Wie Jugendhelden altern

Spätes Schriftstellererwachen: Autor Henry Miller feierte seinen ersten literarischen Erfolg mit 43 Jahren. (Foto: Getty Images)
Es gibt drei Sorten von Jugendhelden: Jene, für die man sich später schämt und die man vor anderen verleugnet. Jene, für die man sich eine Zeit lang schämt, nur um sie in späteren Jahren wieder zu entdecken und sich stolz auf die Schulter zu klopfen, so früh schon einen so erlesenen Geschmack bewiesen zu haben. Und dann gibt es die Jugendhelden, die Helden bleiben, auch wenn man sich zeitweilig von ihnen entfernt.
Einer meiner Jugendhelden war der amerikanische Schriftsteller Henry Miller (1891–1980). Er gehört zur letzteren Sorte. Ich entdeckte ihn mit knapp 15 und verschlang seine autobiografische Romantrilogie «The Rosy Crucifixion» x-mal. Warum? Weil alles drin war, was mich damals faszinierte: Eine Bohème-Existenz im New York der Dreissigerjahre, unerfüllte Träume von einer Schriftstellerexistenz, unerfüllte Liebe zu einer Frau, die sich nicht besitzen lassen will, lesbische Liebe und sexuelle Eskapaden ohne Ende.
Zwischen 40 und 50 wird Bilanz gezogen
Was mich an Henry Miller ganz besonders faszinierte, war nicht nur seine Literatur, sondern auch seine Biografie. Bis 30 lebte er ein bürgerliches Leben mit Frau und Kind und einem Job bei Western Union. Und es langweilte ihn unsäglich. Dann verliebte er sich Hals über Kopf in eine Nachtclubtänzerin, die ihn dazu ermutigte, seine Schriftstellerträume zu verwirklichen. Also trennte sich Miller von seinem alten Leben und versuchte, als Künstler zu reüssieren. 10 Jahre lang lebte er von Gelegenheitsjobs und Almosen seiner Freunde, versuchte zu schreiben, aber brachte nichts Richtiges zustande. Alle hatten ihn bereits aufgegeben, als er seinen ersten literarischen Erfolg verbuchen konnte: «Wendekreis des Krebses» erschien 1934, da war Miller 43. Als der erste Teil seiner Trilogie erschien, war er bereits 58 Jahre alt.
Jedes Lebensjahrzehnt hat seine eigene Charakteristik. Die Jahre zwischen 40 und 50 sind insofern besonders, als diese Dekade eine Scharnierfunktion hat. Es ist das Alter, in dem die Welt von einem und die meisten auch von sich selber erwarten, dass man etwas aus seinem Leben gemacht und etwas erreicht hat. Manche Menschen ziehen bereits mit 40 diese Bilanz, andere warten damit, bis sie 50 werden. Ganz entziehen kann sich dem aber niemand.
Als Teenager dürften mich Millers literarische Sex-Eskapaden mehr fasziniert haben als sein spätes Schriftstellererwachen. In einem Alter, in dem man vor allem Träume hat, aber keine Ahnung, wie diese auf den Boden zu holen sind, gab mir Millers Biografie aber auch Hoffnung. Es ist ein beruhigender Gedanke, nicht mit 20 schon genau wissen zu müssen, wer man ist und wohin es gehen soll. Dass Irrwege und Umwege erlaubt sind. Dass man nur beharrlich seine Träume weiterverfolgen muss und sich der Erfolg dann irgendwann schon einstellt, wie ich damals glaubte.
Man ist nie zu alt, um sich neu zu erfinden
Heute weiss ich zwar, dass das nur für ganz wenige Menschen zutrifft und dass Henry Miller die absolute Ausnahme ist. Heute kann ich auch viel besser erahnen, wie unbedingt Millers Wille zum Schriftsteller gewesen sein muss, dass er noch nach seinem 40. Geburtstag daran festhielt – obschon er noch gar nichts zustande gebracht hatte. Vielleicht konnte er zu dem Zeitpunkt auch nicht mehr anders, weil er schlicht keine Alternative hatte.
Ich bin zu bürgerlich, um meinen Kindern oder sonst jemandem zu empfehlen, den gleichen Weg einzuschlagen wie Henry Miller. Und dennoch bin ich bis heute fasziniert von seinem Lebensweg, weil er zeigt, dass es letztlich nicht eine Frage des Lebensalters ist, was man erreichen kann. Sondern eine Frage der Einstellung, des Motivs. Man ist nie zu alt, um sich neu zu erfinden. Man ist nie zu alt, seine Träume weiterzuverfolgen. Natürlich kann man mit 50 nicht mehr dasselbe erreichen, wie wenn man mit 20 angefangen hätte. Das sollte aber niemanden davon abhalten, es nicht zu versuchen.
