Fremd in der eigenen Stadt

Nichts ist für immer: Jugendliche 1988 in der zwischengenutzten Alten Stadtgärtnerei in Basel. (Foto: Keystone/Jaques Gardin)
Das letzte Mal, als ich mit meiner Mutter telefonierte, sprachen wir über Basel, wo ich seit über zwanzig Jahren wohne.
Ich fragte: Hast du das neue Hochhaus gesehen, das sie am Bahnhof bauen? Ein hässlicher Klotz, findest du nicht auch?
Sie: Welches Hochhaus?
Ich: Gleich hinter dem Bahnhof. Es steht genau dort, wo ich früher im Atelier gewohnt habe, auf dem SBB-Areal.
Bevor die SBB Ende der Neunzigerjahre entschied, aus ihren Immobilienbeständen ordentlich Profit zu schlagen, konnte man in den Neunzigerjahren dort billig wohnen. Und wie auf jeder Brache blühte dort entsprechend bald eine Subkultur auf, samt einem kunterbunten Völkchen mit einem anständigen Appetit auf Musik, Bars, Ateliers, Partys und Kunstprojekte. Es war eine herrliche Zeit und sie ging schnell vorbei. Jetzt gibt es dort eine Strasse. Parkplätze. Und eben das Hochhaus.
Meine Mutter seufzte: «»Alles ändert sich.»
Ich wollte etwas Optimistisches sagen: «Ja. Aber nicht immer zum Schlechteren.»
Wenn man keinen mehr kennt…
Später dachte ich über unser Gespräch nach, vor allem den Schluss. Ältere Menschen verklären gern die Vergangenheit und sind Neuem gegenüber kritisch eingestellt. Sie kennen sicher diese Gespräche: Wie viel besser früher alles war und wie heute alles schnelllebig, oberflächlich, unverbindlich ist. Ich weise dann jeweils gern auf die vielen Vorteile des Fortschritts hin. Denn natürlich bringt zum Beispiel die Digitalisierung Probleme für viele Menschen. Und natürlich kann man sich Sorgen machen, wie sehr wir von unseren Smartphones abhängig sind. Doch umgekehrt haben Digitalisierung und Smartphone das Leben sehr vieler Menschen auch sehr viel einfacher gemacht. Ermöglichen neue und andere Erfahrungen. Wir sehen sie einfach nicht mehr, weil wir uns sofort daran gewöhnt haben.
Doch selbst dort, wo der Fortschritt beziehungsweise die Weiterentwicklung unverkennbar ist, macht er den Menschen Mühe. Ein Freund erzählte mir, wenn er durch Zürich spaziere, gebe es manchmal diese Momente, in denen er sich fremd fühlt. Früher war er an all diesen Orten zu Hause, kannte die Menschen, die da verkehrten; konnte einfach auftauchen und kannte jemanden. Heute nicht mehr. An seinen alten Hang-Outs verkehren nicht mehr seine Kumpel, sondern junge Menschen, von denen er niemanden mehr kennt. Und überhaupt verändert sich die Stadt laufend: Gebäude werden abgerissen, neue Quartiere entstehen. «Manchmal fühle ich mich fremd in meiner eigenen Stadt!», sagte er.
Im Bewusstsein der Endlichkeit
Aber ist das schlimm? Ich erlebte es umgekehrt: ich war jahrelang nicht mehr in der Stadt unterwegs, weil ich kleine Kinder zu Hause und einen Job in Zürich hatte und den Rest der Zeit erschöpft war. Als ich dann nach ein paar Jahren wieder durch Basel schlenderte, entdeckte ich so viele neue Kaffees, Menschen in der Stadt, die ich nicht kenne, alles neu und aufregend zu entdecken! Können Veränderungen nicht auch aufregend, inspirierend sein?
Kann nicht das Bewusstsein der Endlichkeit auch eine ganz spezielle Stimmung wecken? Als ich noch in der alternativen Szene unterwegs war, blutete mir jedes Mal das Herz, wenn ein Zwischennutzungsprojekt zu Ende ging. Ich fand es skandalös und kurzsichtig, wenn der Profitgier alles geopfert wird. Heute denke ich, dass die Zwischennutzungsprojekte nur deshalb so besonders waren, weil sie eben zeitlich begrenzt waren. Dass dieses Bewusstsein erst die besondere Stimmung zu erzeugen vermochte. Dass die Leute deshalb so viel Herzblut investierten, weil sie es eben nicht für den Profit machten. Sondern für den Moment.
