Die grosse Kälte
Jedes Jahr versuchen in der Schweiz zwischen 15’000 und 25’000 Menschen, sich das Leben zu nehmen. Über 1000 Personen sterben dabei. Das sind dreimal so viele wie die Verkehrstoten. Jede zweite Person in der Schweiz kennt mindestens einen Menschen, der durch Suizid gestorben ist.
Ich kenne vier – einen Arbeitskollegen, zwei Bekannte und einen guten Freund. Meine Reaktion auf die Todesnachrichten war stets dieselbe: Leere, Unverständnis, Schuldgefühle – nicht etwa Trauer. Wahrscheinlich liegt das an der Unfassbarkeit der Situation, wahrscheinlich spielt auch Selbstschutz eine Rolle. Die Trauer kam später. Schubweise, plötzlich, immer wieder. Bis heute.
Und bis heute stelle ich mir die Frage nach dem Warum. Zumindest die Statistik hat eine banale Antwort darauf: Die häufigste Ursache für einen Suizid sind diagnostizierbare psychische Erkrankungen. Ungefähr 90 Prozent aller Fälle in den westlichen Gesellschaften werden darauf zurückgeführt.
Was hatten wir gefeiert!
Solche Zahlen sind wichtig für die Präventionsarbeit. Aber letztlich steckt hinter jedem Suizid eine persönliche Tragödie, ein individuelles Unglück. Von meinen Bekannten wurde bloss jemand als depressiv diagnostiziert und war in entsprechender Behandlung. Bei den anderen, durchaus lebenslustigen, extrovertierten Menschen irgendwo zwischen 30 und 40, passierte der Suizid – zumindest für mich – völlig überraschend.
Haderten sie mit Veränderungen in ihrem Leben, die ich nicht mitbekommen habe? Das wäre umso trauriger, weil Suizid laut Fachleuten eine Verzweiflungstat ist, die der Betroffene in einer anderen Situation nicht begangen hätte. Und Krisensituationen sind irgendwann ja vorbei.
Oder ist es genau umgekehrt? Hatte sich ihr Umfeld verändert, aber sie sich selbst nicht, was sie in einen Zustand der Isolation und Hoffnungslosigkeit stürzen liess? Beim guten Freund, den ich verloren hatte, wurde ich dieses Gefühl nicht los. Was hatten wir gefeiert! Und dann plötzlich kriegten viele in meinem Bekanntenkreis Kinder und ergatterten tolle Jobs und Wohnungen, kurz: Man wurde erwachsen, oder dachte es zumindest.
Die traurigste aller Erklärungen
Dass sich jemand umbringt, weil ihm sein Umfeld fremd wird, weil er sich plötzlich alleine wähnt, ist die traurigste aller Erklärungen. Weil sie den Hinterbliebenen indirekt Schuld auflädt. Vor allem aber, weil sie nicht stimmt. Zur Familie zu werden, ist keine Garantie auf Glück und auch kein exklusiver Club. Man muss dazu nicht einmal die Scheidungsraten der Mittvierziger angucken, sondern bloss an eine Klassenzusammenkunft gehen, wo scheinbar erfolgreiche und im Leben angekommene Menschen ihre Vergangenheit zelebrieren, weil sie die Zukunft fürchten – und oftmals die Gegenwart bedauern. Wer waren wir? Wer sind wir jetzt? Was ist mit uns passiert? Was wird mit uns geschehen?
Es gibt mit «The Big Chill» einen Film, der diese Stimmung und Thematik perfekt auffängt. Er beginnt mit einer Beerdigung, wo eine ehemalige Studenten-Clique Abschied von einem Freund nimmt, der sich umgebracht hat. Nach dem Begräbnis wird geredet, gestritten und geflirtet. Lange gehütete Geheimnisse und Lebenslügen kommen ans Licht. Doch der Film führt nirgends hin, am Schluss ist nichts wirklich geregelt, es tritt keine Veränderung ein. Die alten Weggefährten gehen zurück in ihr Leben. Wieso sich ihr Freund getötet hat, erfährt man nicht.
