Modesünden sind ein Menschenrecht

Michèle & Friends

Der Schnuller gehörte dazu: Raver tanzen an der Street Parade 1995 in Zürich. Foto: Keystone

Neulich erzählte eine Freundin, sie habe eine gemeinsame Bekannte gesehen. Glaub. Sicher war sie nicht, denn besagte Bekannte trug Zöpfchen und einen Minirock. Sie habe ausgesehen wie ein Raver-Girl aus den 1990ern, befand die Freundin sichtlich befremdet. Nun ist der Raver-Look wahrscheinlich nicht die schmeichelhafteste Wahl für eine Fünfzigjährige, und vor meinem geistigen Auge tauchte Bette Davis im Kino-Klassiker «What Ever Happened to Baby Jane» auf.

Im Prinzip aber, so meine tiefste Überzeugung, hat jeder das Recht, nach Gutdünken bescheuert auszusehen. Free Style! Zwänge gibts genug. Ich mag extravagante Erscheinungen, egal welchen Geschlechts und Alters. Sie sind eine optische Freude im zürcherischen Alltag, in dem die Hauptströmungen Hipster-Look, Business-Look und Agglo-Chic (in umgekehrter Reihenfolge) dominieren. Ausser grad nach den Ferien, da sieht man gelegentlich dem exotisch angehauchten Outfit an, wohin es jemanden verschlagen hatte.

Bekanntlich ist Kleidung immer ein Statement, egal, ob sie in einem längeren Prozess sorgfältig zusammengestellt wurde oder jemand aussieht, als trage er einfach etwas, um nicht nackt zu sein. Und man wird ja wohl auch mal danebengreifen dürfen, Modesünden sind lässliche Sünden. Man landet nicht in der Hölle, höchstens in der «Don’t»-Spalte eines Modeblogs.

Hintern gut, alles gut

Über mich sagte der Bruder von meinem Spezi Mister G. auch mal «ah, ja, das ist die, die sich nicht altersgemäss anzieht». Ich nahm ihm das nicht übel, denn erstens hatte er recht – wenn man davon ausgeht, dass man ab vierzig keine «Miss Sixty»-Jeans mehr trägt. Und zweitens war es mir wurst. Ich bin simpel, ich trage jede Hose, wenn sie einen guten Hintern macht.

Über Geschmack und Mode lässt sich nicht streiten, zumal sich eh beides dauernd wandelt. Ich plädiere für Toleranz, und zwar nach allen Seiten. Sollen Männer weisse Socken tragen und junge Mädchen wadenlange Faltenröcke, in denen sie aussehen, als gehörten sie zu einer Amish-Sekte. Schön finden muss ich das nicht und ungefragt meinen Senf dazugeben auch nicht.

Umgekehrt nehme ich mir jedoch die Freiheit heraus, auch Wildfremde zu einem besonders gelungenen Styling ungefragt zu beglückwünschen. Manchmal bekomme auch ich spontan Komplimente, meist von anderen Frauen. Männer äussern sich eher selten. Entweder sie wollen sich nicht dem Verdacht aussetzen, mich anzubaggern (als Frau in meinem Alter hat man einen, der näher rückt, aber eher in Verdacht, er wolle einem ans Portemonnaie), oder sie sind der gleichen Meinung wie Giorgio.

Giorgio findet meinen Style unmöglich. Diese Röcke bis zum Knie und dazu Turnschuhe. Ich sei doch eigentlich noch eine Hübsche, sagte er gegenüber einer gemeinsamen Freundin, ein etwas jugendlicherer Stil liesse mich um Jahre jünger aussehen. Giorgio ist 65, etwas mager und immer wie aus dem Ei gepellt. Und er ist Italiener. Der Freundin und mir war sofort klar, was er mit «ein bisschen jugendlicher» meinte: kurzer Rock, Décolleté und hohe Hacken. Besagte Freundin übrigens trägt gern Hippie-Look, den findet Giorgio im Prinzip okay, wobei er gern darauf hinweist, den gebe es auch in sexy, im Fall.

Klassisch cool

Nun gibt es Tage, an denen ich zufällig das Gleiche trage wie eine gewisse Angie: schwarze Röhrlijeans, Bluse, schwarze Lederjacke und schwarze Sneakers (Angie) bzw. flache schwarze Wildlederstiefeletten (ich). Nur: Angie ist Anfang 20. Ich bin Mitte 50. Das untermauert die Theorie von Mister G.s Bruder.

