Wenn Spiegel überflüssig werden

Michèle & Friends

Auf der Alp geben die Tiere den Rhythmus vor: Jungbäuerin im Kuhstall. Foto: Lukas Lehmann (Keystone)

Mit einem mehrwöchigen Aufenthalt auf einer Alp erfüllte mir mein Arbeitgeber einen langjährigen Traum. Heimlich fragte ich mich zwar, ob ich das als Bald-Rentnerin schaffen würde, reiste aber tapfer auf den Berg, arbeitete mit, schrieb täglich eine Kolumne und wäre am liebsten geblieben. Jetzt sitze ich wieder im Redaktionsbüro mitten in der Zivilisation, die ich auf 2000 Meter über Meer kein bisschen vermisst hatte.

Mein Leben auf dem Berg hatte sich vollständig im Hier und Jetzt abgespielt, ich wusch Geschirr und Utensilien, die für das Käsen gebraucht werden. Ich verbrachte Stunden mit dem Suchen von Rindern und Kühen, putzte, half beim Stall misten, verkaufte Käse und Getränke. Jeden Morgen um 7 bürstete ich die Kühe, ja, ich wurde süchtig nach den dampfenden Leibern, ihrer Wärme, ihrem Geruch, war berührt von der Hingabe, mit der die Tiere meine Wellnessbehandlung akzeptierten.

Das täglich Leben war hart, mit 12-Stunden-Arbeitstagen, die das 77-jährige Älplerpaar mit Bravour und viel Humor meisterte. Im Vergleich zu den beiden bin ich mit meinen 63 Jahren ja noch jung. Erstaunlich, was für Kräfte noch in mir stecken. Um 20.30 Uhr sank ich jeweils ins Bett und schlief wie ein Murmeltier. Ob ich das Pensum als junge Frau besser geschafft hätte?

Die Dusche im Stall

Die Tage auf der Alp richteten sich nach dem Rhythmus des Melkens, des Käsens und der fünf (!) Mahlzeiten. In meiner Schlafhütte gab es einen Kaltwasserhahn, ein Plumpsklo, keinen Strom und keine Spiegel. Und da die Dusche in der Alphütte praktisch im Kuhstall ist und entsprechend riecht, wusch ich mich rudimentär mit dem Waschlappen. Zurück in der Zivilisation staune ich bis heute, dass mich das alles kein bisschen gestört hat.

Überraschend schnell habe ich mich wieder an mein altes Leben gewöhnt. Kürzlich schnupperte ich zwar wehmütig an meinen Gummistiefeln, die immer noch nach Kuhmist riechen, und spürte Sehnsucht. Am letzten Sonntag nahm ich eine mehrstündige Velofahrt mit Fussmarsch in Kauf, um die Menschen und Tiere auf «meiner» Alp zu besuchen. Es war, als ob ich nie weggewesen wäre.

Jetzt bin ich wieder im Alltag und spüre tief in mir Veränderungen. Ich stelle beispielsweise abends fest, dass ich den ganzen Tag nie in einen Spiegel geschaut und den Lippenstift weggelassen habe. Dass ich morgens meinen Zopf flechte und nicht überprüfe, ob die Frisur noch sitzt. Doch, doch, ich gebe zu: ich parfümiere mich wieder. Trotzdem fühle ich mich anders, langsamer, in mir ruhend, so wie eine Kuh, die tagsüber ruhig im Stall liegt und abends wild auf die Weide stürmt. Mein Stall ist das Grossraumbüro, meine Weide sind Wald und Feld, die ich beim Pendeln mit dem Velo durchquere. Äusserlich unverändert, bin ich innerlich eine andere geworden. In letzter Zeit habe ich manchmal sogar vergessen, mich zu duschen.

Fazit: Egal wie alt wir sind – ein Perspektivenwechsel tut ganz einfach gut.

22 Kommentare zu «Wenn Spiegel überflüssig werden»

  • Alpenbueb sagt:

    Auch 30 Jahre nach meiner letzten Älplerzeit, laufen mir manchmal die Tränen über die Backen. Meistens dann, wenn ich wieder als „Tourist“ in die Berge darf, oder auch gerade jetzt, nach dem Durchlesen des schönen Berichts. Wunderbar.

