielte «There Is a Light That Never Goes Out» von The Smiths.
24 Kommentare zu «Die Bürde des Menschen»
Guter Text, ich lese Sie gern.
Kleine Anmerkung: Woher wollen Sie wissen was das „Tier“ sinniert?
.. was das Tier „sinniert“
Und diese Verschiebung der “ war jetzt notwendig weil ? Ändert das ein Jota an der Aussage respektive Fragestellung ? Deutschlehrerin im Ruhestand ?
Ich habe keine solche Aengste. Ich glaube dass die Seele wieder ins ausserirdische geht, und dort weiterlebt, sich eventuel wieder reinkarniert später. Auf alle Fälle sollte man keine Angst haben, ausser man hätte sich in diesem Leben nicht weiterentwickelt sonder sich schlecht benommen.
Ich habe auch keine Angst. Ich werde tot sein, wenn ich tot bin. Nichts mehr, zerfallendes Gewebe. Ich glaube nicht an ein Weiterleben einer Seele.
Stephan : schade um sie dass sit nicht an ein weiterleben der seele glauben. Lesen sie Kardec. Vorher glaubt ich auch nicht so daran.
es hat doch niemand angst davor, tot zu sein. angst hat man doch vor dem sterben: dass es schmerzt, dass man nahestehende „im stich“ lässt, dass es zu früh ist, dass es lang und qualvoll dauert usw. oder man hat angst, nahestehende zu verlieren, und den umständen.
Das Wissen um meine Endlichkeit ist bedeutend einfacher zu ertragen als die Vorstellung, ewig leben zu müssen. Tiere haben gegenüber uns Menschen nicht nur den Vorteil, nicht um ihre Sterblichkeit zu wissen, sondern auch den Vorteil, keine Vorstellung zu haben, was ewig leben zu müssen bedeuten würde.
Müssten wir ewig leben, wäre unser grösstes Ziel als Menschheit, dies zu ändern.
Erstaunlich, was Sie so alles wissen, wie Tiere denken… Schon mal daran gedacht, uns Unwissende durch ein Buch darüber zu erfreuen ?
Uund kommen Sie mir bitte nicht mit irgendwelchen Analysen des Gehirns, das das menschliche Gehirn weiter ausgebaut ist als des tierische. Dazu weiss man noch viel zu wenig über dessen Funktionalitäten.
Das Lebensgefühl der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist, wenn sie persönlich von grösserem Unglück verschont blieben, so gut wie ewig zu leben, weil für sie die Zeit noch so wunderbar langsam vergeht. Und sie fühlen sich bestens dabei.
Warum sollte die Vorstellung, ewig leben zu müssen, Menschen also generell Angst machen?
So gesehen ist Buddhas Lehre unfreiwillig eine Wohltat für die Seele, denn bereits mit ein paar wenigen Sünden ist ewiges Leben in Form permanenter Wiedergeburten garantiert 😉
@Eduardo: Die Buddhisten sehen das leben als Leiden. Es ist Fluch wiedergeboren zu werden. Man unterliegt diesem Fluch bis man auf alles verzichtet, dann kann man endgültig sterben und kommt man ins Nirwana.
„Warum sollte die Vorstellung, ewig leben zu müssen, Menschen also generell Angst machen.“
Ewiges Leben ist, ökonomisch betrachtet, ein Angebot an Leben in unendlichem Umfang. Wert ist mit Knappheit eines Gutes verbunden, was in unendlichem Umfang zur Verfügung steht, ist wertlos.
Zombies und Vampire leiden in den meisten Geschichten über diese daran, nicht sterben zu können.
Aber letztlich weiss ich nicht, was Menschen generell Angst macht, auch nicht, sehr geehrte Maike, was Tiere denken. Ich weiss nur, dass ich nicht ewig leben möchte. Und höre manche Alte, die sagen, es wäre Zeit zu sterben, sie hätten genug vom Leben.
Guter Text, aber ich glaube nicht, dass Verdrängung die Lösung ist. Verdrängung ist immer eine Scheinlösung, die für viele Komplikationen sorgt.
Als Jugendliche haben wir den Tod auch nicht verdrängt, seine Realität war uns einfach weniger bewusst. Mit zunehmendem Alter wird uns seine Realität bewusster. Das ist eine Chance bewusster zu leben, bewusster zu geniessen. Eine Chance, die wirklich wichtigen Werte zu erkennen. Eine Chance weisere Entscheidungen zu treffen, eine Chance unser Leben zu entwirren, zu entrümpeln. Eine Chance uns der Realität zu stellen. Man kann und man sollte die Realität des Todes in seine Lebensphilosophie integrieren.
doch, verdrängen ist in den meisten fällen eine prima lösung und dein gehirn könnte ohne verdrängung aus lauter überforderung gar nicht funktionieren :). inzwischen weiss man auch, dass man nich traumata nicht herumwühlen muss. erinnerung spielt uns einen streich und das ist besser so.
