Samstagabend, 22.55 Uhr

Freiwillig daheim: Plötzlich ist es geil, nicht den Fernseher einzuschalten, keine Musik zu hören. Foto: Victoria Borodinova (Pexels)
Es ist Samstagabend, 22.55 Uhr, ich sitze auf einem dick gepolsterten Ledersessel, die Beine hochgelegt, neben mir ein Glas Wasser, auf dem Schoss mein Laptop, ich gähne. Samstagabend also. Früher waren mir diese Stunden heilig. Wahrscheinlich waren sie sogar der Sinn meines Lebens.
Pünktlich zum 15. Geburtstag ging es los, dass es an Samstagnachmittagen plötzlich unglaublich viel zu organisieren gab. Je später der Nachmittag, desto häufiger klingelten im Dorf die Telefone: Wer muss seine Eltern noch überreden? Brauchts gefälschte Schülerausweise? Welchen Bus nehmen wir? Lieber P-Club, N-Pir, Zapata oder Zollamt? Vorher noch zu H&M? Haare offen, Haare zu? Wer zieht alles hohe Schuhe an? Und am allerwichtigsten: Wo kriegen wir Alk für die Busfahrt her?
Als wir endlich im Sog der Nacht angekommen waren, stand die Zeit für viele Stunden still. Bar, Tanzfläche, Bar, Tanzfläche. Kurz mal an die frische Luft, wieder Tanzfläche. Knutschen, nachpudern. Wo ist Jana? Jana suchen. Noch ein Shot mit … wie heisst du eigentlich?
Das Aufstehen am Sonntag war hart. Einmal habe ich morgens neben meinem Bett zwei Kaugummis entdeckt, die ich offenbar mit dem restlichen Inhalt meines Magens ausgekotzt hatte. Apropos Kotzen: Ein anderes Mal kotzte ich beim Heimkommen gegen die Haustür. Oder, oh, meinem Ex-Freund, dem ich feierlich verkünden wollte, dass ich ihm doch noch mal eine Chance gebe, auf die Schuhe. Auch ein unvergesslicher Anblick: Mamas formvollendete, handgeschabte Käsespätzle auf einem Bartresen.
Bock auf ein langweiliges Leben
Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass ich irgendwann samstagabends um 22.55 Uhr freiwillig zu Hause sitzen und gähnen werde. Dasselbe mit Musik: Jedes Mal waren mir meine Eltern ein Rätsel, wenn sie im Auto darauf beharrten, das Radio doch auch mal auszulassen, denn Stille sei auch mal schön. Keinen Zentimeter habe ich mich ohne Dauerbeschallung fortbewegt. Sogar während der Hausaufgaben rappte mir Eminem wütend seine Rhymes ins Ohr.
Immer wieder habe ich mich gefragt, wieso Erwachsene so ein langweiliges Leben führen. Die müssen das bestimmt, diese armseligen, innerlich längst toten Wesen, dachte ich mir dann. Denn das Leben als Erwachsener ist offenbar so scheissanstrengend, dass kein Platz mehr für Spass bleibt. Heute weiss ich: Erwachsene wollen das so. Sie haben allen Ernstes Bock drauf, ein langweiliges Leben zu führen.
Plötzlich ist es nämlich wirklich geil, Möbelhäuser zu besuchen, Wandern zu gehen, Marmelade zu kochen, nicht den Fernseher einzuschalten, keine Musik zu hören. Und sie finden es tatsächlich grossartig, an einem Samstagabend zu einer stinklangweiligen Uhrzeit die Zähne zu putzen, während draussen die Partypeople grölen, und sie denken sich dann zufrieden: Morgen ist auch noch ein Tag. In diesem Sinne: gute Nacht!
27 Kommentare zu «Samstagabend, 22.55 Uhr»
Inzwischen liebe ich die Ruhe, die Stille über alles. Angefangen hat alles vor ca. dreissig Jahren, als ich mich um des Friedens willen von einem Freund überreden liess, einmal mit ihm ein Zürcher Dojo zu besuchen. Man stelle sich vor: Man sitzt da auf einem Kissen (mit Bein- und Rückenschmerzen wegen der ungewohnten Sitzhaltung) eine gute halbe Stunde lang, und nach fünf oder zehn MInuten Geh-Meditation setzt man sich aufs Kissen für eine weitere halbe Stunde. Usw. Absolute Langeweile, eine Qual sogar für einen Rastlosen wie mich. Und doch völlig wider Erwarten hat mich die Zen-Meditation gepackt, nie mehr losgelassen, mich selbst nach und nach von Grund auf verändert, aus mir einen äusserst „langweiligen“, aber auch in sich ruhenden Mann gemacht …
Was will der Text jetzt aussagen? Dass das Leben nicht mehr länger mit 40 vorbei ist, sondern schon mit… 22?