    • BergHerz sagt:

      gehr mir genauso. In den 80er Jahren mehrere Sommer lang als Hirt&Senn die Sommer im Alpstein verbracht. Eine der besten Zeiten meines Lebens. Tiefe Ruhe in der Seele, Freude und Glück.

  • Verdi-van-der-Alpen sagt:

    schöne Schilderung, was passiert, wenn man einen Gang zurückschaltet…

    • Joerg Bucher sagt:

      Altvaeterisch oder Schule von gestern ?
      Liebe zum Stall und zur Scholle, umhegt von Landschaft und durchatmenden Witterungen… .
      In seinem grandiosen, Zivilisations-kritischen Werk ‚Segen der Erde‘, zieht der Dichter Knut Hamsun im Ausklangskapitel nochmals alle sprachmaechtigen Register. Und, unbestechlichen Blicks zu natuerlichem Leben, der schlichte Satz : „Hier besteht ein Ziel und ein Zusammenhang. Und nun wird es Abend… .“ — Ja, Abend der Menschheit ?
      Die Alpen. Die Berge. Nur zur See fuehlt sich die Seele noch majestaetischer !….

  • Karin sagt:

    Tolle Idee! Und sogar bezahlt. Würd ich auch gerne machen.

  • Höfler, Max sagt:

    Der warmherzige Bericht einer – scheint’s – klugen Redakteurin.
    Kompliment.
    Mehr davon.
    Max Höfler

  • Maike sagt:

    Ein Bericht, den die grossen Wirtschaftsunternehmen wohl garnicht so gerne lesen ! Ballern sie uns doch mit Dingen voll, die wir unbedingt zur Glückseeligkeit benötigen. Immer muss es das neuste Handy sein, der neuste schräge Sport, das grösserer Haus als der Nachbar, ein neues Auto, den grösseren Fernseher etc. Und um das zu erreichen, buckeln wir uns in mehr oder weniger gliebten Jobs zu mehr oder weniger gerechtem Lohn den Rücken krumm. Konsum ist die neue Zwangsmethode, um uns bei der Stange zu halten.
    Aber es gibt auch ein Leben , wie Frau Fehlmann es beschreibt – Besinnung auf das Wesentliche. Wenn man nicht jeden Hype hinterherrent, ist der erste Schritt in die richtige Richtung schon mal getan.

  • Werner Boss sagt:

    Ausnahmsweise sehr symphatische und ehrliche Schilderung eines sicher erlebnisreichen Ausflugs in einen ganz anderen Beruf! Bravo.

  • Wegmann Heiner sagt:

    Heiner Wegmann
    Ein wunderbarer Bericht Laura Fehlmann, Kompliment. Mancher Städter (inkl.
    mich) sollte auch mal einen solchen Perspektivenwechsel (Alpsommer)
    verbringen. Also, der Alpsommer 2019 findet statt ……….!!

    Grüess,
    Heiner

  • Gian Padrutt sagt:

    Gratulation!
    Ein wunderbarer Bericht den man sehr gerne liest.

  • irene feldmann sagt:

    Wunderschoener bericht, vielen dank!!

  • Gerhard sagt:

    Diese Erfahrung kann ich so von meinem Zivildienst mit einem halben Jahr auf einem Bauernhof inkl. Alpsömmerung bestätigen. Bin zwar noch jünger (27), aber die Auswirkungen waren diesselben. Die meisten Dinge, welche uns die Wirtschaft verkaufen will, benötigen wir schlichtwegs nicht.
    PS: Der Zivildienst war einiges härter als das Militär (hab die RS gemacht und dann gewechselt). Nur so nebenbei an die Militärköpfe.

  • Sophie Nicolle sagt:

    Schöner Bericht, mal was gesundes und heiteres !