Als ich «The Big Chill» mit 20 zum ersten Mal sah, regte ich mich auf: Das ergibt doch alles keinen Sinn, das kann doch nicht sein. Heute denke ich, dass dies die Botschaft des Films ist.
24 Kommentare zu «Die grosse Kälte»
wenn man jung ist macht man sich i.d.r. nicht allzuviele gedanken über vergangenheit, gegenwart und zukunft. das ändert mit zunehmendem alter. deshalb ist es wichtig nach dem „big easy“ ein paar inhalte zu haben, für welche es sich zu leben lohnt.
‚Die häufigste Ursache für einen Suizid sind diagnostizierbare psychische Erkrankungen. Ungefähr 90 Prozent aller Fälle in den westlichen Gesellschaften werden darauf zurückgeführt.‘
Das ist eine hochspekulative Aussage, welche bereits in der Formulierung unklar gehalten ist. Häufig werden die Betroffenen erst posthum diagnostiziert. Dann ist aber längst nicht klar, ob die Diagnose, selbst wenn vorher gestellt, mit einer Krankheit (nicht Erkrankung) korrespondiert. Es gibt über 500 psychiatrische Diagnosen, aber wahrscheinlich nicht mehr als 1-3 psychiatrische Krankheiten. Im allgemeinen belässt man es beim Feststellen einer psychischen Störung (nicht Krankheit) und eine psychische Störung findet man wahrscheinlich bei jedem Menschen, nicht nur bei 30%, wie man derzeit annimmt.
kannst du das für ungebildete erkären? was sind denn psychische krankheiten und warum ist es so wichtig, eine psychische störung nicht krankheit zu nennen? wenn menschen nicht in der lage sind, „normal“ zu leben, in dem sinne, wie sie gerne selber würden, weil sie zum beispiel panikattacke überfallen wenn sie vor die tür gehen, dann ist das doch in dem sinne krank, dass sie wie wenn sie ein bein gebrochen hätten, in gewisser weise behindert sind zu leben wie sie es als normal empfinden. ok, jemanden mit einem beinbruch nennt man ja auch nicht knochenkrank. meinst du das?
Warum sich jemand umbringt ? Man weiss es nicht immer. Mein Freund Kussi, begandeter und äusserst vorsichtiger Motorradfahrer ist von einem Zug auf einem unbeschrankten, weit einsichtbaren Bahnübergang getötet worden. Beruflich und privat alles bestens. Zumindest nach aussen, den irgendwas muss nicht gestimmt haben. So rätseln wir heute noch, wenn wir uns am besagten Bahnübergang treffen.
Ein anderer ist mit seinem Auto mit Vollgas gegen einen Autobahnpfeiler gerast. Nachher kam heraus, das er keinen einzigen Schein in seinem Medizinstudium gemacht hatte. Jetzt stand die erste grosse prüfung an, wenn man den die Scheine gehabt hätte…
In den 90er-Jahren habe ich mich als Laie sehr intensiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt bzw. viel gelesen darüber: Fachliteratur (z. B. das Standardwerk „Le suicide“ von É. Durkheim), die Biographien prominenter Selbstmörder (H. von Kleist, Ludwig II., C. Pavese, V. Woolf usw.) und deren Werke. Ich selber habe ein paar Bekannte, die aus dem Leben geschieden sind. Es sind Entscheidungen, die ich verstehe und respektiere, in mir aber eine dumpfe, fast lähmende Trauer hervorrufen. Wie dem auch sei: Ich teile die Ansicht Durkheims, wonach es oft radikale Veränderungen sind – notabene: nicht nur negative! –, die einen in den Tod treiben, sofern er mit diesen Veränderungen nicht klar wird. Zudem die Einsamkeit als Kehrseite eines in meinen Augen unverzichtbaren Gutes namens Freiheit …
Kein Sinn hinterlässt auch Zweifel.
Darum erst Recht.
Das Leben so gut wie möglich sinnvoll verwirklichen.
Wer sich umbringt ist psychisch krank. Weil es kann ja nicht vernünftig sein, sich zu töten. Vielleicht stranden Wale, weil die sich umbringen wollen. Es ist die Vernunft derjenigen, die sich nicht umbringen, dass es unvernünftig sei. Wer nicht religiös ist, kann mit Hilfe der Vernunft keinen Sinn des Lebens finden. Sinnlos weiter leben ist genauso unvernünftig, geht nur dank Humor, und Humor ist unvernünftig.