Ich habe schon als Sechzehnjährige nicht verstanden, wieso die sich einreden, dieses Gesaufe, Gegröle und Gekotze (und anderes mehr) mache ihnen furchtbar viel Spass. Ich für meinen Teil empfand es jedenfalls nie für erstrebenswert, am nächsten Morgen als Zombie mit belegter Zunge und noch halb zugedröhnt aufzuwachen und womöglich nicht einmal mehr recht zu wissen, was am Abend vorher sonst noch alles abgelaufen ist.
Zwischen Komasaufen im Ausgang und Fernsehschlafen zu Hause gibt es noch einen Mittelweg, und der macht schon Spass.
Extroverts in a nutshell.
Solche Befindlichkeitsstörungen hatte ich auch schon. Ich meine, auf beide Arten. Das nennt man neudeutsch auch „work-life balance“. Der Hausarzt sprach auch von „vegetativer Dystonie“, und schickte mich zum Internisten. Der runzelte die Stirn und sprach von „paroxismalen Attacken struktureller Adoleszenzen“. Dagegen hilft die Relativität der Zeit. Sprach von Einstein, heissen Girls auf weichen Knien – und heissen, glühenden Herdplatten. Der Kurpfuscher meines Vertrauens verordnete mir hochpotenzierte Homöopathie: D100- er Globuli knallrot – forte compositum. Nach ca. 5 Jahren verschwanden die Symptome. Spurlos.
Auf mich macht dieser Beitrag keinen sehr erwachsenen Eindruck. Wenn Sie als Jugendliche sich tatsächlich immer wieder volllaufen liessen bis Sie kotzen mussten, dann stehen dahinter tiefere Probleme. Alkohol und Drogen und feiern bis die Wolken wieder lila sind, geht auch ohne regelmässigen Filmrisse und bis zum Erbrechen.
Ihr neues zelebrieren der Langeweile ist vielleicht gar nicht so ein krasser Wechsel, wie er von aussen aussieht. Denn ist es nicht langweilig, wenn man so viel Alkohol trinken muss, bis man kotzt, um „feiern“ zu können?
Vielleicht ist es einfach nicht ihr Ding. Aber erwachsen wäre meiner Meinung nach, dass man gelernt hat zu Feiern ohne Exzesse. Geniessen geht nur gesundem Mass. Das ist erwachsen.
Abder da widerlegen Sie sich selber, wenn Sie schreiben, das man gelernt hat, das Feiern auch ohne Exzesse funktioniert. Das kann man erst lernen, wenn man mal mit Exzessen gefeiert hat und dann feststellte, das es einem am nächsten Tag sauschlecht geht.
An Parties trinkt man Alkohol, um die Party zu ertragen. Ohne Alkohol hält man diese skurrile Form des Zusammenseins nicht aus.
Die Kunst des Bierbrauens ist im Mesolithikum entstanden, um Zusammentreffen verschiedener Sippen, die sich treffen mussten, um notwendige Absprachen zu treffen, z.B. Heiratsverabredungen, überhaupt möglich zu machen. Ohne Bier wäre da keiner hingegangen.
Ohne Alkohol und Drogen gäbe es keine Sozialisation und keine Ehen.
Nein überhaupt nicht. Ihre Logik ist für mich nciht nachvollziehbar oder sie haben mich offenbar völlig missverstanden.
1. gibt es viele Menschen, die Feiern nie mit Exzess verbunden haben und trotzdem gerne feiern
und
2. gibt viele Menschen, die auch 3-4 mal kotzen mussten, aber dann lernten, wo sinnvolle Grenzen liegen.
Die dritte Kategorie hingegen, die dauernd abstürzt, ist nicht am Feiern (sie meint das nur), sondern sie ist in Wahrheit am Verdrängen, Fliehen o.ä.
D’accord. So nach meiner ca. 3. Wiedergeburt, so aus dem Nirvana zurück, (wo ist Kurt?) – merkte ich das auch. Die Evolution lernt einen – nach ‚trial and error‘.
Und Not – macht erfinderisch …
In jedem Lebensabschnitt gibt es Lohnenswertes und Vermeidbares. Meistens entscheidet man sich für Beides. Wichtig ist nur, dass man nichts bereut. Auch dann nicht, wenn man gar nicht anders konnte, buchstäblich nicht!
wieso ist dir das so wichtig? ich habe eine menge zu bereuen, aber das heisst ja nicht, dass ich mein leben schlecht finde. vielleicht bin ich einfach ein bisschen ehrlicher zu mir
Ich bereue buchstäblich nichts, Tina. Nicht, dass ich eine Familie gegründet habe, nicht meine Berufswahl, nicht, dass ich viele Feste gefeiert habe, so wie sie fielen, meine Motorenträume verwirklicht habe, viel gereist bin, Freundschaften geschlossen und wieder aufgekündet- viele Bücher gelesen-, viel geschrieben und mich politisch engagiert habe, usw.