Vielleicht waren wir einfach auch nur jung und sind es heute nicht mehr. Oder nicht mehr so sehr. Aber so lange man noch daran glaubt, dass die Dinge sich auch zum Besseren verändern, hat man seine Jugend noch nicht ganz verloren.
22 Kommentare zu «Fremd in der eigenen Stadt»
Ich dachte immer, das geht nur mir so, weil ich über 10 Jahre im Ausland war.
Aber offensichtlich ist das nicht so.
Aber ja, anstatt dem Alten nachzutrauern, kann man es als wertvolle Erinnerung in sich bewahren und nun das Neue entdecken.
Guter Text
mir gehts schon so, wenn ich jeweils eine woche verreise :). kaum schaut man weg, hat es neue häuser, und ich weiss nicht mehr was da vorher stand.
wenn ich zusehe beim verschwinden tuts weh, aber irgendwann später realisiere ich, dass ich mich über die dort neu entstandenen freue. ausser über all diese hochglanz glitzer fassaden ohne merkmale, die finde ich allesamt grauenhaft. sprich so ziemlich alles, was den gleisen entlang bis ins argau hingeklotzt wird
Gotthelf wusst, das Veränderung an sich negativ ist, aber die Schweiz ist hinter den Bergen gut geschützt vor solchen:
„Aus den Fenstern sieht man die Berge, die stolz Trotz bieten, dem Wandel der Menschen, dem Wandel der Zeiten“
Friedrich Engels, weniger euphemisch:
“ Endlich also hat es sich herausgestellt, daß die Wiege der Freiheit nichts anders ist als das Zentrum der Barbarei und die Pflanzschule der Jesuiten, daß die Enkel Tells und Winkelrieds durch keine andern Gründe zur Raison zu bringen sind als durch Kanonenkugeln, daß die Tapferkeit von Sempach und Murten nichts anders war als die Verzweiflung brutaler und bigotter Bergstämme, die sich störrisch gegen die Zivilisation und den Fortschritt stemmen!“
(Man könnte meinen Engels schreibe über die Taliban)
Liebe Frau Binswanger, machen Sie doch mal eine Strichliste, an wieviel gute und an wieviel schlechte Dinge Sie sich spontan in Ihrem Leben noch erinnern können. Und ich garantiere Ihnen, das die Striche auf der guten Seite überwiegen werden.
Es hat wenig mit dem Älterwerden zu tun, das man die vergangenen Zeiten positiv in Erinnerung hat – sondern es ist ein Schutzmechanismus des Gehirns, das es die schlechten Dinge tiefer vergräbt, als die guten. Und somit häufen sich die Guten, was letztendlich zu einem positiven Vergangeheitsbild führt.
Und mit 60+ erlaube ich mir zu sagen, das sich die Welt früher nicht so schnell drehte und auch die Schwächeren unter uns noch eine Chance hatten, mitzukommen. Bestes Beispiel – Sender auf dem Fernseher sortieren, versuchen Sie das mal !
„… und auch die Schwächeren unter uns noch eine Chance hatten“ – hatten Sie noch nie Geschichtsunterricht in der Schule? Noch nie davon gehört, dass es beinahe ununterbrochen Kriege gegeben hat in Europa, massive Ausbeutung (vor allem) von Frauen und Kindern, kaum individuelle Freiheiten? Dass der Einzelne bis Ende des 18. Jahrhunderts absolut entrechtet war? Bereits vergessen, dass es zwei Weltkriege gegeben hat vor nicht allzu langer Zeit mit Abermillionen von Toten? Sorry, aber was Sie da schreiben, ist absolut realitätsfremd! Sie haben wohl nicht die geringste Ahnung, wie priviligert Sie sind!
Die mis-Gentrifizierung der autochronen Bevölkerung nimmt in manchen Stadtteilen Ihren Lauf. Subjektive Empfindungen und ein nicht mehr teilnehmen können an den Gesprächen der neuzugezogenen, obwohl ich immerhin 5 Sprachen gut bis leidlich verstehe, lässt einem der alten Situation nachtrauern. Dies ist traurig.
