Es einfach mal sein lassen
Gestern war mal wieder so ein Tag. Rechtsradikale überfallen Chemnitz, ein zutiefst schockierendes Ereignis, entsprechend gewaltig ist der Sturm, der in den sozialen Medien losbricht. Letzte Woche war es der Hashtag #Allmenaretrash, der mich umtrieb. Und davor irgendeine andere Diskussion. Wie immer, wenn man auf Twitter herumsurft, möchte man sich da und dort einschalten und seinen eigenen Meinungssenf in die Sauce drücken. Man reagiert auf Statements, weil man zustimmt oder eben nicht, möchte eine andere Perspektive anbringen, sieht einen Logik- oder Denkfehler, muss ganz einfach Dampf ablassen.
Schon hatte ich das Handy in den Fingern, schon einen Kommentar getippt. Und dann löschte ich ihn wieder. Weil: Man kann es ja auch einfach mal sein lassen.
Von Twitterkompetenz bis Kindererziehung
Und wie oft, wenn man einfach mal etwas sein lässt, was man sonst tun würde, ohne viel darüber nachzudenken, war es die bessere Entscheidung. So ging es mir auch schon in den vergangenen Wochen und Monaten. Immer wieder stolperte ich über Themen und Diskussionen, wollte mich beteiligen und beschloss dann, es einfach mal sein zu lassen. Weil es oft die bessere Entscheidung ist.
Es ist ein Lernprozess, den ich auch anderswo anzuwenden versuche. Zum Beispiel in der Kindererziehung: Manche Konflikte laufen nach dem immer gleichen Muster ab. Jeder hat seine Rolle, der Dialog wird wie nach dem Willen einer unsichtbaren Regie abgespult, zuverlässig landet man beim immer gleichen Resultat. Es sei denn, einer der beiden lässt es einfach mal sein. Lässt die Provokation unbeantwortet, gibt dem Ärger keinen Raum, sich zu entfalten, sondern jagt ihn in seinen Käfig zurück, bis er sich beruhigt hat. Und meistens ist es die bessere Entscheidung.
Die hohe Kunst der paradoxen Intervention
In der Psychologie gibt es den Ausdruck der «paradoxen Intervention». Als Lehrbeispiel erzählte mir meine Mutter, eine Kinderpsychiaterin, folgende Geschichte: Ein Bauer will sein Pferd in den Stall bringen. Doch dieses weigert sich partout und stemmt die Vorderhufe in den Boden. Also bittet der Bauer seinen Sohn, ihm zu helfen, das Pferd am Halfter zu ziehen. Doch der Sohn geht nicht zum Kopf des Pferdes, sondern zu seinem Hinterteil und zieht es am Schwanz, worauf das Pferd einen gewaltigen Satz macht – und im Stall ist.
Paradoxe Interventionen zu meistern, ist eine hohe Kunst – und sicherlich ist nicht jedem gegeben, im richtigen Moment mit einer gezielten Handlung das gewünschte Resultat zu erreichen. Noch schwieriger ist es, die eigenen eingespielten Verhaltensmuster zu durchbrechen. Wenn die Affekte aufflackern, macht sich der für die Impulskontrolle zuständige präfrontale Kortex gern zum Komplizen, behauptet, es sei ganz, ganz wichtig, sich hier zu Wort zu melden. Es gehe um Autorität, darum ein Zeichen zu setzen, der Welt zu beweisen, dass man recht hat. Denn darum geht es ja meistens: recht haben zu wollen.
Nur leider bekommt man ja nie einfach recht, im Gegenteil. Meistens kommt der nächste Kommentar und der nächste Affekt, bis man sich völlig entnervt aus der Diskussion verabschiedet und sich schwört, das mit den sozialen Medien künftig sein zu lassen. Aber man kann ja auch einfach mal die Schnauze halten, einfach mal anders reagieren, einfach mal abwarten. Das sollten wir alle viel öfter tun. Und die sozialen Medien sind dafür ein perfektes Trainingsgelände.
24 Kommentare zu «Es einfach mal sein lassen»
Man sollte sich aussprechen aber nachher ein wenig Zeit vergehen lassen. Es gibt einfach Leute welche nicht konstruktiv denken, die werden niemals verstehen dass man doch versöhnlich sein will/wollte. Da hilft nichts. Das sieht man in der Familie, im Beruf, überall. Offen und aufgeschlossen zu sein ist nicht jedermann’s sache.
