No Fun

The Stooges demolierten Rock und Blues und setzten die Trümmer zu einem gefährlich verzerrten Monstrum zusammen: Iggy Pop posiert 2010 in Miami. Foto: Jeffrey M. Boan (Keystone)

Kürzlich dröhnte in der Bar am Ende der Strasse «No Fun» von The Stooges aus der Jukebox. Zwei ältere Semester am Stehtisch freuten sich diebisch über ihre Wahl und wippten mit dem Kopf im Takt. Ich war mir fast sicher, dass der eine zum andern sagte: «Alter, das waren noch Zeiten.»

Ein paar Tage später begab ich mich – no fun – auf Druck meiner Kinder zum Spielwaren-Grossverteiler, um eine Kassette mit Kasperli-Hörspielen umzutauschen: «D’Häx Nörgeligäx und de Umemuuli» gegen «De Schorsch Gaggo reist uf Afrika». Bei der Rolltreppe hatte ich eine Tafel studiert, die mir verriet, wo sich der Kundendienst befand. Trotzdem verlief ich mich wie Hänsel und Gretel im Wald.

Damit nicht genug: Im Grenzgebiet zwischen Legoland und Jurassic Park geriet ich in einen Hinterhalt und sah mich plötzlich von Superhelden, Zottelbären und Prinzessinnen mit weit aufgerissenen Augen umzingelt. Schon wollte ich um Hilfe rufen, als ich eine tiefe Stimme vernahm. Es war Iggy Pop. «Here comes Johnny Yen again», raunte er mir ins Ohr, «with the liquor and drugs.» Iggy? Du? Hier?

«Lust for Life» als Liftmusik

Natürlich stand der Rockmusiker nicht leibhaftig vor mir. Es war sein Song «Lust for Life», der in Teppichetagen-Lautstärke aus verborgenen Speakern rieselte. Träumte ich, oder war ich auf der falschen Party? Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich mag Iggy. Und ich weiss, dass es Eltern gibt, die ihren Nachwuchs zu AC/DC und Madonna ins Hallenstadion schleppen. Aber «Lust for Life» im Kinderparadies? Das schien mir ziemlich gewagt und nur eine Frage der Zeit, bis der Feueralarm losging.

Gestatten Sie mir, das Rad der Popmusik um ein halbes Jahrhundert zurückzudrehen. Es war im Sommer 1969, als das Debütalbum einer jungen Band aus Detroit erschien, die sich The Stooges nannte. Iggy Pop hatte die Gruppe zwei Jahre früher mit den Brüdern Ron und Scott Ashton gegründet. Ihre Songs waren unberechenbar und roh, nach Refrains horchte man vergeblich, und Punk war noch nicht erfunden.

An Konzerten schlitzte sich Iggy die nackte Brust mit Glasscherben auf und stürzte sich kopfüber von der Bühne. Er wusste nie, ob ihn das Publikum auffangen oder fallen lassen würde – oft war Letzteres der Fall. The Stooges demolierten die Rockmusik und den Blues und setzten die Trümmer zu einem gefährlich verzerrten Monstrum zusammen. 1974 löste sich die Band wegen Erfolglosigkeit auf, 2010 wurde sie – besser spät als nie – in die Rock ’n’ Roll Hall of Fame aufgenommen.

Kinder mussten damals draussen bleiben

Möglicherweise ist es der Ignoranz meines fortgeschrittenen Alters geschuldet, nicht mitgeschnitten zu haben, dass ein so radikales wie verstörendes Gesamtkunstwerk wie Iggy Pop inzwischen nicht nur Rentnern im Pub, sondern auch Kindern zugemutet werden darf. Vor diesem Hintergrund würde es mich nicht wundern, wenn der Punkrock-Klassiker «Too Drunk to Fuck» von den Dead Kennedys längst ins Repertoire des Pfadi-Liederbüchleins aufgenommen wurde.

Früher gab es diese Art von Musik ja nur in Kneipen zu hören, in denen Lederjacken knisterten und es keinen vernünftigen Rauchabzug gab. Wir nickten uns mit Kennermiene zu, wenn «No Fun» aus den Lautsprechern dröhnte. Kinder mussten draussen bleiben. Nennen Sie mich spiessig, aber es gibt Schallplatten in meiner Sammlung, die ich nicht im Flugzeug, nicht beim Zahnarzt und erst recht nicht im Spielwarengeschäft hören möchte. So viel Respekt muss sein, nicht wahr, Iggy?

