Das Ende der Unschuld

Nur der Moment zählt: Jugendliche tanzen zum Sound des DJs. Foto: iStock

Wir sind nicht die Einzigen, die sich hier den Kopf über das Erwachsenwerden zerbrechen und uns mit den damit verbundenen Erkenntnissen sowie den dadurch folgenden Veränderungen in Kopf und Seele beschäftigen. Kieran Setiya, mit 40 plus ein relativ junger Philosoph, lehrt am Massachusetts Institute of Technology in den USA und bietet uns seine Gedanken in seinem letzten Buch «Midlife» an.

Er hatte und hat alles, was man sich (als Philosoph) so wünscht, einen guten Uni-Job als Philosophieprofessor, Ruhm, Familie, und dann befiel ihn eine «verwirrende Mischung aus Nostalgie, Bedauern, Klaustrophobie, Leere und Angst». Diese uns bekannte Luxuskrise, in der wir fast alle in irgendeiner Form stecken, fasst Setiya zusammen als: «die fortschreitende Verminderung von Möglichkeiten, die Vollendung oder das Scheitern von Projekten, die Akkumulation der Biografie». Haben wir alles richtig gemacht? Gibt es noch die Zeit, Dinge anders zu machen? Hätten wir andere Wege einschlagen sollen? Und ist der Kern des Problems nicht die Tatsache, dass wir «mit der Unumkehrbarkeit der Zeit hadern»?

Zeit zum Vertrödeln

Er sagt, das Grundproblem der Midlife-Crisis liege in der Erkenntnis, wonach mehr als die Hälfte der «Zeit» schon vertrödelt worden sei, zusammen mit der Angst, den Rest auch noch zu vertrödeln. Aber was sollen wir gegen diese Angst tun? Zumal wir noch nicht einmal wissen, wie viel Rest es geben werde.

Ein Streber? Der Philosoph Kieran Setiya. Foto: PD

Kieran Setiya lehnt sich an Arthur Schopenhauers pessimistische Erkenntnis, wonach wir Menschen entweder unter der Noch-nicht-Erfüllung oder unter der Erfüllung von Begehren leiden, und meint, wer das verinnerlicht habe, solle einfach zwischendurch mehr Dinge tun, die kein Ergebnis haben, die sich weder abschliessen noch vollenden lassen. Im Prinzip wieder genau mit derselben Absicht, in der wir Dinge im Lebensabschnitt «Jugend» taten. Wir verbrachten einfach nur unsere Zeit, wir wollten bloss eine gute Zeit haben, ohne Ergebnisse. Wir gingen aus, ohne einen Ertrag daraus ziehen zu wollen, ausser jenen des Amüsements und der Vertreibung der Langweile.

Streber haben keine Ahnung

Wir hatten keine Angst, Zeit zu verschwenden, im Gegensatz zu heute, wo wir plötzlich von einem unsichtbaren Druck getrieben sind, die restliche (wenige) Zeit, die uns geblieben ist, wie wir glauben, in das Richtige zu investieren, um daraus den grösstmöglichen Profit zu ziehen. Für Setiya wäre die Lösung: wieder mehr Dinge zu tun, die für Menschen in den Vierzigern nicht mehr so einfach sind, wie sie klingen: einen Tag in der Woche mit totalem Nichtstun verbringen, ohne Ziel in der Stadt oder Natur herumlaufen. Musik hören ohne Absichten oder begleitende Tätigkeiten. Nicht durchgeplante Zeit mit Freunden und Familie verbringen.

Setiya sagt: «Sie haben mehr Zeit, als sie denken.» Ich denke: Setiya ist ein blöder Streber und hat keine Ahnung, worum es in einer guten ordentlichen Midlife-Krise geht: der Abschied vom bisherigen ich. Das schmerzvolle Ende der Unschuld, des leichten Amüsements als Lebensziel und der hedonistischen Sorglosigkeit zusammen mit der Ankunft des körperlichen Verfalls und dem schweren Druck, noch irgendetwas Grosses auf die Beine zu stellen – einfach, um am Ende ein bisschen stolz auf sich sein zu können.

Lesen Sie auch das Posting «Partyspass geht auch mit 50». Hier gehts zudem zu einem Beitrag über das Buch des Philosophen Kieran Setiya.