«Angie», sprach ich darum eines solchen Tages, «eine von uns zweien zieht sich nicht altersgerecht an. Ich vermute schwer, dass ich das bin.» Angie schaute an uns runter und meinte trocken: «Klassisch cool. Geht immer. In jedem Alter.»

Was wohl rauskommen würde, wenn der kleine Bruder von Mister G. und Giorgio sich zusammentäten, um mir ein Umstyling nach ihrem Gusto zu verpassen? Garantiert etwas Unbequemes. Sofern sich G.s Bruder bei der Rocklänge durchsetzt, wahrscheinlich etwas à la Melania Trump. Wobei, in Kombination mit Zöpfchen und Sneakers sähe das gar nicht so übel aus.

28 Kommentare zu «Modesünden sind ein Menschenrecht»

  • Martin sagt:

    Interessant, was alles als „Menschenrecht“ gilt in der heutigen Zeit. Ich empfehle, dazu die Webseite der UNO zu konsultieren. Dort sind die Menschenrechte aufgeführt. Aber ich verstehe durchaus, in welchem Kontext das hier zu verstehen ist. Nun, dann kommen Sie doch mal nach Basel. Hier gibt es keine Mode und somit auch keine Modesünden. Wenn man hier auf die Strasse tritt und die Leute ansieht denkt man, man ginge an eine Beerdigung oder die Leute ziehen einfach an, was noch sauber ist. Die schlimmsten Entgleisungen meiner Meinung nach, sind Felshtunnel-Piercings, dieser Tattoo Wahnsinn und Bodymodification aller Art. Gute Mode als Mann zu finden, ist nicht so einfach, es sei denn, man ist bereit für ein Hemd CHF 250.- zu bezahlen.

    • roland sagt:

      Das Fr.-250.–Hemd aus dem Design-Laden sieht genau gleich aus, wie eines für Fr. 30.-, das mir passt. Mit dem Unterschied, dass ich im einen Fall etwas weniger schwer zu tragen habe – jedenfalls im Porte-Monnaie.

      • Martin sagt:

        @roland: Nun, das Hemd war im Ausverkauf und runtergeschrieben… Die Schwierigkeit besteht darin, etwas zu finden, was einem vom Schnitt her passt, man(n) sich leisten kann/ will und was einem auch modisch anspricht. Das ist in Basel sehr schwierig, da alle Modehäuser den selben Einheitsbrei verkaufen. Wer also als Mann keine Skinny Jeans tragen möchte, der hat es zur Zeit schwer. Ich sehe in Skinny jeans aus wie eine Mettwurst, deswegen trage ich es nicht. Es gibt schon günstige Kleidung, aber der Schnitt muss eben auch stimmen. Was nützt es einem wenn es günstig ist, aber unbequem ist?

  • Reincarnation of XY sagt:

    Ja. Ja. Ja.
    Genau so ist es. Wir brauchen keine Stil- und Sittenwächter, die unter dem ständigen Zwang leben, anderen zu sagen, was sie anziehen dürfen und was nicht.
    Ich empfinde Vielfalt als Bereicherung und verrückte Erscheinungen machen das Leben nur bunter und amüsanter. Ausserdem gibt uns jede verrückte Erscheinung selbst etwas mehr Freiheit, und das ist doch weit besser, als in einem Land zu leben, das einen Wächterrat installiert hat

  • Röschu sagt:

    Es ist absurd, dass sich Menschen im Jahr 2018 immer noch freiwillig zu Sklaven machen aufgrund der Meinungen anderer Menschen.

    • roland sagt:

      Genau. Man sieht daran aber daran, wer eine eigene Persönlichkeit hat. Und wer eben nur nach den anderen Meinungen lebt.

      • flori antha sagt:

        OMG: Und, wo kommt die eigene Persönlichkeit her? Gene und soziale Umwelt…dann seien Sie mal weiterhin stolz auf Ihre eigene Persönlichkeit.

      • Peter Aletsch sagt:

        Die Chefs von Firmen, Politik ordnen sich aber der Form unter, als Zeichen, dass sie dem ganzen dienen wollen. Schlicht, schwarz, grau. Bei Kirchenleuten darf es auch teilweise geschmückt sein. Berühmte Architekten, Designer, Wissenschafter ’staten auch under‘. Einstein war berühmt für seinen Wuschel, sonst habe er verschiedengemusterte Socken getragen. Aus Nachlässigkeit. Es mühsam, bei jeder Begegnung mit einer Person sich mit deren Exzentrizität zu beschäftigen.

