Endstation Lesebrille

Der Lauschangriff ist ein journalistisches Genre, in dem Personen im öffentlichen Raum heimlich zugehört und das Gesagte in Dialogform wiedergegeben wird. «Das Magazin» druckte in den Nullerjahren ab und zu solche Stücke ab.

Heute will ich auch einen solchen Lauschangriff beisteuern, nachdem ich im Bus zwei männlichen Mittvierzigern, die vor mir sassen, unfreiwillig zuhören musste – und Zeuge eines seltsamen verbalen Duells wurde, das mich an jene Szene im «Weissen Hai» erinnerte, wo Haijäger Quint und Meeresforscher Hooper einander ihre Narben zeigen, um sich gegenseitig zu übertrumpfen.

Mann 1: Horror.

Mann 2: Was?

Mann 1: Ich wiege 98 Kilo.

Mann 2: Wem sagst du das. Ich 102.

Mann 1: Mein Bauch leiert gegen vorne aus.

Mann 2: Das geht ja noch. Meiner auch auf der Seite.

Mann 1: Dafür habe ich Falten.

Mann 2: Hab ich auch.

Mann 1: Aber du nicht um die Augen. Ausserdem habe ich ein Doppelkinn.

Mann 2: Und jetzt? Meine Oberarme sehen aus wie gegrillte Pouletschenkeli.

Mann 1: Flach und hängend?

Mann 2: Genau. Muskelschwund.

Mann 1: Kenn ich. Sieht aber niemand ausser die Freundin. Graue Haare sind viel schlimmer.

Mann 2: Ah ja? Und was ist mit Haarausfall? Hab ich!

Mann 1: Wen kümmern schon die Haare. Ich sehe immer schlechter.

Mann 2: Sicher nicht schlechter als ich.

Mann 1: Hast du schon eine Lesebrille?

Mann 2: Natürlich.

Mann 1: Mal Hämorrhoiden gehabt?

Mann 2: Ha, Hämorrhoiden! Schon mit 30.

Mann 1: Venen?

Mann 2: Was Venen?

Mann 1: Schon mal eine entfernen müssen?

Mann 2: Nein.

Mann 1: Ich schon!

Mann 2: Ach.

Mann 1: Ja.

Mann 2: Wir sind definitiv nicht mehr jung.

Mann 1: Horror.

Toxic masculinity, dachte ich, ist definitiv nur ein Medienthema – und stieg ob dem Gejammer mit Verachtung in der Miene aus. Bloss: Das stimmt nicht. Ich stieg nicht aus. Ich war gar nie im Bus. Das Gespräch fand so nicht statt. Aber sehr ähnlich, immer wieder – zwischen mir und Kollegen.

Wie lachhaft und peinlich das mittlere Alter doch ist. Oder ist es doch furchterregend? Der Anfang vom Ende? Vielleicht können das ältere Blog-Leser besser beurteilen. Kommentare können Sie gerne unten eintragen.

33 Kommentare zu «Endstation Lesebrille»

  • Bruno Müller sagt:

    Ich finde das „mittlere Alter“ (bin 48) sehr interessant. Schonzeit ist abgelaufen. Jugendlicher Charme wirkt nur peinlich. Entschuldigungen werden nicht mehr akzeptiert. Man kann keine Hoffnungen mehr haben, dass man es noch „zu etwas bringt“. Und wenn man es zu „etwas gebracht“ hat, weiss man, dass es nicht geholfen hat. Es ist alles abgefallen. Endlich ist man frei.

    • Ralf Schrader sagt:

      Der schönste Teil im Lebens eines Mannes beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus, die Frau bei einem anderen ist und er auf die Einkünfte aus der Berufstätigkeit nicht mehr angewiesen ist. Das Dümmste, was man im dritten Lebensdrittel machen kann, ist irgend etwas aus dem ersten oder zweiten zu wiederholen.

      Leben muss streng sequentiell bleiben. Man macht zwei grosse Ziele nie gleichzeitig und nie zweimal.

      • Yv Woodhouse sagt:

        Bravo!

