Wenn Kinder unbemerkt für ihre Eltern sorgen

Die Not von Kindern psychisch kranker Eltern ist oft unsichtbar. Ein Grund mehr, weshalb wir uns nicht nur für die eigenen Töchter und Söhne interessieren sollten.

Haushalten, um zu helfen: Viele Kinder fühlen sich für die Erkrankung der Eltern verantwortlich. Foto: Getty Images

Ich glaube, ich war etwa acht, als mein Schulgspändli Andi mich über Mittag mal mit zu sich nach Hause nahm.

Ich, die gewohnt war, dass das Mittagessen beim Heimkommen ordentlich auf dem Tisch steht, war erstmal ziemlich überrascht ob der fremden Welt, die mir dort entgegenschlug. Und ebenso fasziniert von seiner Mutter, die auf dem Sofa sass und einzig «Oh, ihr seid schon da…» murmelte, bevor sie sich wieder in sich selbst zurückzog.

Doch als Andi und ich ganz alleine Omeletten brutzelten und diese genauso alleine assen, fühlte ich mich wie Pippi Langstrumpf in der Villa Kunterbunt, und ich war mir sicher, dass dieses abenteuerliche Essen der Beginn einer wunderbaren Freundschaft ist. Doch dem war nicht so. Andi lud mich nie wieder zu sich ein. Schlimmer noch: Ab diesem Tag wich er mir regelrecht aus, was ich nicht verstand und mich traurig machte.

Zu grosse Verantwortung für Kinderschultern

Erst viel später fiel mir auf, wie bedrückt der eben noch so fröhliche Andi wurde, als seine Mutter so gar nicht auf uns reagiert hatte. Und dass er das Mittagessen wohl darum so routiniert zubereitet hatte, weil er dies oft und nicht einfach aus Spass am Kochen tat. Erst viele Jahre später erkannte ich in Andis Mutter eine depressive Frau. Und verstand, dass Andi mir wohl darum aus dem Weg gegangen ist, weil er sich für das offengelegte Geheimnis schämte. Erst Jahrzehnte später lernte ich den Begriff «parentifizierte Kinder» kennen. Damit sind Kinder gemeint, die in einer Rollenumdrehung leben und für ihre Eltern, sich selbst und nicht selten für das ganze Familiensystem eine viel zu grosse Verantwortung tragen, weil die Eltern nicht dazu in der Lage sind.

Gemäss dem Kinderpsychiater Kurt Albermann leben in der Schweiz bis zu 300’000 Kinder, bei denen mindestens ein Elternteil psychisch krank ist. Zwei Drittel dieser Kinder fallen in der Schule, im Hort oder in der Nachbarschaft durch ihr Verhalten oder Lernschwierigkeiten auf. Dadurch wird nicht selten ein Heer von Psychologen, Sozialarbeitern bis hin zur KESB aufs Feld gerufen, was der Not der Kinder im besten Fall eine Stimme verleiht.

Solange diese Kinder die Probleme auf ihre Kappe nehmen, müssen sie ihre Eltern nicht infrage stellen.

Doch von diesen Kindern soll heute nicht die Rede sein. Heute möchte ich von jenem Drittel Kinder psychisch kranker Eltern reden, welches gegen aussen keine Auffälligkeiten zeigt. Kinder, die häufig angepasst und äusserst pflichtbewusst sind und deren Familien durchaus intakt scheinen. Kinder wie Andi, die mit einer stillen, aber umso heimtückischeren Überlebensstrategie durch ihre Not gehen. Solange diese Kinder die Probleme auf ihre Kappe nehmen, müssen sie ihre Eltern nicht infrage stellen. Solange sie im Haushalt helfen, gute Noten schreiben, ihr Zimmer aufräumen und auch sonst keinen Ärger machen, glauben sie, ein Stück Macht zu besitzen und den Eltern bei der Genesung zu helfen. Schliesslich muss der Grund ihrer Trauer, Erschöpfung oder Wut doch bei ihnen liegen! Davon sind Kinder in ihrer Abhängigkeit und Egozentriertheit ja leider fast immer überzeugt.

Ein Tabu auf Kosten der Kinder

Dieser Weg hat einen hohen Preis, sofern er von niemandem erkannt wird. Denn in diesem viel zu engen Korsett aus Schuldgefühlen und Überforderung wird ihre eigene lebendige Basis erstickt. Diese Kinder lernen nicht, ihre Gefühle ernst zu nehmen, sondern verknüpfen ihr Bedürfnis nach Liebe mit dem Erbringen von Leistung. Der dadurch früh angesiedelte Leistungszwang mündet in ihrem Erwachsenenalter nicht selten ebenfalls im Burnout oder einer Depression. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch sie psychisch erkranken, ist hoch.

Früh haben solche Kinder verinnerlicht, dass man in der Öffentlichkeit zwar über Beinbrüche, aber nicht über Trauer, Angst und Gewalt redet. Schon gar nicht über jene ihrer Eltern, deren Integrität und Liebe sie durch ihr Schweigen zu schützen versuchen.

