«Für die Entwicklung von Kindern ist Wut zentral»

Jedes Kind muss lernen, dass nicht alle seine Wünsche in Erfüllung gehen. Foto: Getty Images
Frau Risch, Sie arbeiten als Familienberaterin nach den Grundhaltungen von Jesper Juul und bieten Workshops mit dem Titel «Tut Wut gut?» an. Warum liegt Ihnen dieses Thema so sehr am Herzen?
Wut hat in unserer Gesellschaft keinen guten Ruf. Dabei bedeutet sie Lebenskraft. Sie zeigt, was uns fehlt, hilft uns dabei, Ziele zu erreichen und Grenzen zu setzen, schützt uns vor Gefahr und bringt Lebendigkeit und Klarheit in Beziehungen. Für die kindliche Entwicklung ist sie zudem elementar. Doch für viele Eltern ist der Umgang mit wütenden Kindern nicht einfach. Schnell verunsichern uns diese, weil wir selbst als Kinder oft keine Vorbilder hatten, um den konstruktiven Umgang mit Wut zu lernen. So fehlt uns manchmal das Gefühl für die gesunde Normalität und Wichtigkeit der Wut.
Streben wir mit unserem heutigen pädagogischen Weltbild vielleicht ein zu harmonisches Zusammensein an, in dem es für Kinder zunehmend schwierig ist, Platz für ihre inneren und äusseren Konflikte zu finden?
Ja, von Kindern wird oft erwartet, dass sie im stressigen Alltag einfach funktionieren. Das tun sie oft auch, aber zum Glück nicht immer. Wenn Kinder gesehen und gehört werden, sind sie sehr kooperativ, denn sie wollen nichts mehr als dazugehören und für die Gesellschaft wertvoll sein. Müssen sie aber – sei es zu Hause oder in der Schule – ihre Persönlichkeit allzu oft klein halten, gehorchen und sich anpassen, machen sie das auf Dauer nicht mit. Im Alltag der Erwachsenen muss es oft schnell gehen, und Gefühlsausbrüche der Kinder sind selten gern gesehen. Kinder sollten aber erleben, dass ihre Wut genauso willkommen ist wie die Freude. Und dass ihnen jemand dabei hilft, den Umgang mit ihr zu lernen. Stattdessen reden wir oft auf Kinder ein, weil es uns schwerfällt, ihre starken Gefühle auszuhalten.
«Kinder sollten erleben, dass ihre Wut genauso willkommen ist wie die Freude.»
Was sollten wir stattdessen tun?
Da Wut ansteckend ist, ist es wichtig, den Fokus zuerst auf uns und unsere Empfindungen zu lenken, um nicht von jenen des Kindes überschwemmt zu werden. Wir brauchen Strategien, wie wir uns selber beruhigen können, um dann das Kind durch seine Gefühle zu begleiten. Dabei kann es hilfreich sein, uns zu zentrieren und zum Beispiel zu beobachten, was unsere Hände gerade tun oder wie unser Atem fliesst.
Manche Eltern schicken tobende Kinder auf den «stillen Stuhl», wo das Kind über sein Verhalten nachdenken soll. Was machen stille Stühle und andere Strafen mit Kindern und ihrer Wut?
Was lernt ein Kind, das bestraft wird? Dass Macht regiert, der Stärkere gewinnt und Wut falsch ist. Vermutlich auch, dass es so wie es ist, nicht richtig ist. Dies ist der Entwicklung eines guten Selbstwertgefühls sicher nicht zuträglich.

Maya Risch hat 20 Jahre als Kindergärtnerin und Naturpädagogin gearbeitet. Vor vier Jahren hat sie sich als Familienberaterin selbstständig gemacht. Seitdem leitet sie Elternkurse, berät Eltern und Familien in ihrer Zürcher Praxis und hält Referate zu verschiedenen Erziehungsthemen. Vor gut einem Jahr erschien ein Beitrag von ihr zum Thema Eigenverantwortung bei Kindern im Mamablog. Foto: zvg
Was geschieht mit einem Menschen, der seine Wut anhaltend unterdrückt?
Sie wird nicht verschwinden, sondern grösser werden, und unkontrolliert einen Weg nach aussen oder innen finden. Bei rund der Hälfte der Menschen richtet sie sich gegen aussen: Sie werden grob, schreien, beleidigen, schlagen. Die anderen implodieren, verstummen, bis hin zur Depression.
