Frühstück in Milano

Einfach mal wieder was anderes sehen: Blick auf die Piazza Duomo und den Mailänder Dom. Foto: bennymarty (iStock)
Vernunft ist eine Spassbremse. Definitiv. Das wurde mir wieder einmal bewusst, als ein Bekannter erzählte, er habe am Sonntag im Mittelmeer gebadet. Einfach so. Ruedi, so heisst er, stellte erfreut fest, dass zwei Tage lang keine geschäftlichen Besprechungen anstanden – eine Ausnahme bei ihm –, und die Freundin war auch nicht im Haus. Also packte er Badehose und Hund ins Auto und fuhr an die ligurische Küste. Dort mietete er ein Zimmer in einem schicken Hotel und ging an den Strand.
Das erste Hindernis
Cool. Sollte man öfter. Einfach spontan. Einfach unvernünftig. Einfach zum Smartphone greifen ist verboten, sonst ist das Unternehmen zum Scheitern verurteilt, weil das dann so klingen würde:
Er: Am Gotthard ist 20 Kilometer Stau!
Sie: Gehen wir halt in den Schwarzwald.
Er: Es ist Samstag, weisst du, wie viele Einkaufstouristen die Grenze blockieren?
Sie: Ich war schon lange nicht mehr in Genf.
Er: Ist langweilig.
Sie: Also gut, gehen wir halt ins Niederdorf eine Pizza essen, dort fühle ich mich auch immer wie im Ausland.
Er: Eben. Hat nur Touristen. Weisst du was, ich kaufe eine Flasche Wein, koche uns was Schönes, und wir machen es uns auf dem Balkon gemütlich.
Sie: Ich liebe dich.
Das wars. Aus die Maus, ciao Prosecco am Meer. Wir sind vernünftig geworden, pragmatisch. Als Erwachsener beherrscht man seine Impulse und ist sich der Gefahren bewusst, die spontane Abenteuer mit sich bringen könnten: Wegelagerer, teure Mautgebühren, Lebensmittelknappheit in Italien, und ein Zimmer nehmen, ohne vorher Tripadvisor zu konsultieren, kommt schon gar nicht infrage.
Café Milano oder Milano Centrale
1980 oder so sass ich an einem trüben Feiertagsnachmittag mit einer Freundin in einem stieren Café und langweilte mich.
Daniela: Wir könnten einfach den nächsten Zug nach Mailand nehmen.
Ich: Gehen wir rüber zum Bahnhof und schauen, wann einer fährt.
Das wars dann. Ein paar Stunden später hatten wir das Nötigste für eine Nacht gepackt, ihre Mutter um 300 Franken angepumpt (meine kam nicht infrage, die Gefahr war zu gross, dass sie spontan mitgekommen wäre) und sassen im Nachtzug nach Milano Centrale. Meinen Eltern hatte ich einen Zettel auf den Küchentisch gelegt und versucht, meinen Freund Massimo anzurufen. Bei ihm war aber keiner zu Hause, Telefonbeantworter gab es noch nicht. Am Bahnhof rannten wir an ein paar Kollegen vorbei, denen wir fröhlich «andiamo a Milano» zuriefen und die wir baten, Massimo Bescheid zu sagen.
Aus unerfindlichen Gründen interpretierten sie das so, dass wir auf dem Weg ins Café Milano seien, wo die Jugend sich damals traf. Worauf Massimo mich dort zwei Tage lang suchte, weil bei mir zu Hause niemand das Telefon abnahm. Vermutlich waren meine Eltern spontan in den Schwarzwald gefahren. Item, über meinem Liebesleben entlud sich nach meiner Rückkehr ein heftiges Gewitter, das sich aber bald wieder verzog.