Denn psychische Erkrankungen sind nach wie vor ein Tabu. Und psychisch kranken Eltern fällt es selbst ganz besonders schwer, dieses zu durchbrechen. Die Scham und die Angst sind zu gross. Zudem ist es für Menschen, denen bereits die Zubereitung einer Mahlzeit zu viel ist, oft unvorstellbar schwer, sich Hilfe zu holen, sodass eine Veränderung immer schwieriger wird.

Was also können wir für diese vergessenen Kinder tun, deren Leiden so schwer erkennbar ist? Keinesfalls darf es nun darum gehen, jedes Kind nach unauffälligen Auffälligkeiten zu scannen. Doch jede liebevolle Beziehung ausserhalb des Systems stärkt ihre Resilienz. Jeder ehrlich interessierte Blick kann matchentscheidend sein, ob sie an dieser Herausforderung wachsen oder zerbrechen werden. Ein Grund mehr also für uns alle, uns nicht nur für die eigenen Kinder zu interessieren.

Erleichternde Wahrheiten

Ausserdem sollten wir lernen, über psychische Krankheiten mit der gleichen Selbstverständlichkeit zu reden, wie wir das über eine Bänderzerrung tun. Wenn wir aufhören, diese künstliche Grenze zwischen körperlich und seelischer Not zu ziehen, die eine als berechtigt und die andere als «das darf nicht sein» zu kategorisieren, wäre ein grosser Schritt in die richtige Richtung getan.

Wenn Kinder eines Tages dem Lehrer oder der Nachbarin genauso frei erzählen, dass der Papa an einer Depression leidet, wie, dass er sich das Bein gebrochen hat, schützen sie ihre Eltern nicht weiter durch Schweigen. Und sie könnten sich damit aus einer Verantwortung befreien, die sie nicht zu tragen haben.

So könnten aus unsichtbaren Kindern Kinder werden, die endlich bekommen, was sie und ihre Eltern so dringend bräuchten: Gesehen zu werden als die Menschen, die sie sind. Mit allem, was zu ihnen gehört. Und nicht nur mit dem, was gesellschaftlich anerkannt ist.

Weitere interessante Postings:

Dieser Beitrag ist neu unter www.tagesanzeiger.ch/wwenn-kinder-unbemerkt-fuer-ihre-eltern-sorgen-275643777244 zu finden.

43 Kommentare zu «Wenn Kinder unbemerkt für ihre Eltern sorgen»

  • diva sagt:

    wenn ich das lese, kommt mir mein sek-lehrer in den sinn. wir hatten drei mädchen in der klasse, von den wir wussten, dass zuhause gesoffen und geprügelt wird. sie waren genau wie dieser andi… aber unser lehrer hatte einen guten riecher und so durften die drei immer wieder mal ein wochenende zu ihm und seiner frau nach hause, wo sowas wie normalität erlebten, gutes gesundes essen, gespräche. er war auch sonst für sie da, wenn sie hilfe brauchten.
    heute würde man so einen lehrer unlauterer absichten denunzieren. er war für die drei lebenswichtig. er gab ihnen, was geben konnte. sie haben es alle geschafft, sich aus dieser lage zu befreien, in dem sie gute schülerinnen waren mit seiner hilfe, eine lehre machen konnten und dann ausziehen

  • Marco sagt:

    Vielen dank für diesen einfühlsamen artikel! Mein sohn war auf grund der erkrankung seiner mutter einige zeit in genau der rolle die sie beschreiben. Auch wenn das nun schon einige jahre her ist sind die spuren noch immer zu spüren.
    Ich bin glücklich wenn auch nur einige wenige sich den rst zubherzen nehmen auch auf die kinder in ihrer jeweiligen Umgebung zu achten und ihnen mit liebe und interesse zu begegnen.

  • Markus Dobler sagt:

    es ist mitunter nicht damit getan, dass betroffene Kinder endlich gesehen werden. Die Konsequenzen dieser Kindheit reichen viel weiter, denn Kinder von gesunden Eltern werden besser gefördert und kriegen dann die besseren jobs, sie erben mehr oder können durch Erbvorzüge Eigentum aufbauen (sprich Immobilien). Kinder kranker Eltern bleiben in der Regel auf Schulden sitzen und bezahlen als Erwachsen die Pflegeinstitutionen ihrer Eltern. Diese Ungerechtigkeiten sind gesellschaftlich gewollt – diese gilt es zu ändern, alles andere ist Geschwätz.

  • Raimondo Civetta sagt:

    Die emotionale Unfähigkeit, sich mit Kindern zu befassen, kommt auch ohne begleitende Depressionen vor. Eher als betroffene Väter, sind Mütter instinktiv und hormonell bedingt oft dennoch in der Lage, sich anfänglich einigermassen um ihre Kinder zu kümmern. Der nötige soziale, und psychologisch-pädagogische Austausch mit ihren Kindern ist jedoch schwer gestört oder völlig inexistent, was Vernachlässigung gleichkommt und oft besonders bei den Erstgeborenen zu Parentifizierung führt (die Kinder versuchen zunehmends, die von den Eltern eher wahrgenommenen, ernst genommenen Erwachsenenrollen zu erfüllen).