Seit einem Jahr weiss ich allerdings etwas, was ich vorher nie bei mir vermutet hätte. Das hat meine Perspektive auf mich und mein Leben allerdings nur vorübergehend eingetrübt. Deshalb auch der Schlusssatz „Auch dann nicht, wenn man gar nicht anders konnte, buchstäblich nicht!“
also den ganzen ersten absatz können wohl so ziemlich alle auf sich anwenden. es gibt wohl kaum einen, der es bereut, bücher gelesen zu haben, familie und freunde zu haben, gereist zu sein usw.
aber ich sehe, dein beitrag hatte mit deinem geheimnisvollen 2. absatz zutun, und das wollte ich ja wissen. ich würde mal behaupten, 90% der leser ziehen den selben schluss 🙂 gratuliere!
(mich hat eben gestört, dass es so ultimativ und allgemeingültig klang.)
Dieser „geheimnisvolle 2. Absatz“ hat mich der Fähigkeit beraubt, im Rückblick überhaupt noch etwas bereuen zu können: Denn ich konnte gar nicht anders, selbst wenn ich gewollt hätte.
Was könnte man denn in seinem Leben noch bereuen, ich meine, ausserhalb von Freizeit, Jugend, Beruf und Familie? Viel bleibt da ja nicht mehr übrig.
bereut werden wohl eher einzelne entscheidungen und nicht ganze lebensabschnitte, meinst du nicht? und man bereut wohl seltener unter tränen und während schlaflosen nächten, sondern eher so „ach hätte ich doch damals nur xy, dann könnte ich ja jetzt vielleicht eher yz…“
ja ich habe auch gelesen, dass geheimnisse einen mann interessanter machen ;-). nein im ernst: es ist offenbar sehr bedeutungsvoll für dich, und eben darum gratulierte ich dir, und das war echt gemeint, dass du dich damit arrangiert hast
Der klassische Ü50er, ist bereits um 16:00 komplett verladen, ab 20.00 Uhr geht gar nichts mehr.
Na, dann musst Du aber noch schwer etwas an Deiner Kondition arbeiten, damit Du bei uns 60+ mitmachen kannst.
Ein guter Beweis, das alles seine Zeit hat. Ist man jung, erobert man die Welt. Ist man älter, hat man durch seine jungen Jahre gelernt, was einem persönlich wichtig ist und was nicht. Ist man 60+ lernt man die Gesundheit zu schätzen, das man solange wie möglich noch alles das tun kann, was man als wichtig erachtet.
Nicht nur die Gesundheit lernt man nicht nur schätzen, sondern überhaupt erst kennen, wenn die abhanden kommt.
Jungsein heisst: in jeder Hinsicht übertreiben, über die Schnur hauen, sich betrinken bis man kotzt – all das braucht es, um das so genannt „gesunde Mass“ zu finden. Dieses definiert jeder Mensch anders. Schön, dass wir alle so verschieden sind.
Ich habe nie getrunken bis ich kotzen musste. Man kann nämlich vorher merken, dass man genug getrunken hat. Und jung sein heisst auch nicht in jeder Hinsicht übertreiben. Schön, dass einige offenbar doch noch verschieden sind.
jedenfalls kann man sich gewisse übertreibungen nur leisten, solange man jung ist. ja, es gibt verschiedene, und die einen lernen eben, in dem sie grenzen übertreten. ich selber habe eine eingebaute alkoholbremse, ich kann gar nicht mehr als leicht angesäuselt sein und das reicht mir auch. niemals würde ich freiwillig etwas machen, was mir den magen dreht. filmrisse kenne ich nicht. was für ein trauriges leben 😉
Ich erkenne mich wieder!
Am Samstagabend auf dem Sofa vor dem Fernseher eindösen ist ein toller Plan!
Wenn Ausgang, dann reichts um Mitternacht.
Gut angeheitert, hin und wieder immer noch oK. Aber sturzbesoffen mit Filmriss und Kotzen, muss nicht mehr sein.
Mit dieser Phase einher geht i .d. R. die Erkenntnis, dass das Wörtchen „geil“ ausserhalb eines sexuellen Kontextes seltsam deplatziert ist.
Hallo ma Cherie. Ich trinke auf Dein Wohl – Marie, à la Tienne. Aber ich bin auch ein Negerant, Madame. Bonne nuit!