  • roland sagt:

    Es gib aus meiner Sicht zwei Grundsätze zu Kleidung:

    1. Jede Person darf anziehen, was ihr gefällt!

    2. Nicht jedes Kleidungsstück passt zu jedem Körper, aber es gibt für jeden Körper passende Kleidung.

    Stil ist, wenn man den ersten Punkt mit dem zweiten verbinden kann.
    Sonst hat man eben keinen Stil, und es trifft nur Punkt 1 zu. Und das darf man eben!

    • sophie sagt:

      nein, man sollte nicht geschmacklos umherziehen ! Hübsch und nett kostet nicht mehr, braucht ein wenig Respekt für sich selbst und die anderen.

      • Ladina sagt:

        „Hübsch und nett“ soll man daherkommen, Sophie, und das sei dann respektvoll gegenüber sich selbst und anderen?!?
        Ich finde diese Aussage zum Gruseln, sehr erdrückend und einengend.
        Gerne zitiere ich an dieser Stelle mal wieder Iris Apfel: „Die Leute haben Angst vor Individualität. Dabei gibt es kein Richtig oder Falsch!“
        Individualität, DAS ist Respekt gegenüber sich selbst!

        • flori antha sagt:

          @Ladina: Kann es sein, dass Sie Individualität mit Asozialität verwechseln? Aber nicht so schlimm, dass passiert heutzutage ziemlich vielen.

          • Ladina sagt:

            Flori, siehe mein Nachtrag Kommentar unten.
            Dann erklärt sich vielleicht auch für dich der Unterschied zwischen „netter Bekleidung“ und wirklichem Respekt gegenüber anderen Menschen.
            Falls nicht, nicht schlimm. Das tscheggen heutzutage ziemlich viele nicht.

      • Ladina sagt:

        Nachtrag: … und der Respekt gegenüber Anderen zeigt sich darin, wie man sich verhält; ob man offen, aufrichtig, fair sein kann – oder will.
        Und ganz sicher nicht in einer „hübschen und netten“ Bekleidung!

  • Ralf Schrader sagt:

    Auch Frauen dürfen erwachsen werden, müssen es aber nicht. Statistisch werden sie es aber häufiger als Männer, was doch eine gute Nachricht ist.

  • Regina Willbury sagt:

    Das ist die ewige Litanei der Alt 68er. Anything goes und ist mir doch egal. Ist das alles was heute noch zu irgendeinem Gesellschaftsphänomen einfällt? Etiam si omnes EGO NON. Schauen wir doch den Tatsachen mal in die Augen. Mit den 68er ist die totale Vulgarität in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Diese Vulgarität hat zudem zu einem kompletten Verlust der Würde geführt. Die Leute haben keine Wertschätzung für sich selber mehr sondern eine krampfhafte flache und uninspirierte „Originalität“ wurde zum Selbstwert erhoben. Was ich heute in den Strassen sehe, ist eine Zumutung für meine Augen. Eine zivilisatorische Beleidigung und eine Würdelosigkeit, die eine Destruktivität und ein Nihilismus ausdrückt, ein zivilisatorischer Rückschritt der uns primitivisten Tribalismus zurückkehrt

    • Martin sagt:

      @Willbury: Wow, das ich so einen Text einmal von einer Frau geschrieben lesen kann – fantastisch! Die meisten Frauen würden jetzt mit so Standard Floskeln argumentieren wie „ist mein Leben“, „du must mich lieben wie ich bin“ oder „es muss praktisch sein“ oder so was. Sind Sie Engländerin? „Was ich heute in den Strassen sehe, ist eine Zumutung für meine Augen.“ Ich glaube, Sie können Gedanken lesen! Wobei ich sagen muss, dass es diesen Sommer viel mehr Frauen gibt, die sich trauen, etwas sommerlich-frisches zu tragen! Danke für Ihren Post; ich weiss jetzt: Ich bin nicht alleine!

  • Maru sagt:

    @RW: Was ist das denn für ein Kauderwelsch, bitte schön?? Englisch, Latein, (etwas) Deutsch und jede Menge gestelzter Fremdwörter sind zu einem wirren Text zusammengefügt. Wenn Sie sich so anziehen, wie Sie schreiben, kann es nicht viel besser aussehen, als das, was Sie bei andern kritisieren(wollen).

