Die grosse Freiheit
Fast 40 Jahre lang habe ich Zeitungsartikel geschrieben und war immer auf der Jagd nach Geschichten. Ein Vierteljahrhundert arbeitete ich für den Regionalteil einer Tageszeitung und stand dabei oft im Rampenlicht, im Guten wie im Schlechten.
Das ist jetzt vorbei. Seit dem 1. März bin ich Rentnerin. Noch fühlt sich das an wie Ferien. Diese liefen in den letzten Jahrzehnten so ab: Eine Woche brauchte ich, um Distanz zu kriegen. In der zweiten war ich entspannt, und in der dritten ging mir schon wieder durch den Kopf wie ich welche Story anpacken werde und was ich noch alles erledigen sollte.
Kein Wecker mehr, nur die innere Uhr
Nur langsam erlebe ich die neue, grosse Freiheit bewusst. Vor dem Einschlafen denke ich erfreut, dass ich den Wecker nicht stellen muss. Am Morgen kann ich stressfrei Kaffee trinken, mit meiner Enkelin spielen, die Katzen streicheln, ohne auf die Uhr zu schauen.
Aber Gewohnheiten sitzen tief. Wie in all den Jahren zuvor fallen mir um 22.30 Uhr die Augen zu, bin ich spätestens um 6.30 Uhr wach, um festzustellen, dass mein Leben jetzt anders ist. Ich freue mich, Zeit für meinen Garten zu haben und all die anderen Aktivitäten, die ich bis vor kurzem nur an den Wochenenden pflegen konnte.
Zeit zum Shoppen, aber das Geld fehlt
Natürlich muss ich mit meinem neuen Status auch Nachteile in Kauf nehmen: Ich bin eine alte Frau. Und ich habe weniger Geld zur Verfügung als vorher. Jetzt, wo ich Zeit zum Shoppen hätte, fehlt das Geld dafür, weil meine Karriere so verlief, wie bei den meisten Frauen: Als die Kinder noch klein waren, arbeitete ich als Freie, später in Teilzeit, erst die letzten 25 Jahre im Vollpensum. Das hat Lücken in der Vorsorge zur Folge. Aber ich komme durch, habe weniger Ausgaben, kein Auto und bin in den Ferien eh am liebsten mit dem Rucksack oder mit dem Velo und Zelt unterwegs.
Aber was, wenn das Gefühl von Ferien plötzlich der Langeweile weicht? Ich mich alt und nutzlos fühle? Deprimiert bin? Braucht es Gegenstrategien?
Russisch lernen auf dem Rennvelo
Ein Bekannter, er ist pensionierter Psychiater, warnt davor, planlos in den Tag hinein zu leben. Am wichtigsten sei es, das Gedächtnis zu trainieren und das Hirn zu fordern, sonst würden Alzheimer und Demenz nicht lange auf sich warten lassen. Wahrscheinlich hat der Mann recht.
Ich nehme mir vor, häufiger Russischvokabeln zu lernen. Wenn aber dann die Sonne scheint, mag ich nicht hinter Büchern sitzen. Es zieht mich ins Freie. Damit in meinem Körper ein gesunder Geist wohnt, habe ich eine Strategie: Ich fahre ein paar Stunden mit dem Rennrad und konjugiere dabei russische Verben und übe Dialoge. Das reicht vorläufig. Drei Wochen nach der Pensionierung ist man schliesslich noch in den Ferien und muss sich die neu gewonnene Freiheit nicht schon wieder mit Regeln beschneiden.
40 Kommentare zu «Die grosse Freiheit»
Einen guten Start ins Pensionsdasein, liebe Frau Fehlmann. Vor genau 10 Jahren packte ich es an, und ich wünsche es allen, dass sie es erreichen! Vom Unterland in die Walliser Berge, nahe dem Genfersee, gezogen, kam die Herausforderung, Französisch zu lernen. Als leidenschaftliche Wanderin, sommers, wie winters, bin ich hier gut aufgehoben. Das mediterrane Flair der Genferseegegend wird einerseits mit dem GA und andererseits zu Fuss erkundet! Was gibt es Schöneres, als sich abends hinzusetzen um den kommenden Tag zu planen! Beste Gesundheit möge Sie durch den neuen Lebensabschnitt begleiten, R. Olloz.
Sie sind definitiv keine alte Frau.
Woran messen Sie Alter? In Jahren ist man mit 65 alt.