      • Röschu sagt:

        „Der schönste Teil im Lebens eines Mannes beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus, die Frau bei einem anderen ist und er auf die Einkünfte aus der Berufstätigkeit nicht mehr angewiesen ist.“
        Und weshalb genau, sollte Ihrer Meinung nach der Mann dann überhaupt anstreben Frau und Kind zu haben, wenn es doch ohne diese am schönsten ist? Seine Einkünfte reichen auch bereits zu einem früheren Zeitpunkt weit besser aus, wenn Mann ein Leben lang nur für sich selbst Sorgen muss…

        • Hans Hasler sagt:

          Röschu: Das war doch eine Anspielung auf den klassichen Rabbiner Witz: Ein Rabbiner, ein katholischer und ein evangelischer Geistlicher werden gefragt, wann das Leben beginnt. Der Katholik erklärt, zweifelsfrei sei der Zeitpunkt mit der Befruchtung gegeben. Der Protestant betont: mit dem Entstehen eines körperlich erkennbaren Embryos. Der Rabbiner denkt kurz nach und meint schließlich: »Nun ja, das Leben beginnt eigentlich erst, wenn die Kinder aus dem Haus sind und der Hund gestorben ist.«

      • Brenner sagt:

        Herr Müller
        Herr Schrader
        Ich werde dieses Jahr 40. Danke für Ihre Zeilen – ich werde das eine oder andere Mal daran denken…

  • Nick sagt:

    Danke für den beruhigenden Text. Obwohl Ü50 habe ich diese Probleme (noch?) nicht. Abgesehen davon, dass meine reichlich vorhandenen und prächtig wachsenden Haare an den Seiten grau werden. Färben ist leider keine Option. Nach einer Woche wären die grauen Haare wieder herausgewachsen, was dann sehr hässlich aussehen würde. Was kann ich tun? Ideen sind gefragt.

    • Cartesia sagt:

      Einfach einigermassen gesund leben und sich Sorge tragen. Es gibt kaum etwas, was (natürlich nur subjektiv in meinen Augen) unattraktiver wirkt als ein Mann, der an seinem Äusseren künstlich rumpfuscht. Ein reifer Mann, der in sich ruht, ist da viel attraktiver.

      • Ruth sagt:

        Also was ich persönlich jetzt auch eher unattraktiv finde sind Leute, die sich durch Vergleiche mit anderen beruhigen.

      • Ralf Schrader sagt:

        Ein reifer Mensch könnte Zeit zum Lesen verwenden, z.B. zum Thema Gesundheit. Dann erfährt der reife Mensch, dass ‚gesund leben‘ eine Erfindung der Lebensmittel- und Pharmawerbung ist. Biologisch gibt es nur Vitalität, die man mit Lebensweisen beeinflussen kann. Mit Gesundheit hat das aber nichts zu tun.

    • Asta Amman sagt:

      Üppige graue Haare bei Männern haben mich als Frau schon in jungen Jahren fasziniert – vor allem in Kombination mit blauen Augen. Aber selbst wenn Sie dunkeläugig sind: Ein schöner Grauton ist ein bisschen wie blond. Und blonde Männer über 18 scheint es bei uns kaum zu geben (okay, ausser Herrn Zweifel).

    • Kurt sagt:

      Entspannen, Aufhören darüber nachzudenken und das Grau oder Weiss mit Stolz tragen!

  • Georg Guggenbühl sagt:

    das Proplem kann man einfach lösen:
    3x wöchentlich Fitness-Studio und zweimal wöchentlich Ausdauertraining….
    Muss jeder selber wissen ob er den Aufwand treiben will, hatte das Proplem mit 40, jetzt mit 60 nicht mehr

  • Cartesia sagt:

    Ich stimme Bruno Müller zu: Älter werden macht frei. Und alt sein verzichtet sogar darauf als Anspruch oder Ziel. Das dritte und vierte Alter zeigt die eigene Endlichkeit mit jedem Tag deutlicher. Das ist gut. Das ist normal. Ich würde gerne einmal mit Menschen sprechen, die ganz bemüht darum sind, das Alter zu verdrängen oder gar (äusserlich) aufhalten zu wollen. Altern ist, wie es ist. Es ist.

  • sepp z. sagt:

    In einem Satz sich über „giftige Männlichkeit“ UND über jammernde Männer beklagen: Das muss man auch erstmal schaffen.

  • roy allen sagt:

    Ja, Sie sagen es. Lachhaft und peinlich das ganze. Bringt euch doch verdammt nochmal in Form, geniesst das Dasein und seid dankbar für Zuckerschlecken eines wie auch im gearteten Lebens in der Schweiz.

  • Paolo Martinoni sagt:

    Haben sich zwei Männer tatsächlich so miteinander unterhalten im Tram? Sorry, aber so was kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich meine – dass zwei Männer sich derart blossstellen: schlicht unvorstellbar! Ich gehe auf die sechzig zu und kein einziger Mann hat sich je mir gegenüber auch nur annähnernd derart dargestellt. Freilich: Männer prahlen sehr gerne, allerdings mit (vermeintlichen) Vorzügen.