24 Kommentare zu «Das Ende der Unschuld»

  • Colisa sagt:

    Guter Text. Ich, ü40 denke: jetzt haben wir endlich die Freiheit, uns selber zu sein, sind nicht mehr angewiesen auf das unbedingte Wohlwollen der anderen.
    Das Wissen um die eigene Endlichkeit macht Angst.
    Die Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens überwiegt. Es hilft die Relativierung des eigenen Ichs, was sind wir nur für ein kleines Licht in diesem Universum!
    Die Unbeschwertheit der Jugend kehrt nie mehr zurück, das zu akzeptieren hilft.

    • Roger sagt:

      „Es hilft die Relativierung des eigenen Ichs“
      Schopenhauer stellt sich sogar auf den Standpunkt, dass die Anschauung nur in denjenigen kontemplativen Momenten gelingt, in denen der Wille für eine zeitlang schweigt. Erst dann ist man im Jetzt, ganz bei sich. Kann die Dinge so sehen wie sie sind, ohne Projektionen/ Subjektives.
      Das nur als Ergänzung, weil die Autorin Schopenhauer erwähnt hat.

  • Roger sagt:

    Ich würde bei Schopenhauers Pessimismus nicht stehen bleiben,denn für ihn ist es auch nur eine Zwischenstufe. Tatsächlich hat er einen Weg aus der Krise gewiesen:
    §34: „Wenn man,durch die Kraft des Geistes gehoben,die gewöhnliche Betrachtungsart der Dinge fahren lässt, aufhört, nur ihren Relationen zu einander, deren letztes Ziel immer die Relation zum eigenen Willen ist (…),also nicht mehr das Wo, das Wann, das Warum und das Wozu an den Dingen zu betrachtet; sondern einzig und allein das Was, auch nicht das abstrakte Denken, die Begriffe der Vernunft, das Bewusstsein einnehmen lässt, sondern statt alles diesen, die ganze Macht seines Geistes der Anschauung hingibt … (Die Welt als Wille und Vorstellung Band 1).
    Versuchen Sie es mal beim nächsten Waldspaziergang, was dann passiert

    • Roger sagt:

      Es geschieht nämlich eine neue, höhere Unschuld/ Unmittelbarkeit, das Jetzt, das nunc stans. Nicht ein Zürückfallen in ein kindliches Vorher.

      So, ich habe fertig. Der Kreis ist wieder geschlossen. Man möge mir diesen Ausflug in die Philosophie verzeihen, der Artikel segelt ja unter der Rubrik „Philosophisches“.

  • romeo sagt:

    Ich geniesse das Nichtstun schon seit Jahren. Abends und am Wochenende faul auf dem Sofa, den Wolken zusehen. Wozu soll ich mir ein schlechtes Gewissen machen oder das Gefühl haben, etwas zu verpassen? Ist schliesslich mein Leben.

  • Joya Soul sagt:

    Durchlauchte Madame Wäis Kiani. Mit Verlaub wie wollen Sie eine ordentliche Midlife Krise verbringen wenn Sie sich bis anhin schon eher chaotisch durch das Leben steuerten? 🙂 Ging mir damals übrigens ähnlich. Anstatt Trübsal zu blasen ist es besser einfach zu leben und geniessen was ist sowie zu tun was man kann. Jede Begegnung hat mögliches Potential, dass man oft echt nicht bewusst hat und daher nicht so leicht mit Denken zu erfassen ist. Nimmt man sich die Zeit um den „Geheimnissen“ auf den Grund zu kommen, sind „Wunder“ im Nachhinein erkennbar, finde ich. Gerade etablierte Philosophen oder Professoren dieser Thematik, haben bestimmt kein leichteres Sein.
    Wer schaut den Wahrheiten konstant in die Augen und lächelt dazu?
    Niemand. Die Erkenntnisse helfen meist zur Bescheidenheit.

  • Michael sagt:

    Ich find das immer zu cool, wer sich alles so welche Gedanken über das Erwachsenwerden macht. Wann ist diese Zeit überhaupt, die Zeit des Erwachsenwerdens ? Als ich jung war, haben meine Kollegen und ich uns kaum Gedanken über später gemacht. Wir haben das Leben und die täglich grösser werdenden Freiheitsgrade in vollen Zügen genossen. Was war das toll, endlich einen Führerschein und ein kleines altes Auto sein eigen zu nennen – Europa, wir kommen. Das einzige was wir noch im Hinterkopf hatten war, das wir für kommende Zeiten eine vernünftige Ausbildung benötigten. Ansonsten war das die unbeschwerteste beste Zeit meines Lebens; zumal ich noch das Glück hatte, diese in den Siebzigern zu erleben.