26 Kommentare zu «Wie Jugendhelden altern»
Ein sehr schöner Text, vielen Dank Frau Binseanger.
Schön geschrieben, danke. Es erging mir ähnlich wie Ihnen, Nexus, Sexus und Plexus, intensive Leseerfahrungen, in jeder Hinsicht, viele Jahre her. Ich habe mir schon lange vorgenommen, einmal das Henri Miller Museum in Big Sur zu besuchen. Ich werde die Bücher nicht mehr lesen, zu gross könnte die Enttäuschung sein. So erging es mir kürzlich beim Film Easy Rider. Was habe ich damals alles in dieses Roadmovie hinein interpretiert. Aber gut, die Musik ist nach wie vor einzigartig, und weckt immer noch so etwas wie Sehnsucht. Ich bin deutlich über 60, nicht in Würde gealtert, aber vielleicht erreiche ich das noch (sofern es denn überhaupt erstrebenswert ist).
Oh doch, unbedingt noch einmal lesen. Zum Beispiel passend zur Jahreszeit die Passage in Nexus, als er mit seiner Frau Mona und deren Geliebten seine deutschen Eltern zu Weihnachten besuch. Die beiden Ladys kommen sturzbetrunken nach einer durchzechten Nacht nach Hause und der arme Henry muss sie ganz allein auf Vordermann bringen und durch den Besuch bei seinen Eltern navigieren. Köstlich!
‚Zwischen 40 und 50 wird Bilanz gezogen‘
Das schreibt man nur, wenn man just in dieser Dekade alt ist. In Wirklichkeit kann es nach der Pubertät noch zwei biografische Wendepunkte geben:
Den um 40 und den um 60. Mit 40 beginnt man sich von der Realität zu lösen, beginnt aufzuhören, gegenständlich zu denken. Man beginnt, wenn man es kann und will, in die Welt der Poesie und Philosophie einzutauchen und die Wirklichkeit hinter sich zu lassen. Ein erster Roman mit 43 kann mich da gar nicht verwundern.
Hat man so begonnen, besteht um 60 die Chance, komplett die Wirklichkeit zu verlassen und nur noch Poet und Philosoph zu sein. Dann schreibt man noch bessere Bücher. Mein Schweizer Lieblingsschriftsteller, der Psychiater Walter Vogt, konnte das aber schon mit 52. Ist wohl Statistik.
Dumm ist nur, wenn man mit 40 noch in der Realität verfangen ist. Wenn man dann noch Familie oder Beruf im Sinne fremdgesteuerter Arbeit hat. Dann kommt man nicht raus aus dem Hamsterrad. Die meisten guten Schriftsteller hatten das aber nicht.
Man muss schon so leben wie Miller, Balzac oder Nietzsche, um ein Grosser zu werden. Bürgerlich, mit Familie oder Beruf, geht das nicht. Aber es muss auch nicht jeder ein Grosser werden.
ach dieses hamsterrad könnte man auch als sinnvolles leben bezeichnen :). ich fands jetzt nicht soooo grässlich. kann mir locker tausend leben vorstellen, die schlimmer sind. im gegenteil, ich bin noch dankbar fürs hamsterrad. andere wünschen es sich
Henry Miller’s Bücher waren in der Schweiz lange Zeit verboten. Aber man bekam Raubdrucke in Englisch aus Japan…
Das Lesen dieser Bücher in Englisch, hat mir bei meinem ersten USA Aufenthalt mächtig geholfen, weil ich auch Ausdrücke kannte, die unsere Englischlehrer noch heute nicht wissen. Hahaa
Am 6. Februar feiere ich meinen 59. Geburtstag. Im Alter von 20 Jahren habe ich infolge einer schweren Krankheit, die mich nachhaltig geschwächt hat, mein Mathe-Studium an der Uni-Zürich aufgeben müssen. Was folgte, war ein erbärmliches Berufsleben. Inzwischen geht es mir aber bestens gesundheitlich, auch weil ich seither sehr gesund gelebt habe, ferner hat mich eine satte Erbschaft von der Fron der Arbeit befreit. Ich werde daher meinen damaligen Traum verwirklichen, an die Uni gehen, von vorne beginnen und das Mathe-Studium abschliessen. Es wird klappen, weil ich mich extrem gut darauf vorbereitet habe in den letzten vier Jahren. Never give up! Never!
Wunderbar!
wow! ich bin beeindruckt, ehrlich. hut ab!
