Take it easy
Ich stand wie hypnotisiert vor der Jukebox in der Bar am Ende der Strasse. Als ich wieder zu mir kam, spielt der Kasten «Born to Run», worauf mir das Konzert von Bruce Springsteen (den ich mag) und seiner E-Street Band (die ich nicht mag) einfiel, das ich vor ein paar Jahren im Hardturm gesehen hatte. Und eigentlich nur hingegangen war, um «Born to Run» zu hören.
Nach zweieinhalb Stunden kam der Song noch immer nicht. Ich sah mich genötigt, meinen Stehplatz aufzugeben und auf die Toilette zu rennen, was eine Herausforderung ist, in so einem Stadion; Treppen rauf, Treppen runter, Gänge hin, Gänge her. Ein einziges Labyrinth. Kaum hatte ich mich vor dem Pissoir installiert, spielte der Boss – es klang, als käme der Sound aus dem Spülkasten – «Born to Run».
Mein Kumpel rülpste und sprach: «Letzthin transportierte ich eine Schaufensterpuppe ins Brockenhaus. Ich hatte sie in einen Teppich gewickelt, auch der musste weg. Ich parkte den Wagen, holte die Leiche – Verzeihung, die Schaufensterpuppe – aus dem Kofferraum und erledigte, was zu erledigen war. Danach rieb ich mir die Hände und sah mich im Laden um.
In der Bücherabteilung blätterte ich in einem Bildband über die Phlegräischen Felder, und im Seventies-Fach bei den Schallplatten fand ich das Debut-Album der Eagles. Es kostete neun Franken. Auf der Rückseite der Hülle sah ich, dass der Song «Take It Easy» darauf war, den ich mag. Als mir einfiel, dass ich vergessen hatte, den Parkometer zu füttern, rannte ich hinaus zum Auto. Wie durch ein Wunder steckte unter meinem Scheibenwischer keine Busse. Als ich etwas Münz in die Parkuhr werfen wollte, stellte ich fest, dass mein Nachbar auf Feld 7 aus Versehen statt für seinen, für meinen Platz bezahlt hatte, weshalb die Busse nicht unter meinem Scheibenwischer klebte, sondern unter seinem. Ist das nun fair oder nur gemein? Richtig, alles eine Frage der Perspektive. Auf jeden Fall merkte ich erst jetzt, dass ich das Eagles-Album aus dem Brockenhaus noch immer in der Hand hielt und in der Eile vergessen hatte, es an der Kasse zu bezahlen.»
«Lustig», sagte ich zu meine Kumpel, «dass du die Eagles erwähnst: Neulich, unterwegs in der Stadt, sah ich meine Physiotherapeutin, die auf ihrem Fahrrad die Kreuzung überquerte. Ich rief ihren Namen, worauf sie den Kopf nach mir drehte und das blaue Monster nicht bemerkte, das sie ums Haar erwischte, wäre da nicht die Geistesgegenwart des Chauffeurs gewesen, der abrupt die Bremse zog (oder drückte?), was ein schrilles Quietschen zur Folge hatte, das auch von ihr bemerkt wurde, worauf sie panisch das Lenkrad nach links riss und das Gleichgewicht verlor, was sie mit dem rechten Bein zu korrigieren versuchte und mitten auf den Schienen zum Stillstand kam, nur Bruchteile einer Sekunde bevor das Tram vor dem Hinterrad meiner Physiotherapeutin zum Stillstand kam.
Den Schrecken in den Gliedern, fiel mir der Song ‹Take It Easy› ein, ausgerechnet, frag mich nicht warum. Seit jenem Vorfall beschäftigt mich die ontologische Frage, nach welcher Regel Glück oder Pech vergeben wird. Nicht auszudenken, wie die Geschichte hätte enden können, dabei – das möchte ich gesagt haben – geht es mir nicht darum, dass ich mir ums Haar eine neue Physiotherapeutin hätte suchen müssen, obwohl ich mit der jetzigen doch wirklich sehr zufrieden bin.»
Mein Kumpel nickte, dann seufzte er und bestellte eine neue Runde. Danach sagten wir für eine Weile nichts.
10 Kommentare zu «Take it easy»
cooler schreibstil :). irgendwann im leben möchte ich auch mal eine schaufensterpuppe und einen teppich entsorgen 🙂
grundsätzlich versuche ich mich mir ja immer zu sagen: es nützt ja nichts, sich aufzuregen, wenn etwas schiefläuft. vielleicht führte gerade das ja zu einer wendung, die besser passt als einst geplant. und tatsächlich ist das gar nicht so selten der fall! ein bisschen wie beim mühle spielen (das ich hasse): manchmal hat man figgimüli (und wer liebt das nicht)
einer meiner lieblingswitze ist ja (wird von sich allzuernstnehmenden angstellten nicht gern gehört): „wenn man lange genug wartet, erledigt sich das meiste von selbst“ hahaha. kann man immer mal wieder sehr deplatziert anbringen und sich schieflachen.
Sie sind ein echter Karrieretyp.
jaja, total! auch die erledigt sich von selbst, wenn man lang genug wartet ;-).
Das grösste Glück dieser Erde ist, dass die Zeit die meisten Probleme löst – ernüchternd, aber nicht immer zum Wohle der Menschheit.
Die Verteilung von Glück oder Pech geschieht eben nicht nach unseren subjektiven Sichtweisen, da gelten komplexere Regeln. Das Ganze nennen wir dann aus Mangel an Verständnis der Komplexität, Zufall.
Gespräche beim abentlichen Bier mit Forschern hier an der Uni verlaufen etwa so: „Von all den Vorgängen in unserem Kosmos verstehen wir Forscher bis anhin nur den winzigsten Bruchteil.“ Dies suggeriert die Erkenntnis, dass eine derartige Komplexität in ihrer Perfektion (beurteilt an diesem winzigen und bekannten Bruchteil) eigentlich gar nicht unkontrolliert entstehen konnte. Weitergespinnt heisst dies: jeder einzelne unserer Gedanken entstand nicht dank zufällig gefeuerten Neuronen, sondern als berechnetes Kalkül zur Perfektion der kosmischen Komplexität. Wir könnten lediglich dem Gedanken folgen, oder diesen ablehnen. Glück und Pech wären somit auch eindeutiges Kalkül, um uns analphabeten quasi „in Bildform“ die kosmische Sprache zu erklären, die uns bereits im Ansatz überfordert.
danke für den spannenden input!
Es gibt weder Glück noch Pech noch Zufall, sondern unendlich viele parallele Universen
In einem anderen parallelen Universum haben Sie den falschen Parkplatz bezahlt und eine Busse bekommen.
Alles was möglich ist, passiert irgendwann, irgendwo in der Unendlichkeit, da treffen dann sogar unausweichlich die parallelen Universen aufeinander.
… habe mich köstlich amüsiert!