NB : soziale medien sind oft auch da um sich „loszulassen“. Leider ! Es braucht eben was um die Nerven zu beruhigen ! Kommt bei mir auch vor, aber selten.
Paradoxe Interventionen sind Alltag in allen Medien. Je schlechter die Medien einen Trump schreiben, scheinbar völlig zu Recht, je höher die Wahrscheinlichkeit seiner Wiederwahl. Die bundesdeutsche AfD hätte nicht die Hälfte ihrer Wähler, würden die Medien nicht mit Schlechtschreiben Dauerwahlkampf für die betrieben.
@Ralf Schrader
Ihrer Meinung nach ist also die Wiederwahl Trumps und die Erstarkung der AfD ein Ziel vieler Medien?
Nein, die Medien befördern das, ohne es zu wollen. Medien wollen nur zur Kenntnis genommen werden und damit Geld verdienen. Sonst wäre das kein Beispiel für paradoxe Intervention.
@Ralf Schrader; @Röschu: paradoxe Intervention wäre doch in Ihrem Beispiel eher, die Weltmedien würden es NICHT mehr zum Thema machen. Hm.
No fakes news, only good news 🙂
Konnte noch nie verstehen warum manche sich wegen alles und jedem streiten als ob es ums Überleben ginge. Vor allem zwischen Paaren und Eltern und Kindern. Manchmal scheint mir jeder Respekt vor dem anderen (den man ja doch angeblich liebt) ist dort nicht vorhanden. Meistens halten diese Beziehungen nicht lange oder bei Vorhandensein von Kindern nur noch aus äusserem Zwang. Könnte so nicht leben.
Man muss doch auch wissen wie der andere so funktioniert speziell wenn man schon was zusammen ist und kann sich anpassen an die jeweiligen Marotten die ja jeder hat.
Nun ja…nach aussen hin lästern die Leute über Trump, selber verhalten sie sich aber keinen Zentimeter anders. Heuchelei und Scheinheiligkeit nennt man das 🙂
@ P : Ich bin auch ihrere Meinung : wo keinen Respekt ist ist auch keine wahre Liebe.
Hervorragender input! Bin sonst ein kritischer M Binswanger leser aber das hier ist der nagel voll auf den kopf getroffen!
Ah, sie hat es meistens voll drauf. Auch hier.
Schon einen Fanclub gegründet ?
Leider ist es ein Phänomen unserer Zeit, dass Panikmache und Aktionismus weit höher gewichtet werden als wohlüberlegtes, geduldiges Handeln.
Und wieder so ein Text, der mein Herz erfreut! Danke, Frau B!
Kann jede Zeile unterstreichen – es gibt soviele Gelegenheiten, bei denen ich mich aufrege, schon wieder einen zynischen oder verletzenden Kommentar abfasse. Ab und zu gelingt es mir, dann aber einen Schritt zurückzutreten und mir selber das zu sagen, was ich sonst gerne anderen sagen will: halt doch einfach mal die Klappe!
Sie laufen zu Hochform auf. Intelligent und geerdet. Besten Dank.
„Es einfach mal sein lassen“ kann man manches, aber nie und nimmer alles. Von 1933 bis es zu spät war, haben es viel zu viele „einfach mal sein lassen“.
Man sollte sein lassen, was man nicht ändern kann. Oder anders gesagt, man soll nur die Kriege führen, die man gewinnen kann, mit den Mitteln, die geeignet sind einen Erfolg herbeizuführen.
Diese „paradoxe Intervention“ ist ein Weg, ein Mittel, sich durchzusetzen, ein intervenieren, eingreifen, das Gegenteil von „es einfach mal sein lassen“.
ich glaube, Sie haben den Text nicht verstanden.
Es geht um die Trollereien im Netz.
Wir tun jedem Troll einen Gefallen, wenn wir mit ihm diskutieren.
Denn diese Leute werden eh nicht auf Argumente hören, sondern sie wollen Aufmerksamkeit. Und je heftiger die Diskussion je höher die Aufmerksamkeit.
Darum geht es. Und die Stimmung, dass wir kurz vor dem Untergang stehen, unterstützt ebenfalls die Leute, die sich 1933 zurückwünschen. Extreme Ideologien nähren sich immer von einer Weltuntergangsstimmung.