300 Franken sind es wert
In Mailand herrschte prächtiges Vorfrühlingswetter, Daniela und ich hausten in einem schäbigen Billigzimmer und lernten in einer Bar ein paar andere Jugendliche kennen, die uns in die angesagten Clubs schleppten. Dort scheiterten wir an den Türstehern, bis wir in einer lausigen Quartierdisco gnädig erhört wurden. Bei Coca-Cola und Chinotto (ich mochte bis weit nach zwanzig keinen Alkohol und war auf chalti Schoggi abonniert) feierten wir bis Feierabend, was damals zwei Uhr morgens hiess. Es war grossartig.
Und ja, es kann sein, dass spontane Ausflüge im Gotthardstau enden oder in einer Streikwelle in Paris. Daniela und ich mussten die 300 Franken von unseren Lehrlingslöhnen abstottern, und Ruedi bekam eine Busse von 300 Euro, weil an italienischen Stränden Hunde offenbar verboten sind. Was ich 1980 Vernünftiges tat, weiss ich nicht mehr, aber der Spontantrip nach Mailand ist unvergessen.
Song zum Thema: Antonello Venditti, «Bomba o non bomba», 1978. Quelle: Youtube
14 Kommentare zu «Frühstück in Milano»
Vernunft ist vor allem eine CO2- Bremse. Je weniger Vernunft die Eltern haben, umso mehr CO2 müssen die Kinder sparen. Samt dem damit verbundenen Spass.
300 oder 300’000 Franken sind weder Grund für etwas, noch gegen etwas. Geld kann man nachdrucken, stehlen oder wenn man Lust hat, sich erarbeiten. Geld hat für sich überhaupt keine Wert, deshalb kann man es auch kompostieren, wenn es kompostieren liesse. Geld ist das einzige, was man unbedenklich verschwenden oder vernichten kann.
Aber CO2 ist ein echter, nicht wie Spass und Geld, ein nur ein eingebildeter Wert.
Schöne Geschichte. Ist ja eigentlich verrückt, dass man alten Zeiten nachtrauert, obwohl man doch solche „Ausbrüche“ heute jederzeit wiederholen könnte. Und erst noch das Geld dazu hätte…
‚Ausbruch‘ ist eine gute Metapher für so ein Verhalten.
Genau….. es sind die spontanen Entscheide die unser Leben bereichern und die wie nie vergessen !! Danke :))
wenn mir das leben wiedermal desaströs aus dem ruder läuft, sage ich mir das auch gerne, sobald ich genügend distanz gewonnen habe: es sind die sachen die schief laufen, die man später verklärt erzählt, als ob das in dem moment spassig gewesen wäre ;-). immerhin! das was problemfrei lief, geht leicht vergessen – zu banal.
Das bringt das Alter eben mir sich – man gewinnt eine Menge mehr an Beurteilungskriterien, um eine Situationein- und abschätzen zu können. Siehe das ER-SIE Gespräch. 20 Jahre früher wäre es vermutlich ein Dreizeiler geworden – Sie: Lass uns in Milao frühstücken. Er: Super Idee, ich schaue nach einem Zug. Sie: Ich liebe Dich.
Man sollte sich unbedingt das Kind im Mann/Frau bewahren, dann sind solche spontanen Aktionen auch heute noch möglich. Und einen Stau am Gotthard kann man bestens mit der Bahn umgehen. Man lässt Fahren und kann das erste Cüpchen gleich nach dem man seinen Sitzplatz gefunden hat zu sich nehmen. Und wenn man seinen Liebsten richtig beeindrucken will, fährt man erster Klasse., hat eine kleine weisse Tischdecke nebst echten Gläsern im Gepäck…
Nun ja – ihr jüngstes positives Spontanerlebnis ist ja nun einige Jahrzehnte verflossen.
Wäre es nicht gescheiter, zuerst mal eines durchzuführen, anstatt darüber zu schreiben?