  • Nick sagt:

    Wieso soll es ok sein, wenn ein Kollege (Mitte 40) mir (schlank und sportlich, aber Mitte 50) !ungefragt an den Kopf wirft „Hoodie geht in deinem Alter gar nicht“? Wenn ich antworte „Wampe geht gar nicht“ gilt das fast schon als Verbrechen. Meine Meinung: jeder wie er will.

  • Rolf Rothacher sagt:

    Bei jedem Zwang, den man ablegt, sollte man eines bedenken: Nur wenn die Freiheit, die man sich nimmt, der eigenen Persönlichkeit entspricht, nur dann ist das Ablegen von Zwang eine Bereicherung.
    Bestes Beispiel in der Literatur ist Dr. Jekyll and Mr. Hide. Dr. Jekyll kann nicht glücklich sein mit den Freiheiten, die sich Mr. Hide nimmt, denn sie entsprechen nicht seiner Persönlichkeit.
    Wer also keinen Wert auf Anerkennung durch Dritte legt und zudem seinen Stolz ablegen kann, derjenige kann auch herumlaufen, wie es ihm gerade passt. Wer jedoch nach Anerkennung sucht, wird sich auch in Kleiderfragen stets an eine gewisse Ordnung (den Zwang der Modeschöpfer) unterwerfen, weil das seiner Persönlichkeit entspricht.
    „Freiheit für alle“ ist eine sehr, sehr dumme Forderung.

  • sophie sagt:

    „Schweizer haben keinen Geschmack punkto Kleidung und Aesthetik“. Das denken die Italiener von uns. Mit wenig Geld sind sie immer mit viel Geschmak gekleidet. In Deutschland fragte eine Reporterin ein Italiener „wie finden sie kleiden sich die deutschen Frauen ?“ Antwort „Wie Kartoffelsäcke“ …..
    Ja man kann anscheinend nicht alle guten Eigenschaften haben !

  • k. miller sagt:

    Wenn ich an die 60er/70er- bis in die 80er-Jahre zurückdenke – alle trugen altersgerechte Einheitsware. Eine 40-jährige in Jeans? Never ever. Und wenn die Rocklänge „bis zum Knie“ angesagt war, gabs in den Geschäften auch nichts anderes… durchgängiger Einheitsbrei. Heute: Alles ist möglich. Modesünden werden nicht mehr im Kollektiv (Schlaghosen…), sondern von Individuen begangen. Entsprechend ist auch die Vielfalt der Fehlgriffe grösser. Aber es ist auch weitaus spannender geworden, gut so!

  • glamurous sagt:

    Sich modisch stilvoll zu kleiden macht einfach Spass! Wer es nicht tut, verpasst etwas…Es gibt so viele schöne Stoffe, Muster, Farben, … muss auch gar nicht teuer sein. Schöne Kleider zu tragen beeinflusst mein Lebensgefühl und macht mich glücklich.
    Was mir hier in der CH auffällt: auch im Sommer dominieren – sogar bei Sommerkleidern – dunkle Farben…wieso? Ich wünsche mir mehr Mut zur Farbe! Im Süden selbstverständlich: man sieht fast kein schwarz, dunkelblau….sondern fröhliche, helle Sommertöne – wunderbar!

  • Florin sagt:

    Menschenrechte sind doch nicht irgendein Gugus, die für jeden x-beliebigen Gugus (-Titel) hinhalten müssen!

  • reguell sagt:

    von mir aus ist alles ok. ausser leggings abgesehen von sportveranstaltungen. die sind definitiv kein menschenrecht. auch an schlanken frauen nicht.

    • tina sagt:

      was haben die leute eigentlich gegen leggins? man muss doch sehr genau hinschauen, um den unterschied zu strumpfhosen zu sehen, und so genau braucht man ja nicht hinzuschauen. diese kunststoffstrumpfhosen hingegen sind un! er! träg! lich! ausserdem gehen sie leicht kaputt und haben entweder zu kurze beine oder sind oben viel zu lang. ich finde leggins unter jups aller art in jedem alter tragbar und übrigens auch mit jeder figur und jeder form von selbstwertgefühl. und allen schuhen.
      wer damit ein problem hat, hat wohl sonst keine 😉 dann schätzt das!

  • Sophie Nicolle sagt:

    Mit lächerlich machen ? Nein ! Obwohl ich schlank bin, würde ich nie leggings tragen. Ok für ganz junge.

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