  • R.D.Braun sagt:

    Das Problem der Menschen ist, dass sie denken sie hätten Zeit.
    Nicht von mir,aber ein Mittel gegen graue Haare.

  • Müssiggänger sagt:

    ü60: Man muss sich und anderen nichts mehr beweisen. Gelassenheit und Müssiggang bestimmen die Freizeit, Lesen und Reisen erweitern nach wie vor den Horizont, Downsizing als Freiheitsbereicherung (zB. Auto weg, weniger Arbeiten), Leute meiden, die nur noch Krankheitsgeschichten zum Besten geben, viel Spazieren und sich nicht dem Jugendlichkeitswahn (Kleider, Fitness, etc) unterjochen. Mit einer Seelenverwandten Partnerin das hier und jetzt geniessen …

    • Paolo Martinoni sagt:

      @ Müssiggänger Ich für mein Teil denke nicht, dass Ü60 sich und anderen nichts mehr zu beweisen haben, auch nicht, dass Müssiggang und Gelassenheit ihre Freizeit bestimmen. Im Gegenteil. Dass mag auf Sie zutreffen oder auf jene Ü60, die Ihre bisherigen Ziele erreichen konnten, wohl aber nur auf eine Minderheit von ihnen. Zumal Unsicherheiten und Selbstzweifel durchaus auch erfolgreiche und wohlhabende Menschen heimsuchen können. Und die zunehmenden Gebrechen gepaart mit einer abnehmenden Attraktivität und einer nachlassenden Potenz (erst recht im übertragenen Sinn) stellen zweifelsohne eine neue, zusätzliche Hürde dar …

  • Michael sagt:

    Wer wäre ich doch für ein Weichei, wenn ich mein Verhalten an den Massstäben der anderen ausrichten würde !!! Habt ihr alle kein Rückgrat oder was ? Klar gibt es allgemeingültige Regeln – eine rote Ampel heisst anhalten und man hilft älteren Mitbürgern. Aber wenn mich meine fehlende Haare nerven, dann nerven sie mich. Wenn ich mich besser fühle, sie zu färben, dann färbe ich sie.
    Der Vorteil des Alters ist es doch, das man viele Situationen erlebt hat, die einen geformt haben zu dem, was man ist – und was man nicht sein möchte. Das so erworbene Verhalten mag Jüngeren gerne mal peinlich vorkommen, weil sie anders machen würden. Das ist das Recht der Jugend – tangiert mich als 60+ aber noch nicht mal tangential !

  • Zufferey Marcel sagt:

    Man merkt sofort, ob da ein zufriedener Mensch schreibt oder nicht. Philippe Zweifel ist zweifellos ein relativ (?) zufriedener Mensch. Sehr sympathisch. Und sehr gelassen. Vor allem Letzteres zeichnet ältere / reifere / Männer (im besten Alter, haha!) aus. Tiptop, gefällt mir: Weiter so!

    Wie alt ist eigentlich das Photo unter dem Text?

  • Reincarnation of XY sagt:

    Jeder von uns wählt sich selbst sein Umfeld.
    Wenn ihr Umfeld solche Gespräche führt, wirkt das auf mich sehr armselig.
    Ich rede mit meinen Altersgenossen, darüber was wir gelernt haben aus der Vergangenheit, in welche Richtung wir uns zukünftig orientieren wollen, Freizeitaktivitäten, Herausforderungen im Job und Familie. etc.
    Das Lesebrille-Thema ist höchstens eine Randanekdote ohne jeden Belang.
    Also echt jetzt.

    • tina sagt:

      im text ist ja die rede von kollegen. können also schon auch arbeitskollegen sein, die man nicht selber gewählt hat. ich finde (offenbar wie zuffy), leute sehr entspannt, die auch über den körperlichen zerfall lachen können. man kann imfall solche und auch ganz andere gespräche mit den selben leuten führen :). ich glaube sogar, das ist recht normal. an männern kommt das übrigens recht männlich rüber, wenn sie auch mal (!) über mäkel sprechen und grinsen. nichts peinlicher, als diese stets überlegenen, stets schlau redenden leute (m+f). aber da gibt es wohl einfach verschiedene geschmäcker. armselig ist allerdings deine art menschen negativ zu beurteilen aufgrund dieses ganz offensichtlich nicht trübseligen gesprächs. oder war das lustig gemeint? es ist nicht lustig

  • Vierauge sagt:

    interessante Bekannte haben Sie da, Herr Zweifel.
    Ich bin Ende 50 und habe mich noch nie mit einem Mann (oder einer Frau), ob in meinem Alter oder nicht, auf diese Art unterhalten. Da fallen uns wirklich viel bessere Themen ein.