Auf der Rolltreppe zum Ausgang – mission accomplished, «Schorsch Gaggo» in der Manteltasche – war ich erleichtert, die Stimme von Miley Cyrus zu hören.

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14 Kommentare zu «No Fun»

  • Anh Toàn sagt:

    Ist eine aufblasbare Gummipuppe, also Miley Cyrus, wirklich besser geeignet für Kinder?

  • Peter Münger sagt:

    Naja, es wird verkauft was sich verkaufen lässt. Leider wird ausnahmlos alles bis auf das letzte Quäntchen kommerzialisiert – man muss die Zitrone auspressen, bis sie nichts mehr hergibt…
    Vielleicht ist es aber auch einfach Nostalgie zu glauben, was für uns rebellisch war müsse es für die Kinder von heute auch noch sein. Vielleicht wäre es das, wenn sie die Texte bereits verstehen könnten und die Musik in der dazugehörigen Lautstärke gespielt würde (so, dass wir die Hörgeräte ausschalten können). Wahrscheinlich sieht Rebellion heute aber einfach für die meisten anders aus.
    Meine Tochter vergöttert übrigens Twisted Sister, dank eingängiger Mitsingmelodien, rebellischer Videos und Dee Sniders supercoolem Queer-Look (aus Zeiten, als der Ausdruck nicht breit gebraucht wurde).

    • tina sagt:

      ich glaube supermarkbeschallung wird gemacht, indem ein automat nach titeln sucht, die lebensfreude zu vermitteln scheinen und musikalisch nicht so komplex sind. und so kommts, dass „lust for life“ im kinderparadies ertönt und clashs „lost in a supermarket“ im lebensmittelladen. ich schwanke jeweils auch zwischen begeisterung (endlich mal ein brauchbarer soundtrack zum – ächz – wocheneinkauf) und schaudern (wenn clash das wüssten….)

  • Ralf Schrader sagt:

    Wenn man durch Abspielen von Marschmusik mehr Umsatz machte, würde auch im Frauenschuhgeschäft der Radetzky-Marsch erklingen. Einen Zusammenhang zwischen musikalischer Qualität oder künstlerischer Aussage und kommerzieller Verwendung von Musik herstellen zu wollen, ist ein kühner und völlig absurder Gedanke.

  • Mike sagt:

    Als James Joyce for einem Jahrhundert „Dubliners“ schrieb, fand er keinen Verlag dafür, weil Kurzgeschichten als Schund galten und das Werk ausserdem inhaltlich zu anrüchig war.

    So geht das nun mal – die Revoluzzer werden alt, und mit ihnen altert ihre Kunst in der Wahrnehmung der jüngeren Generation. Dazu kommt in unserem Kulturkreis noch die Sprachbarriere – „Too Drunk to Fuck“ ist noch kein Pfadilied, weil auch der Pfadileiter von Hinterpfupfiken den Titel versteht. Bei den Stooges sind die Anzüglichkeiten etwas besser in den Texten versteckt, da müsste man dann schon Englisch können und genau genug hinhören.

  • sepp z. sagt:

    Die Musik der Zukunft dürfte eher politisch korrekt denn sonstwas sein. Könnte sich ja ein empfindsames Geschöpf verletzt davon fühlen…

  • Maike sagt:

    Wer lieber Herr Autor soll den verführt werden, länger in dem Laden zu bleiben ? Der finanzielle potente Vater oder der quengelnde Nachwuchs ? Und angenommen, es würde ganz laut das Trööööööööt von Benjamin Blümchen aus den Lautsprechern schallen – wie lange würden Sie in diesem laden wohl bleiben ??

  • Peter Hinderling sagt:

    Die Studio-Version von Lust for Life ist durchaus Kindeparadieslift-tauglich. Positiv, guter Drive und zum Mitsummen.