Henry Miller war auch eine meiner Jugendlieben, ich hatte ihn vergessen…. was ich an ihm liebte, war seine grosse Menschenliebe und dass er nie moralisierte. Für mich symbolisiert er den freien Geist, in jeder Beziehung. Es ist schön, dass Du ihn mir wieder in Erinnerung gerufen hast.
Auch für mich war und ist Henry Miller ein Star, auch wenn ich fast 30 Jahre älter bin als Michelle Binswanger. Dass es bis zum literarischen Durchbruch noch viel länger dauern kann, bewies der ehemalige Diplomat des Völkerbunds Albert Cohen, der 1968 mit 72 Jahren seinen ersten grossen Erfolg feierte mit dem tausendseitigen Roman „Die Schöne des Herrn“. Ich habe das Buch vor mehr als dreissig Jahren gelesen und war etwas erstaunt, als es kürzlich wieder als literarische Neuentdeckung in der Presse und im Literaturclub gefeiert wurde. Es ist also wirklich nie zu spät, solange man innerlich jung geblieben ist.
Für mich ist aber auch Michelle Binswanger ein Star unter den Journalisten, ich verpasse keinen ihrer Artikel,
Stille Tage in Clichy, hat mich sehr fasziniert, auch Bücher von Anaïs Nin mochte ich sehr, dass in meiner Jugend schon fast als Pornografie galt. Mit Henry Miller konnte man sich so schön in das Paris von damals hinein träumen.
Ich würde das etwas vorsichtig-skeptischer betrachtet und eher sagen: man kann in jedem Alter versuchen (!), sich neu zu erfinden und seine (neuen) Träume zu erfolgen. Denn ob man damit erfolgreich sein oder gar glücklich werden wird, ist natürlich eine ganz andere Frage. Man sollte darum auch vorsichtig sein, solch Einzelbeispiele überzubewerten, denn auf jeden Henry Miller kommen wohl Dutzende, die sich im fortgeschrittenen Alter auch noch als Künstler versuchen wollten und damit fürchterlich gescheitert sind.
Denn letztlich ist das ein klassischer Fehler: ein singuläres Beispiel als generelles Vorbild und Erfolgsrezept zu verklären. Das heisst nicht, dass es falsch wäre, zu versuchen, sich zu verwirklichen. Aber man sollte halt nicht erwarten, dass es auch klappt.
„Man ist nie zu alt, um sich neu zu erfinden. Natürlich kann man mit 50 nicht mehr dasselbe erreichen, wie wenn man mit 20 angefangen hätte. Das sollte aber niemanden davon abhalten, es nicht zu versuchen“ – das Verb „erreichen“ ist mir schleierhaft in Zusammenhang mit dem Verb „sich neu erfinden“, denn das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun. Das „Sich-neu-Erfinden“ ist nicht etwas, was man „erreichen“ kann, es ist zeit- und orts-, daher auch altersunabhängig. Ein literarischer Erfolg ist es hingegen nicht, der muss erreicht werden, man braucht Zeit dafür, hat aber mit dem „Sich-neu-Erfinden“ wiederum auch nichts zu tun. Übrigens kann man sich auch nur „seelisch“ neu erfinden, es muss nicht im Aussen erfolgen, sichtbar sein für seine Mitmenschen.
Ich denke, es geht auch nicht darum sich neu zu erfinden. Das hat auch Miller nicht getan. Er hat sein Leben irgendwann erfasst und in Worte gefasst. Das kann jeder zu jeder Zeit, wenn er dazu bereit ist. Auf individuelle Weise. Ob das gehört, gelesen oder gesehen wird, ist eine völlig andere Frage. Es gibt etwa Autoren, die genial waren oder sind und nie ein Wort verlässt ihre Schublade. Aber geschrieben ist es. „Ein Gedanke, der gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“ Friedrich Dürrenmatt.
Der Geist ist in der Welt. Schreibt, singt, malt. Etwas davon wird selten aber manchmal gefunden für die ganze Welt.
mir scheint „erreichen“ in diesem zusammenhang sinnvoll. es gibt vieles, das ich heute mit fast 50 nicht mehr erreichen werde, beispielsweise eine sportlerkarriere (nicht dass ich wollen würde, es ist nur ein beispiel). es gibt dinge, die muss man jahrzehntelang praktizieren, wenn man jünger ist, um gut zu werden. aber es gibt eben auch sehr viele dinge, die kann man auch noch jahrezehntelang praktizieren wenn man über 40 oder 50 ist, und gut darin werden. im grunde finde ich, gerade für uns mit den viel zu vielen möglichkeiten, ist das eine quasi bereichernde beschränkung
„erreichen“ in Zusammenhang mit „sich neu erfinden“ ist nicht sinnvoll, denn es sind, wie ich bereits erläutert habe, zwei völlig verschiedene Sachen. Beides ist gut, keine Frage, das eine hat aber eben mit dem anderen nichts zu tun. Mit 50 kann man gewisse Dinge nicht mehr erreichen, man kann sich aber immer neu erfinden, auch mit 90, sofern man so lange lebt.