    • Roger sagt:

      @Michael: Diese Unbeschwertheit in der Jugend im Sinne von „Alles ist möglich“ ist was tolles und geht mit dem „älter werden“ etwas verloren. Dafür schätze ich mit 60 den Müssiggang und habe nicht mehr so das Gefühl, etwas zu verpassen. Wichtig ist, dass man neugierig bleibt egal in welchem Alter.

      • Christoph Bögli sagt:

        Geht sie das? Kann es nicht gar in die andere Richtung gehen? Ich fand jedenfalls, nüchtern betrachtet, einen guten Teil der Jugendphase viel beschwerter: Der ganze Stress von Schule und Studium, eine Art diffuser Leistungsdruck und gleichzeitig keinen klaren Plan, all die Fragen, was man eigentlich mit dem Leben anfangen will und ob sich gewisse Träume je erfüllen werden, z.B. einen gescheiten Partner, usw. Ein gutes Stück später find ich alles wesentlich unbeschwerter: ein paar Abschlüsse und Leistungen vorzuweisen, etwas Geld auf dem Konto, gezeigt, dass man nicht völlig unfähig ist bei Partnersuche und Beziehungen, mehr Zeit und nicht ständiger Druck mit Prüfungen und anderen fremdbestimmtem Unsinn. Wenn man die Jugend nicht verklärt dann ist das meiste nun viel entspannter..

      • Roger sagt:

        @Roger: könnten wir uns darauf einigen, das Sie Roger sind und ich (9:01, 7:02, 11:53) Roger H?

  • Anh Toàn sagt:

    „….wonach mehr als die Hälfte der «Zeit» schon vertrödelt worden sei, zusammen mit der Angst, den Rest auch noch zu vertrödeln. Aber was sollen wir gegen diese Angst tun?“

    Wenn wir unsere begrenzte Zeit nicht vertrödeln wollen, brauchen wir zuerst mal einen Sinn und Zweck unseres Daseins: Auf welches Ziel sollten wir denn Aktivitäten richten? Mit Gott und so haben’s wir ja nicht mehr! Reich werden? Wäre dies nicht auch Zeit vertrödelt? Wenn unser Dasein keinen höheren Zweck hat als unser Sein, ist unser Sein an sich vertrödelte Zeit.

    Ich könnte meine Zeit vertrödeln mit die Welt vor dem Klimakollaps retten, damit die Menschheit noch länger auf ihr Zeit vertrödeln kann. Oder Kinder machen, die dann ihre Zeit vertrödeln.

    • Anh Toàn sagt:

      Rocky Horror Picture Show:

      Was bleibt der menschlichen Rasse, verloren in Raum, Zeit und Bedeutung:

      „Rose Tint My World“

      „Now the only that gives me hope
      Is my love for a certain dope
      Rose tints my world keeps me safe from my trouble and pain.
      ….
      Now the only thing I’ve come to trust
      Is an orgasmic rush of lust
      Rose tints my world keeps me safe from my trouble and pain.
      Give yourself over to absolute pleasure
      Swim the warm waters of sins of the flesh
      Erotic nightmares beyond any measure

      And sensual daydreams to treasure forever
      Can’t you just see it?

      Don’t dream it – be it.

  • Dodimi sagt:

    Ach wenn alles so einfach erklärbar wäre… Ich zähle mich zu den erklärten Müssiggängern im Diesseits. Diese Gesellschaft, dazu meine Eltern gehörten, pfropfte mich zeitig voll, dass Einer, der nichts tut eben ein „Tu-Nicht-Gut“ ist. Autoritär erzogen und konditioniert erlebte ich Müssiggang als etwas verwerflich, negatives, der Gesellschaft nicht dienend.“Sie wollen doch Karriere machen ODER?“ Trotz attestierter Intelligenz wollte ich eben nicht! Ich blieb müssig und-gängerisch, weils meinem Naturell entspricht. Nur,wie erklärt man dies einer Gesellschaft, die nur immer hastet, nie Zeit hat, immer auf Erfolg getrimmt ist und wird. Wieviele Kreative, die nur dank eines Müssiggangs bereichernd waren, gingen an diesen Mass-Stäben kaputt? Pensioniert nun,bleibe ich Müssiggänger!!!