Dann freunden Sie sich mit den Fremden an, dann sind Ihnen diese nicht mehr fremd. Noch besser: sie gehen über die Grenze zu den Fremden, kommen zurück und lernen die Schweiz neu kennen. Oh ja, wie konnte ich das vergessen, in den Ferien ist man ja gerne unter den Fremden.
liebe nina, bitte nicht so zynisch. was sven da beschreibt ist ein zutiefst schmerzhafter prozess. ich lebe bald 16 jahre am gleichen ort, und schon lange ist niemand mehr da, den ich mal gekannt habe. als ich vor 16 jahren kam, waren die menschen noch offen – heute kommen nur noch arrogante neu-zuzüger, die sich nicht mal die mühe machen, übern den balkon zurück zu grüssen! nein, es sind keine ausländer, keine fremden im eigentlichen sinne, sondern einheimische. es sind generationen erwachsen geworden, die egoistisches arrogantes verhalten schon als kinder beigerbacht bekamen, als plötzlich uncool wurde, kinder zu erziehen (generation: anti-autoritär) und ihnen beizubringen, dass sie nicht der nabel der welt sind.
Ja, Simone, solches ist sehr emotional treffend. In den Städten leider ausgeprägter als auf dem Land bzw. im Bergdorf. Dort wissen aber die Nachbarn einfach alles. Wann Sie wo sind, welche Zeitung sie lesen oder wieviele Weinflaschen man entsorgt.
Danke. Nein, es sind nicht die Fremden sondern die verwöhnten und egomanen Einheimischen, die uns befremden und einsam machen. Gerade wieder heute erfahren. Ich traf eine alte Frau in der kleinen Stadt, die zusammen mit einem etwa 10 Jährigen Jungen ein bestimmtes Altersheim suchte. Der Knabe fragte mich danach. Seiner durchaus korrekten Sprache nach ein Einwandererkind. Später traf ich die Frau wieder alleine und sprach sie unnötigerweise auf Schriftdeutsch an. Nein , sagte sie, der Junge gehöre nicht zu ihr. Sie habe auf der Strasse drei Menschen erfolglos nach dem Altersheim gefragt, schliesslich dann auch die Mutter des Kindes, und diese habe ihr den Jungen mitgeschickt, um sie dorthin zu führen.
Der historische Blick lässt keine Zweifel aufkommen: Nostalgie ist absolut fehl am Platz! Für das Gros der Menschen auf unserem Kontinent sind die vergangenen Jahrhunderte bei weitem schlimmer gewesen als die Gegenwart. Oft geradezu höllisch. Ich persönlich (58), obwohl mit einem äusserst kritischen Geist versehen und keineswegs patriotisch gesinnt, bin äusserst dankbar, in dieser Zeit und in diesem Land zu leben. Und insbesondere bin ich dankbar dafür, dass es, als ich noch Kind war, eine 68er-Bewegung gegeben hat, ohne die ganz viele Freiheiten, die wir inzwischen für selbstverständlich halten und ich persönlich enorm schätze, gar nicht geben würde.
Was mir vielleicht weniger gefällt „heute“ gegenüber „früher“, und mit „heute“ meine ich die letzten 10-15 Jahre, mit „früher“ die 60er- und 70er-Jahre, ist das, was man m. E. als „Biedermeier-Revival“ bezeichnen könnte – ein wieder Auflammen konservativen, kleinbürgerlichen Denkens: Wir sind fast alle sehr brav inzwischen, oft auch sehr spiessig, sehr schnell entrüstet etwa beim Anblick einer Milo Moiré, hält man die online-Kommentare darüber für repräsentativ … und damit habe ich schon etwas Mühe …
online Kommentare sind nicht repräsentativ
der rechte Wutbürger ist überproportional vertreten.
Lässt psychologisch tief blicken.
Aber sie täuschen sich. Heute können Sie tätowiert sein, als Hobby an der Stange tanzen. In der Street-Parade im SM-Kostüm rumlaufen. Das alles wäre in den 60er 70er ein Skandal gewesen.
Diese Zeiten waren überhaupt nicht so locker, wie man sie heute hochstilisiert. Der Langhaarige und Haschbruder und sowieso, wer nicht beim Militär mitgemacht hat…. von Homosexuellen gar nicht zu reden.