Richtig ist sicher, dass wir mutiger sein sollten. Einfach mal was machen, was wagen (und es locker nehmen, wenn es dann nicht so genial ist).
sollten wir (du wolltest dich nicht wie ein sprachrohr der allgemeinheit äussern und ich versprach, dich darauf hinzuweisen)? also ich nicht. ich baumle wirklich lieber in der hängematte auf dem balkon als verkrampft im stau zu stehen. ich bin unter berücksichtigung meiner jahrzehntelangen erfahrungen (hust. nein, ich bin nicht 150jährig) im stande, dinge anzuzetteln, die sich erlebnistechnisch spontan anfühlen, ohne bussen zu bezahlen, ohne übermässig co2 zu produzieren und ohne es ein wagnis zu finden. aber in der hängematte ist es wirklich besser als im stau, auch das weiss ich halt aus jahrzehntlanger erfahrung. und dann GENIESSE ich die hängematte, auch wenn sie ein wenig langweilig ist (das ist der stau nämlich auch)
Danke! … ich schwelge gerade ein wenig in Erinnerungen. Bei mir war es mein Freund und der Nachtzug nach Paris. Und dort ein billiges Hotel beim Bahnhof. Oder auch die Interrail-Ferien nach dem Prinzip: wir fahren nachts die längstmögliche Strecke, dann brauchen wir kein Geld für ein Bett. Die Abenteuerlust ist noch immer da, aber inzwischen bin ich froh über Kreditkarte, Smartphone und Reservierungssysteme.
Natürlich bleiben „verrückte“ Sachen am stärksten in der Erinnerung haften, aber man darf nicht vergessen:
1. Das gilt nur im (meist seltenen) Erfolgsfall. Die 100 anderen Situationen, in der jemand eine vermeintlich coole Idee hatte, diese sich aber als Reinfall entpuppte, hat man glücklicherweise verdrängt.
2. Die besten Erlebnisse ergeben sich eben meist spontan und ungeplant, was aber auch bedeutet, dass einfach spontan irgendwo hin fahren keineswegs ein erinnerungswürdiges Erlebnis garantiert. Oder mal einfach gesagt: Frau Brüderlin kann nicht wissen, ob ein Abend im „Cafe Milano“ nicht mindestens genau so ein Highlight geworden wäre, aus welchen Gründen auch immer.
PS: Über Wochenende schnell nach Italien blochen ist doch mittlerweile was vom Spiessigsten überhaupt.
Macht man so spontanes, verrücktes Zeugs im Erwachsenenalter, sagen die Spiesser und Neider, man hätte eine Midlife Crises.
Grabdios und einfach nur herrlich liebe Frau Brüderlin ! ! ! Dankeschön ! ! !
Ich kenne das nur zu gut. Wir Mädels haben das auch ab und an gemacht. Einfach Tschüss und weg. Unvergesslich schön und auch voller Abenteuer….. <3
( Fast) die gleichen, welche uns täglich von verdichtetem wohnen in engen Hochsilos zu überzeugen versuchen, zeigen selber im Alltag ein enormes Fluchtverhalten!Es ist hat doch tatsächlich so, dass der Mensch immer nur von seiner Umgebung Selbstbeschränkung erwartet und niemals von sich selbst. Viel ehrlicher wäre schlicht und einfach dem Umstand Rechnung zu tragen, dass wir wie jede Kreatur Freiheit benötigen und deshalb unser Umfeld so gestalten dass dies auch möglich ist. Dabei darf man ja auch mal aus der Vergangenheit der letzten fast 100 Jahre lernen!
„Es ist hat doch tatsächlich so, dass der Mensch immer nur von seiner Umgebung Selbstbeschränkung erwartet und niemals von sich selbst. Viel ehrlicher wäre schlicht und einfach dem Umstand Rechnung zu tragen, dass wir wie jede Kreatur Freiheit benötigen und deshalb unser Umgebung [hier stand Umfeld im Orginal] so gestalten dass dies auch möglich ist.“
Das heisst, wir sollten nicht Selbstbeschränkung von unserer Umgebung erwarten, wir sollten unsere Umgebung fremdgestalten, also deren Freiheit fremd beschränken.
Sie wollen Freiheit vor Muslimen, Freiheit vor Feministinnen, Freiheit vor Linken, Freiheit vor Afrikanern.