Ganz zynisch betrachtet gibt es nur einen vernünftigen Grund, sich nicht umzubringen, nämlich andere, von Familie über Freunde und Kollegen bis zum Lokführer, vor Schuldgefühlen zu bewahren. So lässt sich Weiterleben mit dem kategorischen Imperativ vernünftig begründen. Leben ist Pflichterfüllung, noch immer, nur nicht wegen Gott, sondern wegen Gesellschaft.
Wer keine Pflichten mehr hat, keine Verbindlichkeiten gegen Familie und Gesellschaft, und damit auch keinen Nutzen in seinem Leben finden kann, ausser man erkennt in Hedonismus einen Nutzen, und sich umbringt, handelt vernünftig. Vielleicht geht es nicht darum, was das Umfeld hätte tun können, für den Suizidgefährdeten sondern darum, warum dieser nichts fand, was er für sein Umfeld tun könnte.
Wenn gegenüber mir jemand einen Suizid andeutet sage ich: Vernünftigerweise ist leben besser als tot sein, weil es immer besser ist, eine Option, nämlich zu sterben, zu haben. Ist man mal tot, hat man keine Option mehr. Aber mehr vernünftige Argumente zum Weiterleben habe ich auch nicht, wenn jemand von niemandem (mehr) gebraucht wird.
Samuel Beckett:
Estragon: Komm, wir gehen!
Wladimir: Wir können nicht.
Estragon: Warum nicht?
Wladimir: Wir warten auf Godot.
Das Warten auf Godot gibt ihrem Leben Sinn, es ist verbindlich, Pflicht, sie können nicht einfach aufs Thema bezogen, sterben gehen, sie müssen noch ihre Verbindlichkeiten erfüllen.
Ich glaube nicht, dass die Absenz von Wünschen, von Hoffnung in den Suizid treibt, das treibt zu Fluchten in Religion, Sekten, Drogen, Esoterik, die Absenz von Verbindlichkeiten treibt in den Suizid.
„die Absenz von Verbindlichkeiten treibt in den Suizid.“
Das stimmt in dieser absoluten Form sicher nicht, AT. Es ist vielmehr so, dass keine Verbindlichkeiten dieser Welt eine zum Suizid entschlossene Person von der Umsetzung abhalten können. Daran erkennt man sie ein Stück weit ja auch; die Existenz von Verbindlichkeiten werden der Person egal.
Pass bloss auf, dass Du Dich mit Deinen Selbstgesprächen, welche bereits als psychisch krank legitim bezeichnet werden können, nicht in den Suizid treibst. Suizide sind so vielfältig wie das gelebte Leben, Herr Theoretiker.
@Martin Frey: Verbindlichkeiten die mir egal sind, sind subjektiv keine mehr.
@andy „Herr Theoretiker“
Die mit praktischer Erfahrung zu Suizid kann man nicht mehr fragen. Und was sie als Begründung manchmal hinterlassen ist so glaubwürdig wie ein Facebook Status: Optimierte Selbstdarstellung.
Ein guter Text, der wichtige Fragen berührt.
Suizid kann man kaum verhindern. Schuldgefühle sind nicht angebracht. Ich denke die Menschen haben zu viel Emotionen für die Toten und zu wenig für die Lebenden. Ich kann höchstens versuchen den Lebenden ein guter Freund zu sein, aber auch dafür braucht immer zwei. Es gibt Menschen die kapseln sich ab, Menschen die wollen ihre inneren Konflikte nicht angehen. Diesen kann man nicht helfen. Mit zunehmendem Alter wächst nämlich unsere Verantwortung auf uns selbst aufzupassen.
1. weil ungelöste Konflikte immer dramatischer werden
2. weil je länger je weniger andere auf uns aufpassen können
Das andere angesprochene Thema hat mich in den letzten Wochen auch stark beschäftigt: Viele träumen nur noch der Vergangenheit hinterher.
Ein klares Symptom dafür: man hält die Musik und die Filme von damals für die besten.