Als Gegenstück zu Henry Millers Büchern, um eine andere Optik zu haben, las ich vor Jahrzehnten die Tagebücher seiner Geliebten Anaïs Nin. Für heutige Begriffe war er ein Macho. Aber es war eine andere Zeit, faszinierend, darüber zu lesen. Es zeigt, dass man in jedem Alter, wirklich immer, sich über die herrschenden Moralbegriffe hinwegsetzen kann und nicht im bürgerlichen Leben ersticken muss. Darüber zu schreiben, braucht Mut.
Liebe Michèle
Das ist ein wunderschöner Text und Henry würde darob mit den Ohren schlackern. Miller ist für mich auch mehr als eine blosse Instanz. Er hat mir das wahre Leben vermittelt, weil er den ganzen Irrsinn, der damit verbunden ist, fassbar gemacht hat. Kennen Sie auch „Mein Fahrrad und andere Freunde: Erinnerungsblätter“ oder seine Aussage: „Einen Buddha zu schaffen, der den allgemein respektierten Buddha übertrifft, das ist eine ungeheure Tat. Siddhartha ist für mich eine wirksamere Medizin als das neue Testament.“ – Henry Miller über Hermann Hesses Roman Siddhartha? „Das Lächeln am Fusse der Leiter?“ mit Mirós Bildern? Zudem gibt es ein Interview in Buchform von Henry wo er in hohem Alter die letzen Fragen beantwortet. Ich gebe nicht auf. Es wird gelingen. Für Henry. 😉
Sehr schön und sehr zeitnahe und urgescheit:
Wer sich mit der Natur verträgt, dem tut sie nichts.
Henry Miller
Wirklich ein sehr schöner Text. Und die Kommentare – insbesondere die von Sonus Faber und Bernhard Schlegel – machen noch mehr draus. Danke!
dankeschön michèle binswanger für lesestoff input, freue mich schon darauf!
….und meinen jugendidolen john lydon, iggiy pop und debbie harry, um nur einige zu nennen, für das gute beispiel in sachen altern 🙂
Ich ziehe kurz Bilanz.
Nichts besonderes erreicht, aber immer noch irgendwas wursteln und erzählen über zufällige Bestseller Sex Romane von Autoren die sich nicht mehr wehren können.
Schöne Freitage und guten Rutsch.
Andy
Ich ziehe auch Bilanz: Nur mal kurz Gemein(!)plätze bedienen ohne die Bücher zu kennen, diese auf Sex reduzieren (!) und echte Leidenschaft für einen Autoren mit Wursteln verbrämen, das ist schlicht armselig. Gehen sie in eine Buchhandlung und schlagen Sie das von Ihnen so verpönte Buch Sexus irgendwo auf und lesen Sie drei Seiten. Aus jeder Zeile schlägt ihnen echte Literatur entgegen. Lesen Sie dann „Das Lächeln am Fusse der Leiter“ und Ihnen wird ein Geschenk zuteil, das man „Den kleinen Prinzen“ für Erwachsene nennen kann. Sie haben leider null Ahnung aber immerhin eine Meinung. Man darf aber durchaus auch keine Meinung haben, wenn man von etwas rein gar nichts versteht.
Auch Ihnen einen guten Rutsch.
Wie bitte ? Lieber Andy, ich sehe Ihrem Erstlingswerk mit grosser Erwartung entgegen. Ich hoffe es wird auch ein zufaelliger Bestseller.
Wie man einen solchen schreibt koennen Sie bei Henry Miller erfahren. Wenn sie das englische , oder vielmehr amerikanische Original ueberhaupt lesen koennen.
Na los, begeistern Sie mich mit Ihrer brillanten Erzaehlkunst. So einen zufaelligen Bestseller , so einen Sex-Roman, das sollten Sie doch eigentlich auch zustande bringen.
Wie sagte doch Albert Einstein, das Universum ist unendlich aber ich bin mir nicht sicher ?
Oder so aehnlich.
Fragen Sie mich mal wen ich lieber als Nachbarn haette, Sie oder Henry Miller. Ich gebe Ihnen gerne Auskunft.