Ich habe meine subjektive Meinung kundgetan. Als 41jährige empfinde ich eine frisch pensionierte Person nicht als alt. Alt ist man aus meiner (heutigen) Sicht mit 80, 90 Jahren. Klar ist, dass sich die Wahrnehmung des Alters sowohl individuell wie auch aus Sicht einer Gesellschaft ständig verschiebt. In Agatha Christie Romanen bspw. wurden 45-/50-jährige z.T. als alte Frauen bezeichnet. Die Romane stammen eben aus einer anderen Zeit.
Alter fängt im Kopf an. Es gibt Leute die sind schon mit 20 alt andere eben nicht.
Witwer, seit 3 Jahren pensioniert, Freundin und arbeite noch Teilzeit weil es mir noch Spass macht.
Ich wurde mit 55 Vater und habe mir vorgenommen, wenn es die Gesundheit erlaubt, bis 75 zu arbeiten, ich will ja nicht Grosspapi sein, der nichts zu tun hat ausser auf dem Rennrad russische Vokabeln zu lernen.
Da ich nicht vorhabe, Dienstpersonal einzustellen, werde ich wohl auch noch am Vortage meines Todes arbeiten müssen. Wer deckt mir sonst den Tisch und bindet mir die Schnürsenkel zu? Mit Eintritt des Rentenalters kann man die Erwerbstätigkeit, nicht aber das arbeiten einstellen.
Ich habe jetzt endlich Zeit, meine angefangenen Bücher zu Ende zu schreiben und mindestens eines davon macht mich zum Einkommensmillionär, auch wenn das gar nicht beabsichtigt und aus finanzieller Sicht gar nicht notwendig ist.
Für sinnlose Tätigkeiten wie zielloses Radfahren oder nicht praktizierte Sprachen zu lernen wäre mir in jedem Alter jede Stunde zu schade. Mein Latein müsste ich mal aufpolieren, das lohnte sich noch.
„Nicht praktizierte Sprachen?“ – mein Russisch brauche ich regelmässig. Und „zielloses Velofahren?“ – kann Bewegung in der Natur ziellos sein?
ML, Ihr letzter Para ist mal wieder ‚genial‘. Genau, polieren Sie Ihr Latein auf, vielleicht können Sie ja das Buch, das Sie – nolens volens, wenn ich das recht verstehe – zum Einkommensmillionär macht, auf Latein vorlegen, ich meinte einfach so im Hinblick auf ’nicht praktizierte Sprachen’………
Das Velofahren ist das Ziel.
Zahlen Sie Kirchensteuern oder leiden an einer anderen psychischen Krankheit?
Mitt 55 Jahren noch Vater ? Wem wollten sie denn da was beweisen ? Wenn Ihr Nachwuchs flügge wird und anfängt, die Welt zu entdecken sind sie 70+ !!! Ob sie denn den Schulabschluss erleben werden – wer weiss. Oder gar das Ende eines Studiums ??? Ich war dreissig als meine Kinder auf die Welt gekommen sind und das empfand ich schon hart an der Grenze.
@Maike Man weiss nie, ob man den Schulabschluss oder gar den eines Studiums seines Nachwuchses erlebt. Mein Nachwuchs muss immerhin kaum lange aufs Erbe warten.
Wichtig ist doch VOR der Pensionierung herauszufinden, wo noch ein Talent oder ein Potential liegt, das man nun mit viel Zeit pflegen und entwickeln kann. Interessen, die während dem Berufsleben zu kurz kamen.
Auf keinen Fall würde ich auf diesen Psychiater hören, der Angst vor Alzheimer und Demenz hat und offensichtlich weltfremde Ideen entwickelt.
Korrekt – man darf sein Leben eben nicht vollkommen in den Dienst des Dienstes stellen. Ich habe meinen Garten, ich lese gerne, ich bastle gerne, ich nähe gerne, ich räume gerne unsere Wohnung um. Mit meinem Mann zusammen fahre ich als Sozia gerne Motorrad.
Shopping war mal, es gibt einfach keine vernünftigen Läden mehr für mich. Alles solche Fummel minderer Qualität, die kaum die zweite Wäsche überleben würden. Auch in Geschäften, wo ich früher immer etwas gefunden habe.
Und die Demenzgeschichte – kann passieren, muss aber nicht ! Aber was kann nicht alles passieren ? Auch der Himmel kann einem auf den Kopf fallen (Majestetix)…
Aber ich sehe viel Potential, wandern, zelten radfahren, gärtnern – oder vielleicht schreiben sie ein Buch ?? Frau Rowling lässt grüssen !
Mein Plan ist es, schon seit langem und immer noch, dass ich nach der Pensionierung noch ein Studium absolviere. Die Studienrichtung habe ich noch nicht festgelegt, aber es wird etwas komplett anderes sein als das, was ich im Berufsleben gemacht habe (IT).
