Der Kassettenrekorder

M&F

Trotz aller nostalgischer Gefühle: Musik hören auf Kassette möchte man heute nicht mehr. Foto: iStock

Vor ein paar Wochen bekam ich Post von Frau Krauthammer (sie heisst nicht so, aber der Name gefällt mir). Frau Krauthammer verantwortet die Pressearbeit für eine Agentur im Kulturbereich. In ihrer Mail legte sie mir das Album einer Künstlerin ans Herz, deren Songs sie als «Detox Music» umschrieb. Sofort begann mein linkes Auge zu zucken und ich antwortete bockig: «Liebe Frau Krauthammer, beim Wort ‹Detox Music› verkrampfe ich mich. Nicht auszudenken, was passiert, wenn ich die Musik höre.»

Damit wir uns richtig verstehen: Musik kann vieles, keine Frage. Aber entgiften? Dazu fehlt mir die Vorstellungskraft. Also gab ich den Begriff bei Youtube ein: Sofort prasselte mir ein Hagel toxischer Treffer entgegen. Ich klickte auf einen Clip, der neun Stunden dauert und dessen Schöpfer behauptet, dass seine ätherische Synthesizer-Endlosschleife, für die er kaum mehr als zwei Tasten zu drücken brauchte, nicht nur Giften den Garaus mache, sondern auch Infektionen, Bakterien und Pilzen. Eine begeisterte Nutzerin schrieb: «Ich spielte die Musik meiner fünfjährigen Tochter vor. Sie hatte hohes Fieber, und ich setzte sie zur Entgiftung in die Badewanne. Später kotzte sie eine Tonne Schleim in die Toilette, danach war sie wieder gesund …». The dark side of detox music.

Traurig und fröhlich zugleich

Kürzlich stand ich in der Ramschecke unseres Quartier-Brockis vor einem Kassettenrekorder von anno 1984. Er lag da wie ein vergessenes Stück der gestrigen Welt. Ein schönes Gerät aus schwarzem Plastik und matt silbernem Blech. Hob man es zur Nase, roch man die Elektronik im Innern des Gehäuses und den klebrigen Staub der Zeit. Nun bin ich kein Mann von gestern. Ich weiss, dass es keine mechanischen Abspielgeräte mehr braucht, um Musik zu hören. Doch Nostalgie ist ein süsses Gift. So kam es, dass ich mich durch eine Schachtel Kassetten wühlte, die es für einen Franken pro Stück zu kaufen gab. Ich fand eine Best-of-Bill-Withers-MC und schob sie verstohlen ins Kassettengerät.

Bill Withers hatte der Welt 1972 «Ain’t No Sunshine» geschenkt. Der Song ist nur zwei Minuten lang und gehört zu den traurigsten, die je geschrieben wurden. Faszinierend ist, dass die Musik überhaupt nicht traurig klingt. Es gibt ein Video, das ich mir alle paar Monate ansehe, wenn ich Balsam für mein Seelchen brauche (um beim Lingo der Detox-Industrie zu bleiben). Withers ist über die Gitarre gebeugt und öffnet während des ganzen Songs kein Auge. Seine Band musiziert so konzentriert und um jeden Ton bedacht, als spielte sie in der Kirche. Nur der Schlagzeuger fletscht hinter seiner Sonnenbrille die Zähne – wobei man nicht weiss, ob es der Kraftakt der Zurückhaltung oder die schiere Freude am sparsamen Beat ist, welche seine Mundwinkel zu einem Grinsen verzieht.

Und während «Ain’t No Sunshine» wie lauwarme Milch aus dem kleinen Speaker des Kassettenrekorders schwappte, sah ich nach draussen in das Grau eines Nachmittags im Februar. Menschen unter Kapuzen und Schirmen eilten vorbei. Autos hielten an und fuhren weiter. Und es war, als nähme die Zeit vor dem Fenster den gewohnten Lauf, während sie drinnen, für die Spielzeit von zwei Minuten, stehen blieb. Nicht 1972, nicht 1984, sondern jetzt und hier. Ich kaufte die Kassette (ohne den Rekorder) und stellte sie zu Hause auf meinen Schreibtisch. Zur Erinnerung dafür, was gute Musik (ohne Heilsversprechen) immer kann: die Zeit anhalten.

16 Kommentare zu «Der Kassettenrekorder»

  • Nina sagt:

    Meine erste Kassette war Madonna, Like a Virgin und Alphaville, Big in Japan. Ja, ich bin ein 80er Kind und drehe immer noch völlig durch wenn Duran Duran etc. gespielt wird. Mein Allzeit-Favorit heisst Ohne Dich, Münchner Freiheit.

  • Eva D sagt:

    Ich habe mir als 10-/11jährige den gesamten Beatles-Katalog auf MC gekauft und rauf-und runtergespielt, bis sich die MCs auflösten. Und natürlich sonntags die besten Songs von der Hitparade aufgenommen. DRS3 von damals lässt grüssen. Mit 12 bekam ich meine erste Stereoanlage. Das war 1981. Ab dann waren Icehouse, Bowie, Depeche Mode 4 Jahre lang meine Helden. Mit 16 durfte ich ins Big Apple und habe the real thing kennengelernt: The Sisters Of Mercy, Alien Sex Fiend, The Cramps, Dead Kennedys etc. Die sind alle heute noch Balsam auf meine Seele.