@Anh Toan
„Von 1933 bis es zu spät war, haben es viel zu viele „einfach mal sein lassen“. “
Es gab in dieser Zeit aber auch sehr viele, die es besser „einfach mal hätten sein lassen“, anstatt die NSDAP zu unterstützen.
Da hat der Bauerssohn aber Schwein gehabt. im Normalfall wäre das doch ein Hufabdruck in seinem gesicht oder der Brust geworden. Ich erinnere mich an jemanden, der so eine Kuh aus einem brennenden Stall ziehen wollte. Die Kuh entpuppte sich als zertifizierter Fluglehrer.
Könnte mich nach der Stallanekdote nicht mehr bis zum Schluss konzentrieren… Sohn zieht das Pferd am Schwanz zurück – Pferd macht Satz nach vorne in den Stall? logikfehler, lokigfehler! Und autsch.
Und ja, man sollte es wirklich mal sein lassen. mit dem Senf dazugeben, mit dem digital abreagieren und am besten mit sozialen Medien.
„Denn darum geht es ja meistens: recht haben zu wollen.“ Das finde ich nicht, oder es sollte zumindest nicht das Ziel sein. Vielmehr: ein Thema von verschiedenen Seiten beleuchten, Denkanstösse geben, den Horizont (den eigenen und den anderer) erweitern, die Welt besser zu verstehen versuchen, Blasendenken überwinden, gute Argumente suchen und gute Gegenargumente als Chance zum Lernen verstehen, geistige Beweglichkeit trainieren. Im englischsprachigen Raum boomen Podcasts mit „long form conversations“, in welchen die Diskutierenden einem Thema auf den Grund gehen wollen anstatt sich vorgefertigte Meinungen an den Kopf zu werfen. Eine gute Entwicklung.
Natürlich sollte es nicht darum gehen, recht haben zu wollen. Aber leider herrscht hier zwischen Anspruch und Wirklichkeit ein riesiger Graben – und social media, die in wenig Zeichen oder Fotos Botschaften vermitteln, die oft genug nicht Meinung, sondern Meinungsmache sind, tragen wesentlich dazu bei, dass wir alle nicht mehr unterscheiden können zwischen einer Nachricht, einer Meinung und/oder Manipulation. Die Fähigkeit, zwischen Ueberbringer und Nachricht zu unterscheiden, kommt uns immer mehr abhanden, wenn wir überfrachtet werden von Push-Nachrichten, Twitter, FB und allen möglichen Medien, die in Kurzform Informationen als Fakten ausgeben bzw von unserem Gehirn als Fakten aufgenommen werden. Für meine Begriffe ist ein Rückzug davon extrem wichtig.
Danke, Sie haben mir heute geholfen. Ich werde es mir „hinter die Ohren“ schreiben.
Es ist doch so – ob man in einem Blog etwas schreibt (es muss dann ja noch die interne Zensur bestehen) oder nicht, wem oder was nützt es ? Doch eigentlich nur der eigenen Selbstbefriedigung – ich hab mal was gesagt ! Eine grössere Aussenwirkung hat das nicht.
Man weiss ja auch nicht, wer hinter diesen ganzen Schreiberlingen hockt. Sind es echte Menschen ? Bezahlte Schreiberlinge des Bloggers ? Ist die KI mittlerweisen schon soweit, in Bloggs zu schreiben ?
Deswegen, wenn Euch was am Herzen liegt, geht raus, geht in Diskussionsrunden, sprecht mit Menschen, werdet aktiv.
Ich habe mir jetzt auch überlegt, ob ich einen Kommentar schreiben soll oder nicht. (hö, hö) Ich kann Ihren Standpunkt gut nachvollziehen. Es ist auch im „echten“ Leben so. Soll ich mich mit jedem/-R auf ein Grundsatzdiskussion einlassen? Aber ich habe mir angewöhnt zu schweigen. Es ist besser. Man spart unheimlich viel „Energie“ oder Nerven. Das Problem: Wenn man nichts sagt, bekommen die falschen Leute Auftrieb und setzen sich durch, weil niemand mit Fakten dagegen hält. So geschehen bei der Energiestrategie 2050. Man sollte sich also die Themen aussuchen, wo man sich einbringen möchte.