Herr Aeschbacher, kann Sie nur ermuntern. Gibt enorm viel Aufrieb, sich mit etwas Neuem zu befassen. Für mich war die grösste Herausforderung nach der Pensionierung, nach den ersten genossenen freien Monaten wieder eine Struktur hineinzubringen.
Genau Frau Olloz ! Auch ich wohne mit Freude am Genfersee, es gibt einfach kein schöneres Ort auf der Welt ! Langweilen tue ich mie nie, im gegenteil bin ich ein wenig zu sehr aktiv. Wie kann man sich langweilen in einem Ort der Kultur wie Lausanne und dem Genferseegebiet ? Alles Gute für die nächsten 30 Jahren und auch an Frau Fehlmann.
Beim Rennvelo fahren sollten sie ausschliesslich Rennvelo fahren. Rennvelo fahren ist entspannend und meditativ, wenn man es richtig macht 🙂
Wer bestimmt, was richtig ist ? Über diese Art der Fremdbestimmung ist der Renter längst hinaus. Der Rest sagt ihm dann schon sein Körper…
Man macht es dann richtig, wenn es entspannend und meditativ ist.
Aber richtig Radfahren müsste dann auch mit einem Tourenrad gehen oder ? Da muss ich nicht so viel Angst haben, das mir meine Rennziege geklaut wird, wenn das Schloss schon schwerer als das ganze Rad ist…
Draussen finde ich es nicht immer so entspannend, da ich mich doch sehr auf Strasse und Verkehr konzentrieren muss. Laufen („joggen“) finde ich da besser geeignet. Zwei Stunden angenehmes Tempo laufen, kann sehr meditativ sein. Auf dem Rennvelo geht das, wenn ich es auf die Rolle stelle. Am besten eine flache Strecke wählen, laute PsyTrance Musik laufen lassen (150 – 160bpm) und synchron dazu treten mit 75-80 Umdrehungen, beliebig lange – da kommt man ohne Drogen schon fast auf den Trip. 🙂
Oh ja, laufen ist traumhaft schön. Ich war über 20 Jahre begeisterte Bergläuferin, bis mich ein Unfall aus der Bahn warf. Laufen geht nicht mehr, aber Velofahren und Schwimmen sind wunderbare Ersatzsportarten, die ich wärmstens empfehle.
ohne Musik.
Das mit dem Joggen stimmt, aber die Autorin steigt aufs Rennvelo.
Im Übrigen gibt es auch Leute, die hypern auch beim Joggen rum.
Wer sich fraglos als alte Frau bezeichnet ab dem Pensionsstichtag hat in meinen Augen einen Horizont der fürs vorzeitige Altern prädestiniert. Krass diese Biederkeit.
Danke für diese erheiternde Klassierung. Alt ist erstens nicht negativ und zweitens nicht dasselbe wie Biederkeit – was das für Sie auch immer bedeuten mag.
Natürlich ist es jedem selbst überlassen, wie er seine „Pensionierung“ angeht, bzw. verbringt. Die Einen brauchen einen durchgeplanten Alltag, die Anderen, so wie ich, geniessen es, eben genau darauf nach 48 Jahren Berufsleben zu verzichten. Ich lebe in den Tag hinein. Tue was mir Spass macht, esse was mir Spass macht. Langeweile? Kenne ich nicht. Zeitumstellung? Kenne ich nicht, wie auch, ich trage seit dem Tag meiner Pensionierung keine Uhr mehr. Im Haushalt gibt es auch keine, das Handy ist nur im Notfall eingeschaltet.
Mir geht es so gut wie nie zuvor. Ich frage mich allerdings, wie ich die 48 Jahre Berufsleben ausgehalten habe. Wenn ich etwas anders machen würde, so würde ich die 48 Jahre anders gestalten. Ich bin 72, seit 9 Jahren pensioniert, kern gesund und lebenslustig.
Hätten Sie die 48 Jahre Berufsleben nicht so gelebt wie Sie sie gelebt haben, wären Sie jetzt nicht da wo Sie sind ! Offensichtlich hatten Sie keinen stressigen Beruf, wenn Sie 72 und kerngesund sind. Chapeau.
Wie hat es mal meine Tante formuliert?
„Man hat nie weniger Zeit als nach der Pension“
Wie Cicero es sagte: er habe nie weniger Zeit, als wenn er Zeit habe.
Beste Grüsse
O.R.
Rennradfahren und Russisch lernen klingt nach einer perfekten Kombination. Gratuliere zur grossen Freiheit!
Danke. Die Auflösung folgt in meinem nächsten Beitrag.
Wenn Sie vom Drang aufs Rennrad übermannt werden ist das ok.