Was würde mit einer Gesellschaft geschehen, in der Wut ausgemerzt wird?
Ich denke, dass ein solches Zusammenleben zunehmend zerstörerische Formen annehmen würde. Vielleicht würde die Gesellschaft aber auch lahmgelegt, weil keine Energie mehr da wäre, keine Entscheidungen mehr getroffen, keine Gefühle mehr gezeigt würden.
Wie also soll ein Vater auf eine tobende Dreijährige reagieren, die so wütend ist, weil er ihr kein weiteres Glace erlaubt?
Wichtig ist, mit dem Kind im Kontakt zu bleiben und sein Verhalten auszuhalten. Denn Kinder wollen das Eis und den Kontakt. Kleine Kinder können ihre Wut noch nicht regulieren. Der Vater aber kann sie benennen: «Ja, ich sehe, wie wütend es dich macht, dass du kein Eis mehr bekommst. Das ist ok.» Oft wollen wir Eltern die Wut «wegmachen», weil wir uns provoziert fühlen. Dem Kind geht es aber um etwas anderes: Es steht für seinen Wunsch ein und kämpft nicht gegen uns, sondern für ein Eis.
«Wut verschwindet nicht, sondern findet unkontrolliert einen Weg nach aussen oder innen.»
Wie reagiere ich auf einen Zehnjährigen, der auf die Aufforderung, für heute das Handy abzustellen, «Ihr seid die blödesten Eltern der Welt!» schreit und die Türe zuknallt?
Die Eltern haben ihre Verantwortung wahrgenommen, geführt und sind klar geblieben. Sie könnten sich darüber freuen, dass ihr Sohn, der ja einen guten Grund hat, wütend zu sein, schon gelernt hat, seine Wut zu regulieren und ihn in Ruhe lassen. Gespräche sind im Moment akuter Wut sowieso meist weder sinnvoll noch möglich. Wir sollten das Gespräch suchen, wenn sich die Lage wieder beruhigt hat. Dann können wir dem Sohn sagen, dass wir seine Wut verstehen und diese ok ist. Und was wir uns anstelle des Türenknallens von ihm wünschen. Wir können ihn auch fragen, ob er eine Idee hat, wie wir das mit dem Handy abstellen besser regeln könnten.
Das klingt alles sehr einleuchtend. Doch dann gibt es ja auch die Abende nach einem strengen Tag, an denen noch immer kein Essen auf dem Tisch steht und die Wohnung aussieht, als sei sie explodiert. Und wenn dann die Kinder auch noch streiten, hört man sich plötzlich schreien. Ist das nun schlimm oder einfach total authentisch?
Ja, solche Tage gibt es wohl in allen Familien. Problematisch wird es, wenn sich solche Ausbrüche häufen. Dann stehen wir in der Verantwortung, an unserem Tagesablauf, unserer Haltung oder unserer Belastung etwas zu ändern, besser für uns selbst zu sorgen oder Beratung zu holen. Je nachdem, was ich schreie, bin ich authentisch oder abwertend. Authentisch sind Inhalte wie «Ich hatte einen superanstrengenden Tag und will, dass du mir hilfst, den Tisch zu decken.». Nicht zu empfehlen ist: «Könnt ihr nicht einmal machen, was ich sage?» Das ist verletzend und hat nichts mit Authentizität zu tun.
Der nächste Workshop «Tut Wut gut?» findet am 1./22.9.2020 in Zürich statt. Weitere Informationen finden Sie unter mayarisch.ch.
19 Kommentare zu ««Für die Entwicklung von Kindern ist Wut zentral»»
Ich hatte einen impulsiven Vater, der viel Wut mit sich rum trug. Logischerweise haben wir Kinder das geerbt, denn nichts ist so stark wie die Gene. Meinen Kindern habe ich daher schon sehr früh immer wieder erklärt, warum ich explodiere mit dem Resultat, dass sie beide besonnener sind. Die Reflexion ihres Vaters scheint ihnen geholfen zu haben. Trotzdem halte ich die Ratschläge zum Verhalten der Eltern bei Glacé- und Handyverlangen der Kids für falsch. Ein klares Wort darf durchaus mal die Machtverhältnisse klar machen. Subordination mag niemandem schmecken, auch mir nicht immer, aber wer sie nicht lernt, büßt dafür in der Realität. Spätestens beim Eintritt in die Arbeitswelt. Und ausgelebte Wut ist dann ein schlechter Ratgeber.