natürlich, wenn es um unsere weiterentwicklung geht, da hast du recht: da kommt man natürlich weiter, wenn man sich bemüht, die dinge vor sich selber auf den tisch zu legen.
wessen tod soll man integrieren? den eigenen? wozu?
dass das leben endlich ist, meinst du? dass geliebte menschen sterben werden? ich bezweifle, dass sich das irgendwie positiv integrieren lässt
Eine Eigenschaft des menschlichen Geist ist es doch, das schlechte Dinge, seien sie in der Vergangenheit passiert – oder könnten passieren – sich nicht so dauerhaft in dem Gedankengut aufhalten. Oder wer erinnert schon mehr Schlechtes als Gutes ? Von meiner Schulzeit (60-74) habe ich generell ein gutes Gefühl. Lese ich allerdings meine Tagebücher aus dieser Zeit, war es teilweise garnicht so rosig, so wie ich es erinnere.
Ich bin mir bewusst, das ich sicher nicht den nächsten Jahrhundertwechsel erleben werde. Aber so ist nun mal die Natur der Dinge, da muss ich nichts verdrängen o.ä. Das einzige was ich mir erhoffe ist, das meine restliche Zeit so schmerzfrei wie möglich ( wie bei meinem Vater) verläuft. Der Rest ist Kismet.
Sie sind ja jetzt auch nicht mehr lange vom Ruhestand entfernt…
Das Lustige am Tod ist, dass er nur im Leben existiert. Im übrigen finde ich es naiv, Tieren Fähigkeiten abzusprechen wie im Artikel besprochen. Tiere haben einfach eine natürlichere Einstellung zum Tod. Und sie sprechen weder Deutsch, Englisch oder chinesisch also können sie uns über die Sprache nix mitteilen.
Ohne Tod gibt es keine Zukunft. Morgen unterschiede sich nicht von Heute. Wenn ich allerdings nach dem Aufstehen in die Zeitung schaue, frage ich mich immer öfter, warum ich überhaupt noch lebe. Es ist wieder nichts passiert, was anders als vorgestern war. Die Zukunft bleibt immer mehr in der Theorie, die Tage sind alle nur noch gleich langweilig und bedeutungslos.
Weil es mir immer langweiliger wird, schreibe ich schon seit einiger Zeit an der Sozialgeschichte der Schweiz im Jahr 2100. Bis dahin könnt zumindest noch etwas passieren, was (Er-) Leben lohnt.
Epikur hat dem Menschen diese Bürde vor 2400 Jahren abgenommen:
„Der Tod geht uns nichts an. Denn was sich aufgelöst hat, hat keine Empfindung. Was aber keine Empfindung hat, geht uns nichts an.“
und
„So ist also der Tod für uns ein Nichts. Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr da. Folglich betrifft er weder die Lebendigen noch die Gestorbenen.“
und
„Die Erkenntnis, daß der Tod ein Nichts ist, macht uns das vergängliche Leben erst köstlich.“
Ich finde das Wissen, dass wir (wenn es normal läuft) so etwa 80 Jahre zur Verfügung haben und es dann Schluss ist nicht beängstigend, sondern tröstlich. Das Wissen regt mich dazu an, mir zu überlegen, was ich mit den verbleibenden ca. 35 Jahren anstellen möchte. Was möchte ich bevorzugt tun (Geld scheffeln? Zeit mit der Familie verbringen? Zeit in der Natur verbringen? Ski fahren?)? Womit möchte ich in Erinnerung bleiben (möchte ich überhaupt?)?
Hat es einen unwiderlegbaren Beweis dafür, dass nur der Mensch sich seiner Endlichkeit bewusst ist? Dass kein einziges Tier keiner einzigen Spezies eine auch noch so geringe Vorahnung seines bevorstehenden Todes hat bzw. haben kann? Man müsste übrigens hierbei noch definieren, was Tier, was Mensch ist, was Tier und Mensch voneinander unterscheidet. Der einzige nennenswerte Unterschied besteht in meinen Augen darin, dass das Nervensystem des Menschen um Welten entwickelter bzw. komplexer ist als das der übrigen Tiere – was ein grosser selektiver Vorteil darstellt, wofür wir aber auch einen extrem hohen Preis zahlen. Und ich sage: „der übrigen Tiere“, weil auch wir es sind.
Sehr richtig. Aussagen über den Grad und die Art des Bewusstseins von Tieren sind problematische. Auch hier dringt wieder die Überheblichkeit des Menschen durch. Ich persönlich glaube nicht, dass der Mensch das einzige Wesen mit Bewusstsein ist. Wie anmassend ist so eine Annahme von der menschlichen Exklusivität.
Der Tod ist der Preis für die Individualität.
So einfach ist das im Grunde genommen.
Stimmt!