Körperliche Wesen sollten sich auch körperlich betätigen.
Geistiger Langlauf mit Russisch ist auch ok.
Aber es muss nicht sein.
Selbstauferlegter Leistungsdruck finde ich pervers, wenn er schadet.
Trotzdem, alles was Freude macht ist ok.
Angst vor x Krankheit habe wir nicht im Griff. Einige reden vom Tanzen.
Meine Überzeugung, dass wir Schweizer auch im Sterbebett darüber sinnieren müssen, wie wir unser Leben (bzw. Sterben) optimieren können, hat dieser Blog nicht zu entkräften vermocht – im Gegenteil. Wir haben ganz tolle Eigenschaften, wir Schweizer, richtig entspannt, richtig losgelöst von der Vorstellung, ja vom Wahn, etwas leisten zu müssen oder zu wollen, sind wir aber nie. Wirklich nie. Und das gefällt mir an mir selbst und an meinen Landsleuten gar nicht.
Nicht Russisch lernen! Polnisch lernen schützt vor Alzheimer! Die transzendentale polnische Grammatik bringt die Hirnwindungen so richtig zum Glühen, versprochen. Ich, 59 und in Frühpensionierung rede aus Erfahrung. Mit dem Velofahren halte ich es genauso. In den Tag hinein leben, nach all den Jahrzehnten Fremdbestimmung und Berufsstress ist eine Befreiung, die ich gern praktiziere. Ich musste sie mir aber erarbeiten insofern, dass ich mich vom dümmlichen Dogma, dass man immer etwas „Produktives“ und „Sinnvolles“ tun muss, erst nach einer gewissen Zeit bewusst befreien konnte. Dieses dümmliche kapitalistische und bünzlige Arbeitsetos, das uns anerzogen wird, ist leider nur dazu geeignet, Arbeitssklaven zu produzieren und disziplinieren. Befreit Euch von solcher Lehre, die uns unfrei macht
Fast ganz Ihrer Meinung. Ausser zum kapitalistischen Arbeitsethos. Der war im So genannten Kommunismus nicht besser. Nun, ich für mich integriere keine politischen Theorien in meinem Alltag.
Leider nicht so einfach, besonders wenn man wie ich das Gefühl hat, sein Potential nicht voll ausgeschöpft zu haben. Sicher man gewöhnt sich mit der Zeit daran und wird entspannter. Mühe habe ich mit gewissen Dingen wie etwa Golf spielen, guter Zeitvertreib aber sinnvoll? Bewegung ja, aber im Ramen meiner bescheidenen finanziellen Verhältnissen, also Velofahren.
Seit nun 6Mt. liess ich mich frühpensionieren und ich geniesse jeden Tag! Endlich habe ich Zeit für den Enkel, die Familie, 2x pro W. Krafttraining und ich kann tun uns lassen was ich will. Ja, pro Mt. erhalte ich nun Fr. 900.- weniger, was ich wohl merke und was manchmal keinen Spass macht. Langweilig wurde es mir noch keinen Tag und ich möchte auch keinen Tag an die Arbeit zurück.
Obige Einträge tönen nach: Ich bin ein noch bessere Pensionierter als du. Ich weiss, wie ich nicht verdumme oder gar Alzheimer bekomme, und alt ist höchstens meine Haut aber nicht mein Geist. Da punkte ich offensichtlich schlecht. Ich habe bis 70 in einem fantastische Beruf gearbeitet, wurde umworben, hatte grosse Autorität und beste Bezahlung. Doch mit 70 beschloss ich nicht mehr zu arbeiten und meine Position einem jüngeren Kollegen zu überlassen. Seither ist mein Leben langweilig. Respektbezeugungen gibt es keine mehr, Erfolge sind selten und klein, und ich bekomme mehr Runzeln und verliere Haare. Schaue ich in den Spiegel sage ich scheisse, das bin ja ich. Aber ich bin noch stark genug um zu realisieren, dass ich noch etwa 10 gute Jahre habe, dann 10 schlechte und dann ab ins Jenseits.
@Hermann. Sie bestätigen meine Vermutung, dass Männer, die sich vorwiegend über ihren Beruf definiert haben, mehr Mühe haben, sich nach der Pensionierung zurecht zu finden. Langweilig? Wie schade um die Zeit, wo Sie noch einigermassen fit sind. Mit den inneren und äusseren Zeichen des Alterns müssen wir aber alle zurecht kommen. Wie viele gute, wie viele schlechte Jahre uns noch bleiben, wissen wir zum Glück nicht. Aber solang wir noch gesund sind, haben wir es in der Hand, unsere Zeit gut zu gestalten. Viel Glück und alles Gute!