  • fufi sagt:

    Nein, irgendwie versteh ich das Alles wirklich nicht.
    Da feiern sie fröhlich ihre Geburtstage, und ganz besonders die runden.
    Und gleichzeitig klönen sie über das Älterwerden?
    Also deren Probleme möchte ich haben.
    (NEIN, ich meine NICHT die Probleme wo’s halt so gibt, wenn MannOderFrau halt nicht mehr so jung ist, davon habe ich nämlich schon einige.)

    Was wollt ihr denn eigentlich?
    Na klar, wie immer: de Föifer und s’Gipfeli!

    Alt und Weise, und knackig wie ein Frischling?
    Hey Jungs und Mädels, das KANN nicht aufgehen!

    Was mich betrifft:
    Ich bin halt so der, wo ich geworden bin, in den letzten 60 Jahren.
    Soll ich jetzt wirklich mit mir unzufrieden sein, bloss weil ich nicht der/das bin, wo mir irgendwer „influenciert“, weroderwas ich denn sein sollte oder könnte?

  • Peter Küng sagt:

    Warum ist die Redaktion des TA eigentlich nicht lernfähig? Das Wort „zensuriert“ gibt es nicht und hat es nie gegeben, das Wort heisst „zensiert“. Trotzdem wird es alle Nase lang trotz Hiweisen immer wieder eingesetzt. Wenn Ihr Schweizerdeutsch schreiben wollt, aber selbst da ist das Wort eigentlich inexistent, dann tut das, aber im deutschen Wortschat hat es nichts zu suchen.

    • Maike sagt:

      Wenn man schon Krümel picken will, dann sollte man wenigstens in der Lage sein, einen Text fehlerfrei hinzubekommen (Hiweisen..) Und auch in der Aussagelogik sollte man bewandert sein, wenn man sie benutzt – eigentlich inexistent – geht nicht. Entweder es existiert etwas oder es existiert etwas nicht. Das ist binäre Logik – 0 oder 1. Dazwischen gibt es nichts !
      Mich hat das Wort zensuriet nicht gestört.

      • Kurt Bättig sagt:

        „Der liebe Gott weiss alles, aber der Lehrer weiss alles besser“.
        Das gäbe wieder ein fantasievolles Gespräch zu Lesebrillen oder so, und Fehler würden benannt, im Denken wie beim Schreiben: Du machst mehr Fehler als ich, und ich weiss auch genau, was toxic masculinity ist. Eben das.

  • Christian Bucher sagt:

    Schon erstaunlich wie viele Leute sich hier verbal auf die Schulterklopfen um mit Sprüchen und guten Ratschlägen zu zeigen das die Welt doch ganz anders ist als im Blog und nur sie wissen wie man zu leben hat.
    Das muss wohl ein Generationenproblem der jetzigen 60 Jähren sein, dass sie sich entweder mit „fishing for compliments“ oder Selbstlob bei anderen in Szene setzen müssen.

  • Hans Minder sagt:

    Haare, Hämorrhoiden, Bauch, Doppelkinn, etc.: alles ÄUSSERLICHE ERSCHEINUNGEN !?!
    Diese Fixierung aufs Äusserliche erscheint mir der Fluch der Zeit.
    Handlungsbedarf bestünde bloss, wenn das Gespräch wie folgt abliefe:
    „Horror!“
    „Was?“
    „Ich bin ein Pädophiler!“
    „Pah, ich auch, und zudem deppresiv!“
    „Du hast wenigstens keine Mordgelüste gegenüber deiner Partnerin!“
    „Gegen sie nicht, aber ich habe gestern 3 vor mir in der Schlange stehenden Menschen in den Hintern getreten….ich hätte sie umgebracht, wäre nicht ein Polizist zufällig vorbei marschiert.“
    „Und dein Herionkonsum?“
    „Seit ich mir ein Meth-Lab gebaut habe, ist dieser arg zurückgegangen…aber das innere Gefühl der Wertlosigkeit blieb!“
    „Wir sind nicht mehr jung: Ich gehe morgen zu Exit!“
    „Horror!“

  • Simon Stalder sagt:

    Ich lese eine Variante mehr, wie über giftige Männlichkeit fantasiert wird. Schliesslich gibts ja den Fachjargon, gläubig übernommen und gerne angewandt.Weil doch einfach stimmen muss, was Viele so schön nachsagen.
    „Des Königs neue Kleider“ hätte früher als Märchen gut in dieses Schema gepasst.
    Bis dann halt ein Kind, jung oder auch 40..60..80… jährig, hinschaut, hinhört und sogar staunt. Und seine eigenen Fantasien glatt vergisst.

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