  • Maike sagt:

    Nachdem ich den Artikel in der Papierausgabe gelesen habe bekomme ich dieses Lied nicht mehr aus dem Kopf !!!!
    Musik begleitet einem das ganze Leben hindurch. Und – ähnlich ist es bei Gerüchen, warum auch immer – spielt man ein spezielles Lied, kann es einen mit einem Fingerschnips zurück in das Alter und die Situation versetzen, wo man es gehört hat. Das Lied, wo man mit einem ganz tollen Typ getanzt hat beispielsweise. Manchmal glaube ich sogar, das ich noch sein Parfüm rieche..
    Eine Kassette einschieben, eine Platte auflegen hat für mich wesentlich mehr Charme, als meinen MP3 Player anzustellen. Das Ergebnis ist fast das Gleiche, man hört Musik. Nur bei einer LP kommt dieses unsägliche Kinistern dazu…
    Auch mit diesen Abspielern kann man die Zeit bremsen.

    • Doris sagt:

      Platte auflegen, Kassette reinschieben, vom zeitlichen Aufwand könnte man meinen, es sei echli mühsam. Doch die Kassette in Händen zu halten, das Plattencover anzuschauen, vielleicht noch mit einem Zeitungsausschnitt drin, das gibt echt gute und innige Gefühle. War 15 Jahre lang Sendungsmacherin bei Radio LORA und habe stets meine Musiksendungen mit 2 Plattentellern gemacht. Und ja, das Knistern des Vinyls, unheimlich erotisch. Bin eine unverbesserliche Nostalgikerin, obwohl ich moderne Techniken ja auch benutze.

  • Renata Stoffel sagt:

    Bin schon lange auf der Suche nach einem Kassetten-Spielgerät. Bis heute leider erfolglos. Brocki’s – das ist eine gute Idee…….!
    Rena

  • Julia King sagt:

    Ich krieg von Reggae Musik Aggressionen, weiss nicht wieso, war schon immer so.

    • Nina sagt:

      Zwingt Dich ja niemand Reggae zu hören. Finde Deine eigene Musik, den Soundtrack Deines Lebens.

      • Julia King sagt:

        Jesus Nina, das ist jetzt aber toxische Weiblichkeit, natürliche kenne ich den Soundtrack meines Lebens und habe meine eigene Musik.
        Wollt mich nur hier outen…

    • Peter sagt:

      Die einen kriegen von Reggae Aggressionen, die anderen von stampfendem Techno und Rap, und darum darf jeder hören, was er will und meist muss niemand anderer Leute Musik hören.

    • Maike sagt:

      .. weil man zu Reggae auch ein schönes Rohr rauchen sollte. Dann wirst Du merken, wie entspannt diese Musik sein kann !!

  • Marie sagt:

    Als ich Tom Jones im Jazz Festival in Montreux gehört habe, ist mir so wehmütig gewesen ! Wo sind diese wunderschöne Lieder gegangen ? Es fehlt stark an fröhlichkeit in dieser heutigen Welt als dass man herzliche und melodiöse Lieder schreiben und komponieren würde. So schade. Ja, alle meine Kassetten sind futsch. CD habe ich noch viele.

  • Rudolf Zimmermann sagt:

    Ich habe mein erstes Tonband 1970 bekommen und alle Lieder vom UKW-
    Radio aufgenommen.War damals 15 und hatte kein Geld für Platten.In dieser Zeit
    war Radio Luxemburg mein Favorit für gute Pop Songs. Heute denke ich mit Wehmut an diese Zeit zurück. Das Kasettengerät (Grundig)habe ich noch.Später
    ca. 1977 kam ein Spulengerät (Revox) dazu.Wenn ich Zeit habe geniesse ich die
    70er Musik. Ab und zu lass ich den Lenco L75 Plattenspieler laufen. Mit 1000
    LPs kann man die langen Winterabende verkürzen. Je nach Stimmung von
    Kings, C.C.R., Stones, Beatles,Byrds,Carpenters,J.Cliff,C. Berry etc.

  • peter sagt:

    sehr schön in worte gefasst herr heer.

  • Lori Ott sagt:

    Wer ist „man“?
    Ich höre noch ab und zu Musik ab Kassette, und will weder dies, noch das Medium Kassette selbst missen.
    Kassetten sind nachgewiesenermassen haltbarer als CDs, deutlich weniger von Obsolenz bedroht als jeder digitale Datenträger, und von besserer Qualität als es all die Unkenrufe in verunglimpfender Weise glauben machen wollen.
    Ein gutes Abspielgerät ist allerdings nicht nur für den Musikgenuss an und für sich ratsam, sondern auch um die in vielen Fällen selten Exemplare nicht unnötig und über Gebühr zu strapazieren.

  • tigercat sagt:

    Dieses Lied ist aber etwas vom schönsten, das je komponiert/gespielt wurde.
    Es geht mir ganz genau so wie Ihnen.

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