Sehr gut geschrieben und für mich ist ihre Analyse richtig und realistisch.
Ich glaube heute ist es ein wenig zu heiss um solche heisse Themas zu entwickeln !
Machen wir dann wieder wenn es kühler ist.
Jedes Kind ist verschieden, auch in seiner sensibilität. Basta für heute !
Wann werden wir wütend? Wenn wenn ich verletzt und/oder überfordert bin, werde ich wütend. Ein Wutanfall löst allenfalls Spannungen, aber ist nicht wirklich nützlich gegen Verletztheit oder Überforderung: Kein lösungsorientiertes Verhalten. Wir sollten die eigene Wut nüchtern analysieren und an den Ursachen arbeiten, die Wut der Anderen mit Geduld ertragen: Bei Kinder fällt mir dies meistens leicht, mit Erwachsenen habe ich viel weniger Geduld: Da erwarte ich vom Gegenüber, was ich von mir erwarte, das ist falsch sogar bei Erwachsenen, sicher bei Kindern.
Danke. Sehr gut gesagt.
Bei den eigenen Kindern sollten wir auch die Ursachen finden….
Bei den anderen Menschen reicht es oft aus, wenn wir uns vergegenwärtigen, was Sie oben sagen….
Anhtoan : wir sprechen hier von Kinder.
Meinen Sie die Wut von Kindern hat andere Ursachen als die Erwachsener? Ich sehe auch bei Kindern Verletztheit (Wenn die ein Spielzeug, ein Eis nicht bekommen, verstehen sie das als Liebesetzug, sie haben „einen Korb bekommen“, das verletzt. Oder Überforderung. Also müssen wir als Eltern, wie @Roxy richtig ergänzt, uns nicht mit der Wut der Kinder beschäftigen, sondern sie in ihrer Verletztheit, Überforderung auffangen: Ich verstehe Deine Wut, ist normal, dass du so regierst, aber es gibt halt dennoch kein Eis.
Der Wutanfall ist überwunden, wenn sich unser Kind trösten lässt. Das halte ich für typisch bei kleinen Kindern zumindest.
Anh – du Wut über „bekomme nicht was ich will“ dauert 90sek. solange hält die Neurochemische Reaktion von Wut an.
Wenn das einen 20min Tobsuchtanfall auslöst bzw. das Kind Dauerwütend ist, sind die Ursachen eben tiefer und das nicht-bekommen-des-Glaces hat diese tieferen Ursachen nur getriggert.
Das meine ich mit: lernen die Ursachen zu verstehen.
@Roxy “ du Wut über „bekomme nicht was ich will“ dauert 90sek.“ und im Text: „…kämpft nicht gegen uns, sondern für ein Eis.“
Sehe ich gar nicht so, das Eis ist ziemlich unwichtig, wenn jemand anders ihm ein Eis verweigert, gäbe es keinen Wutausbruch. Es geht darum, dass ICH ihm ein Eis verweigere. Das kränkt ihn, das macht ihn wütend. Und dann dauert es manchmal auch länger. Er kann nun mal nicht verstehen, dass ihm (diesmal) kein Eis zu kaufen, oder noch deutlicher gesagt, ihn nicht auf die Autobahn lassen mit dem Tschalpi Velo, nicht gegen ihn gerichtet ist. Er nimmt es persönlich gegen sich, ihm geht es nicht um die Sache, es geht nicht ums Eis oder Spielzeugauto, es geht um meine Ablehnung (seiner Wünsche).
nun da stimme ich ja zu Anh Toin und freue mich erneut über Ihre Einsicht und danke dafür.
Es ist ein zwischenmenschlicher Konflikt
ein Beziehungskonflikt, der sich nun an einer eigentlich unwichtigen Sache entlädt
Vor allem, wenn die Wut zulange andauert, sind hier vielleicht noch andere Kränkungen im Spiel, die weder ihm noch ihnen bewusst sind. Das wollte ich sagen: ist die Wut überdimensioniert, sollte man seine Aufmerksamkeit darauf richten, an der Beziehung zu arbeiten.
In derselben Familie kann es ein Kind geben dass jähzornig ist und das andere ist eher gutmütig. Alle Charakter sind verschieden.