  • Hans Minder sagt:

    Welcome to Liberalism! In Amerika wurde schon vor 20 Jahren am Nachmittag auf MTV/Radio wie auch abends für die Teenies in der Disco z.B. der Hit von 9 Inch Nails „I want to f….. you like an Animal (Closer)“ zum Besten gegeben. Auch meine Frau tanzte damals im Teenie-Fieber mit. Der kleine Unterschied zum Spielwarengeschäft in der CH: die Teenies in den USA verstehen jedes Wort, da Englische Songs für sie keine Sprachhürde bedeuten. Wie solche Texte die Jugend komplett deformieren, dazu kann man hier in den USA Abende lang Geschichten anhören. Und ja, es wird oft die zensurierte Version abgespielt, allerdings wissen ALLE jugendlichen trotzdem, wie sich die Original Version anhört. Allerdings wissen die Jugendlichen nicht, dass hinter dem Refrain manchmal ein tieferer Sinn liegt.

    • Anh Toàn sagt:

      „Hit me baby one more time“ ist auch nicht so schwer zu verstehen für Teenies.

      Gerade der an jüngere Teenager gerichtete Mainstream Pop ist voll mit sexuellen Anspielungen aber noch mehr gefüllt mit tiefem Sexismus: Die Frau präsentiert sich darin als Sexualobjekt. Von Madonna zu Britney Spears und Miley Cyrus: Das ist verstörender als Iggy Pop, Zappa („Bobby Brown“) oder die Texte der Punkbands.

      • Hans Minder sagt:

        @Anh Toan.
        Bin voll mit Ihnen einverstanden. Auf Englisch nennt man es „Grooming,“ wenn im Alltag mittels sexuellen Anspielungen in Medien die natürliche Hemmschwelle von Minderjährigen bezüglich sexueller Aktivitäten untergraben wird. Gepaart mit Sexualkunde im Schulunterricht, wo die Kinder gelehrt wird, dass Sex das A+O sei und mittels anonymer Abgabe von Verhütung/Geschlechtskrankheit-Medikamenten bis hin zur anonymen Abtreibung auch „keine Risiken“ von elterlichem Tadel mehr herrschen, schreiben Geburtenkontroll-Fabriken wie Planned Parenthood Milliardengewinne. Schliesslich will man ja neue Kunden gewinnen….und dies kann nur geschehen, wenn noch jüngere Kinder sexuell aktiv werden…was dann auch Polanski&Co entgegenkommt, da ältere Herren auch gern Mal etwas Jüngres hätten

      • Maike sagt:

        Wenn Sie sich auch mal Clips der aktuellen Boysbands ansehen würden, dann hätten Sie entdeckt, das sich auch diese Jüngelchen sich als Sexualobjekt präsentieren. Das ist da nicht anders als bei den Frauen.
        Sex sells – das gilt für Männer und für Frauen und das gibt es nicht erst seit heute schon sehr sehr lange.

  • Othmar Riesen sagt:

    Ich weiss, ich gehöre der älteren Generation an. Aber da soll mir einer einmal erklären, was da „Musik“ an diesen Tönen sein soll. Dass man mir den Stinkefinger auf einem Video zeigt, bestätigt meine Frage erst recht.
    Beste Grüsse
    O.R.

  • Hans Minder sagt:

    @Maike: Die Intensität, wie Sex verkauft wird, hat sich jedoch gemäss meiner Empfindung verstärkt. Viele Englischen Songtexte würden in der CH Kopschütteln auslösen, wenn die Band auf Deutsch sänge: von „STURM UND DRANG“ wie Rolling Stones (Start me up), Joan Jett (Do You Wanna Touch Me) über „F..CK ME/HER“ wie Allanis Morrisette (You Oghta Know), Prince (Come), Foreigner (Hot Blooded), nach „F..CK JEDEN UND JEDE“ Elle King (Ex’s and Oh’s), One Direction (Perfect).. die Liste ist lang. Früher war es doch anders: In klassischen, Englischen Gedichten wurde Sex als „Mixing of the Souls“ beschrieben. Bis Mitte 80-ziger Jahren galt „Dancing“ als Synonym für „Sex“ in der Musik (George Michael, Whitney Huston etc). Für Englisch sprechende Kinder war dies eine gute Verschlüsselung

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