Man hat keine neuen Träume und keine neuen Lieder mehr. Man überhöht nostalgisch das „Feeling“ von damals und ist ernüchtert, dass es heute nicht mehr da ist.
Anstatt, dass man mit der grösseren Reife von heute, neue Träume, neue Lieder und ein neues „Feeling“ hat.
Die Zeiten aendern, aber wir uns nicht mit Ihnen. Wir aendern uns also Menschheit ueber Generationen, aber als Individuen bleiben wir weitgehend, was wir wurden beim Aufwachsen. Und so wird mit der Zeit uns die Welt fremd, das Vertraute verschwindet. Das Neue wird nicht mehr unseres, und wir haengen am Alten.
Mothers and father’s
Throughout the land
Your sons and your daughters
Are beyond your command
Don’t criticise
What you can’t understand
Your old road is rapidly aging
Get out of the new one
If you can’t lend a hand
For the times they are a changing
xy, wenn du natürlich einem freund, der gerade tief unten ist, etwas von „konflikt nicht angehen wollen“ erzählst, und dass es halt 2 braucht, damit du ein guter freund sein kannst, und überhaupt deine haltung (du stellst dich regelmässig als über anderen stehend dar), dann brauchst du dich nicht zu wundern, dass sich diese leute vor dir abkapseln
Natürlich kann man nicht sagen, die Hinterbliebenen träfe eine Schuld. Auch dann nicht, wenn sie sich von der Freundschaft entfremdet haben.
Aber ich finde es schon bedenkenswert, wie selbstverständlich, wenn auch meist implizit, der Wert eines Menschen ab ca 30 an seinen beruflichen Erfolgen gemessen wird. Auch innerhalb von Freundschaften, die doch eigentlich ein ganz andere Basis (verdient) hätten.
„Bist immer noch an X /auf der Suche nach Y? / Kommst du voran? / Hast du auch eine Wohnung gekauft?“ etc. Und schon hat man eine Messlatte gelegt. Und schon wird der Freund nächstes Mal nicht mehr eingeladen, weil man doch sowieso über ihm fremde Dinge spricht und insgeheim Angst hat, seine Erfolglosigkeit könnte den eigenen sozialen Status kompromittieren.
Sie Beschreiben klassiche Baby Boomer, beruflicher Erfolg und finanzielle Potenz sind in dieser Generation die Messlatte.
Ich bin in meinem Freundeskreis klar der beruflich erfolgreichste und verdiene rund doppelt so viel wie die meisten meiner Freunde. Ich werde aber nicht als Messlatte angesehen – im Gegenteil, für einige bin ich sogar „l’exemple a ne pas suivre“. Zeit, neue Erfahrungen und vor allem „tun was man gerne tut“ (Sinn) sind heute wichtigere Kriterien als Status und Geld.
Ein ausgezeichneter Artikel, welcher endlich eines unserer vielen Tabuthemen der heutigen Gesellschaft auf den Punkt bringt. Chapeau für diesen Mut und den glänzenden Text zu diesem heiklen Thema…… Gruss Ralph
Streng genommen muss auch die Sterbehilfe (Exit) in diese Betrachtungen mit einbezogen werden. Und damit auch die in den letzten 150 Jahren ganz erheblich gestiegene Lebenserwartung (in den frühindustrialisierten Nationen), die u. a. auf den medizinischen Fortschritt zurückzuführen ist: Diese hat beileibe nicht nur positive Seiten! Ich halte die Möglichkeit, wenn nötig auch freiwillig aus dem Leben scheiden zu können, für eine unschätzbar wichtige Option. Menschen wie David Goodall bewundere ich für ihre letzten Endes (…) absolut konsequente und unsentimentale Lebenshaltung.
Schön, dass Sie sich dem Thema widmen, Herr Zweifel. Es ist ein komplexes Thema und sondergleichen traurig. In bewegten Zeiten sollte man alte Menschen und Kinder und Jugendliche mehr im Auge behalten. Bei süchtigen oder von wegen Schmerzen an Medikamenten abhängigen Menschen sowieso wachsam sein. Vieles hängt von Wahrnehmung ab. In derartige Krisen kann es viele heikle Momente geben..