Nein, nein, nein – wir sind heute viel Toleranter. Deshalb ist es einfach entspannter, das muss aber nicht spiessig sein.
(Klar finde ich es auch bedenklich, dass man wieder Schlager hört…. aber was solls, es gibt schlimmeres.)
xy, tätowiert sein, an der stange tanzen und im sm kostüm an die streetparade: das IST bieder :). heute. bieder bezeichnet doch dieses unauffällige in der masse mitlaufen
„Elternlose“ Gebäude/öffentliche Räume/Infrastruktur sind wahrscheinlich das grösste Problem unserer zeitgenössischen, gebauten Umwelt. Würde das Hochhaus hinter dem Bahnhof in Basel von seinen Insassen finanziert und erbaut, würde man sich auf die neue Sub-Kultur wahrscheinlich freuen und wäre gespannt auf ihre Entwicklung – ähnlich wie bei „Zwischennutzungen,“ wo Menschen gewisse Räume beschlagnahmen und ihnen einen persönlichen Charakter verleihen. In den USA sind wir noch weiter: Fast jedes Kaffee/ Restaurant/Einkaufsmöglichkeit ist eine Kette im Besitz anonymer Investoren: Private Unternehmungen sind oft in kleineren Stätdten unauffindbar, Klon-Häuser hausen temporäre Bewohner und Anonymität ist omnipräsent. Das Problem offensichtlich.. doch Lösungen sind noch keine in Sicht….
Das positive heute in meiner Grossstadt sind die vielen Terrassen die es früher nicht gab. Hingegen gibt es nun Gewalt, Angst, die wir früher nicht kannten. Auch haben wir viel mehr Polizisten welche früher nicht nötig war. Heute gibt es die Drogensüchtigen und die Dealers. Tagsüber gefallt mir also die Stadt besser, aber am Abend gehe ich nicht gerne aus.
„Heute gibt es die Drogensüchtigen und die Dealers.“ Platzspitz und Letten schon vergessen?
Also gerade punkto Drogen hat sich doch enorm viel verbessert, von den offenen Drogenszenen der 80er sind wir heute meilenweit entfernt. Aber das wird im selektiven Gedächtnis dann immer ausgeblendet und eine positive Entwicklung ins Gegenteil verkehrt.
Dass es mehr Gewalt gäbe, ist auch eher ein Mythos, zumindest die Kriminalstatistiken geben das keineswegs her. Zumal auch hier wieder die Frage ist, was denn der Referenzzeitraum ist. Gerade punkto Gewalt muss man da schon sehr selektiv wählen um einen Anstieg behaupten zu können da wird im grösseren historischen Kontext gesehen in einer noch fast einzigartig friedlichen und sicheren Periode leben..
@Bögli: Finden Sie? Gut, es gibt heute Gassenzimmer für die Junkies, aber die Leute sind immer noch drogenabhängig und es sterben pro Jahr immer noch 120 Personen an Heroinmissbrauch. Nur weil man es nicht mehr so sieht, ist das Elend aber noch nicht verschwunden. Komischerweise wollen jetzt einige Parteien alle Drogen legalisieren und die ausländischen Drogendealer werden dank den Linken (es wäre ja gegen die Menschenrechte!) immer noch nicht abgeschoben.
Bisschen kurzgedachte Verbindung, hm?
Entweder, oder!
Wer am Stricktesten gegen die Legalisierung von Drogen ist, sind die Dealer.
Wer das nicht begreift, muss das Wirtschaftsverständnis eines Kommunisten haben. Denn der Verkauf für die Dealer lohnt sich eben nur durch das Monopol auf diesen Verkauf und die enormen Marge, die dadurch erzielt werden kann.
Die jüngste – schlimmste – Opiatepidemie in Amerika beweist zudem, dass Sucht durchaus auch von legalen Dealern verursacht werden kann: Ärzte, die entsprechende Medikamente völlig frei verschreiben können.
Fazit: Mit dem blossen Nachplappern von Phrasen ist nur klar, dass man sich mit der Thematik nicht auskennt.
Und davon abgesehen (und jenseits des Grundproblems):
Klar, sollten Dealer abgeschoben werden!
Ist Frau Kiani eigentlich sang- und klanglos ausgeschieden, tztztz! Oder habe ich da gar etwas verpasst?
Hoffentlich.