Jähzornig ist ja nicht das Gegenteil von gutmütig. Das angepasste Kind frisst evtl die Wut in sich hinein und gibt sich nach außen zufrieden, weil es merkt, dass die Wutausbrüche des Geschwisters nicht gern gesehen werden. Für das Kind ist es bestimmt viel besser, wenn es die Wut raus lässt. Geeignete Formen finden sich hoffentlich irgendwann im Verlaufe der Kindheit. Verborgene Wut richtet beim Kind selbst sehr viel mehr Schaden an. Ich finde es aber sehr sehr schwierig mit allen Emotionen meiner 3 Kinder klarzukommen. Viel mehr als Wutanfälle machen mir aber Handlungen / aus Eifersucht zu schaffen. Ständiges Konkurrieren zB. Oder das weitergeben der Einflüsse von Schule, Kindergarten und Co, sprich wenn man dort unter die Räder kommt, gibt man es daheim weiter…
Dass man in eine solchen Situation explodiert ist normal würde ich sagen. Man kann ja nicht alles hinunterwürgen ? Aber es sollte eher selten passieren sonst ist es ein Zeichen dass Mutter oder Vater oder beide einfach übermüdet sind. Und dann sollte man sich neu organisieren zuhause.
Vielleicht könnte eines halbtags arbeiten ?
Oder es kann jemand kommen um den Haushalt zu machen jeden Donnerstag oder Freitag. Man gibt den Schlüssel und wenn man heimkommt ist alles sauber und aufgeräumt. Kostet ja weniger als wenn die Frau nicht arbeiten würde ? Also ganztags wäre für mich ein no-go gewesen.
Ganz egal, sie Sie das interpretieren…. richtig ist, darum ist das Zulassen so wichtig: denn nur so kann man erkennen, dass es Handlungsbedarf gibt.
Ein dauerwütendes Kind zeigt an, dass es etwas zu ändern gibt.
Aufpassen würde ich mit dem „Charakter“. Charakter kommt vom Wort „Prägung“. Eltern und Umfeld prägen, aber das was dabei herauskommt ist nicht der genuine Charakter!
Hab zwei völlig unterschiedliche Kinder und dachte lange: angeborener Charakter. Heute weiss ich: sie haben verschieden auf Probleme reagiert und z.T. verschieden Fremdprägung adaptiert.
Ihr Beispiel: Das Jähzornige ist evt. sensibler oder der Wunsch nach Harmonie ist noch stärker… Jedenfalls IST es nicht jähzornig. Es ist nicht so geboren.
Man ist in der Psychologie überwiegend der Ansicht, der eigentliche Charakter ist unwandelbar angeboren. Allerdings kommt dieser angeborene, meinethalben genuine Charakter nach dem 1. Lebensjahr nicht mehr zur Anwendung, er wird von der Erziehung mit dem sog. empirischen Charakter überschrieben.
Oder so, der genuine Charakter wohnt im Unterbewusstsein, der empirische im bewussten Teil des Verhaltens.
Ja, Wut ist verpönt. Viele Gefühle sind es. Wir bekämpfen und verdrängen sie in einem fort – in uns selbst und erst recht in unseren Kindern im Namen der Erziehung. Dass man seinen Kindern einige ihrer Gefühle nicht zugesteht, sie als etwas Böses abtut, nicht als Botschaft, als Sprache zu verstehen versucht, ist eine Art von Misshandlung – und die Folgen davon sind nicht wünschenswert: Nicht für das Kind selbst, nicht für sein Umfeld und langfristig auch nicht für die gesamte Gesellschaft, denn verdrängte Wut nimmt destruktive Züge an, bisweilen extrem destruktive. Nur der allerdings kann seinen Kindern ihre Gefühle zustehen, der sie auch sich selbst zugesteht. Man lese dazu die Werke von Alice Miller, ich kann sie nur empfehlen, sie sind wunderbar!
@Sonusfaber :absolut einverstanden mit Ihnen. Aber das „zwängeln“ kann einem schon auf die Nerven gehen.
Man muss auch nicht alles akzeptieren.
Tut mir leid dass mein Text hier oben 2x gedruckt wurde !
Unterdrückte Wut – eindrücklich in den Filmen „phantastische Tierwesen…“ (Harry Potter Prequel) dargestellt, wo diese unterdrückten Gefühle zu einem zerstörerischen „Obskurus“ heranwachsen.