  • Danielle sagt:

    Sympathischer und kluger Bericht. Ich bin gleich alt wie die Autorin, und vieles Geschilderte praktiziere ich schon lange. Man braucht nicht jeden Tag zu duschen und stinkt trotzdem nicht. Ev. ist die ‚Katzenwäsche‘ am Lavabo mit Lavettli und Seife sogar hygienischer als einfach unter den Wasserstrahl zu stehen. In den Spiegel schaue ich nur am Morgen und bevor ich zur Tür raus gehe. Kosmetika brauche ich nur so viel, wie meine Haut braucht – also Feuchtigkeit und Sonnenschutz. Und die Erfahrungen in Kuh- und Pferdeställen gehören zu den prägensten und nährendsten meines Lebens.

  • Hanspeter Fischer sagt:

    Ich denke einfach an die eigene Jugendzeit beim Bauern zurück. Wenn heute
    die Heuernte ist , fährt der Bauer wie verrückt übers Feld zum Heu wenden.
    Wir wendeten das Heugras noch mit der Gabel, jeder wendete sein Heu in die
    freie Fläche die der Vordermann (Frau) gemacht hatte, im Gänsemarsch
    intereinander. Da wurde viel erzählt Wichtiges und Unsinniges.
    Deswegen fühle ich mich mit den Büchern von Simon Gfeller verbunden,
    insbesondere „Heimisbach“

  • Hanspeter Niederer sagt:

    Auch Kuhaltung inklusive Alpömmerung basiert schlicht auf Tierausbeutung. Die Kühe geben nur Milch, wenn sie jedes Jahr zwangsgeschwängert werden, wobei ihnen das Kalb nach der Geburt sofort weggenommen wird, ein absolut unmenschliches Vorgehen, das sowohl der Kuh wie auch dem Kalb schwere Trennungsschmerzen bereitet. Wenn das Kalb noch das Pech hat, männlich zu sein, wird es entweder nach 3 Wochen oder dann halt nach ein paar Wochen erbarmungslos ermordet. In dieser ganzen Industrie eine heile romantische Welt zu sehen geht nur mit sehr viel Verdrängung und Ignoranz der dahinterliegenden Ausbeutung.

  • Thomas Trachsel sagt:

    Hmmm, Büroangestellte geht eine Woche ihres Lebens auf die Alp und kommt nachher aus dem Schwärmen nicht mehr heraus. Ein ganz ganz neues Leben hat sie dort entdeckt. Alles sit jetzt gaaanz anders als ehedem.
    Etwas viel Midlifcrisis-Ethnokitsch für meinen Geschmack. –
    Die Steigerungsform wäre dann die Weisse Massai, Gott bewahre!

    • matifot sagt:

      @ herr trachsel
      das leben und arbeiten auf einer alp ist tatsächlich wunderbar – und hart. auf das wesentliche beschränkt.
      das wesentliche beim kommentieren eines artikels besteht darin, den artikel richtig gelesen zu haben. (mehrere wochen – eine woche??)
      den artikel richtig zu verstehen wäre auch ganz nett.
      ich wünsche ihnen, dass sie auch einmal einen perspektivenwechsel mit offenen augen und offenem herzen als bereichernd empfinden.
      @ frau fehlmann: danke für den artikel!

    • Doris Aerne sagt:

      Herr Trachsel, warum so verächtlich? Wieso Midlifecrisis? Was hat die weisse Massai damit zu tun?. Bitte näher erklären, ich komme sonst nicht draus.

    • Laura Fehlmann sagt:

      Ja, den Ausflug mit Männersuche nach Afrika genehmige ich mir dann mit 70. Da ist ein neuer Perspektivenwechsel fällig.

  • Laura Kühni sagt:

    Lustig, über die Bauern wird doch hier gerne gelästert: Subventionen, SVP-Nähe, unökologische Produktion, teure Produkte. Und jetzt ists plötzlich die pure Idylle, zurück zur Natur à la Rousseau.

    • Paul Müller sagt:

      Lustig, im TA werden verschiedene Ansichten verbreitet (zumindest falls man Ihrer undokumentierten Aussage glauben darf).
      Ob sowas in der WW auch möglich wäre?

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