    • Boris Laplace sagt:

      Ein Mensch, der keinen Sinn für den Müssiggang hat, ist noch nicht wirklich Mensch geworden: Selig sind daher die Stunden der Untätigkeit, denn in ihnen arbeitet unsere Seele! Wo alle Aktivitäten ruhen, wird nämlich doch noch etwas getan; aber nicht mehr vom planenden und berechnenden Ich, sondern von der Seele. Gerade weil ich nichts tue, geschieht etwas. Und dies lässt mich erst zu einem wirklich ganzheitlichen Menschen werden – eine Reifung, deren Ausbleiben sich gerade in der Midlifecrisis mit unausweichlichem Nachdruck aufdrängt.
      Bleiben Sie also bitte Müssiggänger, Dodimi!

  • Laura Fehlmann sagt:

    Über das Erwachsenwerden und -sein machte ich mir nie Gedanken – ich lebe einfach. Man bleibt ja immer die gleiche Person.

    • Peter Aletsch sagt:

      Dann musst Du noch jung sein. Wer viel Kreativität und Poesie hat, verliert viel davon. Wer nicht hatte, bleibt so. Wobei ich letzthin, als ich einen alten Freund zufällig traf, mich oder uns zwei als Kindsköpfe deklassierte, wegen gewissen Aspekten unseres Verhaltens. Skaten, Skateboarder, Trotinettfahren sollte man eigentlich nicht mehr ab 24. Andererseits ist der Mensch ein neotenischer Affe, d. h. zumindest seine Gesichtsform ist und bleibt die eines plurikreativen Kleinkindes, was sich auch im Verhalten ausdrückt. Die Kunst ist, zu reifen und distinguiert zu werden, aber gleichzeitig interessiert, spielerisch, neulernend, beweglich zu bleiben.

      • maia sagt:

        „Skaten, Skateboarder, Trotinettfahren sollte man eigentlich nicht mehr ab 24. “ – Warum?

        • Dodimi sagt:

          gute Frage…warum eigentlich nicht?
          Ich bin bald 70 und mir scheint etwas wiederfahren, was bei einem meines Alters eigentlich nicht passieren sollte, oder?!. Ich bin „Playmobil“-Fan geworden – durch mein nun 6-jähriges Patenkind. Bis dato wäre es mir nicht in den Sinn gekommen mich für so etwas herzugeben. Jetzt erlebe und lebe ich durch meinen „Sonnenschein“ eine Zeit, die ich so in meiner Kindheit nicht kennengelernt habe. Zum Teufel mit den Alters-Konventionen…es macht mir Spass mit „meinem“ Kleinen zu spielen und that’s it!

  • andy sagt:

    Auch die äußerste Freiheit wird wohl dem einzelnen und dem Staat sich in nichts anderes umwandeln als in die äußerste Knechtschaft. […] So kommt denn natürlicherweise die Tyrannei aus keiner andern Staatsverfassung zustande als aus der Demokratie, aus der übertriebensten Freiheit die strengste und wildeste Knechtschaft.
    Platon (427 – 348 od. 347 v. Chr.), lateinisch Plato, griechischer Philosoph, Begründer der abendländischen Philosophie

  • Ralphi sagt:

    Erfreuet euch des Lebens und nutze den Tag, statt immer rumzumosern……

  • Carolina sagt:

    Vielleicht hilft ein Rückblick: meine Eltern und vor allem Grosseltern waren direkt vom Krieg betroffen, in z.T. für uns unvorstellbarer Weise. Eine gute Freundin von mir hat im Bosnienkrieg drei Brüder verloren, ihre Mutter ist daran zugrunde gegangen. Soweit müssen wir also gar nicht schauen, um uns darüber klar zu werden, dass eine Midlife Crisis in der Schweiz ein gewisses Luxusproblem darstellt. Und irgendwo scheint ja auch in vielen Kommentaren hier ein ganz leichtes schlechtes Gewissen mitzuschwingen, im Sinne von: darf ich mir Müssiggang wirklich erlauben bzw soll das alles gewesen sein?
    Diese Frage kann man sich wirklich nur selber beantworten, sie wird nie von anderen für uns beantwortet. Daraus resultiert vielleicht eine gewisse Demut – und die hilft sehr (mir jedenfalls).

    • Wäis Kiani sagt:

      Absolut. Wenn man echte Probleme hat, kommt man gar nicht dazu, sich den Kopf über die Vergänglichkeit der Jugend und dem Sinn des Lebens zu zerbrechen. Existenzsorgen und Überlebenskampf hilft auch dabei. Aber man kann sich seine irdische Existenz nach der Geburt nicht mehr gross ändern, man macht sich die Gedanken in der Welt in der man nunmal steckt… überall wird einem Demut beigebracht.

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