  • Isabella sagt:

    Meine Mutter hat ebenfalls eine bipolare Störung. Sie war im Abstand von jeweils drei Jahren für durchschnittlich ein halbes Jahr in der Klink.Ich war auch ein sehr angepasstes Kind.Ich übernahm sehr früh die Rolle meiner Mutter und fand das völlig normal.Auch war die Angst sehr gross,dass wir aus unserem gewohnten Umfeld heraus gerissen würden.Meinen Nachbaren verdanke ich aber wirklich sehr viel.Sie haben mir ein Stück Normalität und Geborgenheit gegeben in der Zeit wo mein Vater arbeite.Wir konnten dort essen und es wurde uns zugehört.Heute bin ich 45 Jahre alt und lebe mein Leben.Sicher hat mich die Krankheit meiner Mutter geprägt.Aber nicht nur negativ,ich habe früh gelernt selbständig zu sein und weiss wie wichtig meine Nachbaren für meine Resilienz waren.Dafür bin ich sehr dankbar!

    • snake1234 sagt:

      liebe Isabella. Wie recht Sie haben, wir Kinder mussten zwar einiges mitmachen, konnten aber auch Stärke gewinnen. Hilfreich sind andere Bezugspersonen, mit welchen ein Kind sprechen kann und die Acht geben, wann es zuviel wird. Es sollte jemand geben im Leben des Kindes, dem es vertraut, der Scham, Schmerz und Erschöpfung auffängt und dem Kind ein Gefühl von Sicherheit gibt.

  • Mutter, erst recht ?! sagt:

    Danke für diesen Artikel. Ich bin um jeden Artikel, der die Thematik aufnimmt dankbar. Ich selbst bin bipolar. Und Mutter. Nach einer Psychose (kann aus Manie entstehen) und Klinikaufenthalt wurde ich bipolar diagnostiziert. Es war sehr sehr schwer, dies zu akzeptieren. Sehr. Weil ich v.a. nicht wollte, dass meine Familie und mein Umfeld nochmals „sowas“ erleben müssen, willigte ich nach monaten der Medikamentösen Behandlung zu. Seither bin ich massiv stabiler.
    Mein Kind kommt nun in die fünfte Klasse. Wir haben eine gute Verbindung, ein Beistand begleitet uns, viele Eltern seiner Gspänli wissen um meine Diagnose, der Vater ist für das Kind da, es hat weitere gute Bezugspersonen. Trotzdem mache ich mit oft Gedanken, ob ich es sicher nicht parentifiziere? Ob es Schaden „von mir“ nähme?

    • Miu sagt:

      es gibt einen grossen Unterschied zwischen Ihnen und Eltern die ihre Kinder parentifizieren: Ihr Bewusstsein, Ihre Reflektion, Ihre Gedanken fürs ganze System….viel kraft weiterhin!

      • Eva D sagt:

        So, wie Sie es beschreiben, Mutter Erst Recht, kann Ihr Kind gestärkt aus der Situation hervorgehen. Das Kind geht nicht unter, sondern wird in seinen Bedürfnissen genauso ernst genommen, wie Sie. Alles Gute Ihnen und Ihrer Familie.

      • snake1234 sagt:

        Sie machen das gut. Schlimm für Kinder ist, das Schweigen, Verstecken und die Scham. Ein offener Umgang mit der Erkrankung des Elternteils hilft sehr. Wichtig ist der Kontakt zu anderen Bezugspersonen für Mutter/Vater und Kind. Wie gesagt, sie machen das sehr gut.

  • Engadinerin sagt:

    Danke für den Artikel, ich bin auch so ein Kind, ein parentifiziertes. Nach einem Selbstmordversuch meiner Mutter, den ich beobachtet habe und dann den Notarzt alarmiert habe hat dieser (Arzt) mir erklärt, es sei nur halb so schlimm, meine Mutter wolle nicht sterben, sie wolle einfach nicht mehr leben (???). Ein paar Tage später kam der Pfarrer vorbei, es gab EIN Gespräch zwischen ihm und Mutter, das ist alles was je passiert ist. Suizidversuche gabs noch mehr, ich hab stundenlang auf sie eingeredet und ihr erklärt warum das Leben lebenswert ist. Hab mir immer gewünscht, jemand kommt, hilft, nimmt uns ihr weg, Vater? Aber wär das besser gewesen??? Und ja, ich bin labil, perfektionistisch, hatte Burnout, das Leben ist ein ständiger Krampf, nie „locker-flockig-unbeschwert“. Ein Kreuz…

    • Miu sagt:

      …. und so stark, das alles überlebt zu haben.. ich kenne die Folgen solchen Terrors aufs weitere Leben gut und es es ist ein langer und nicht einfacher Weg….

  • Esther sagt:

    Ich wünsche von Herzen allen die hier ausgesagt haben eine viel bessere Zukunft mit viel Liebe. Es tut weh dies zu lesen, weh dass niemand aber auch nieman reagiert hat im positivem sinne.

  • snake1234 sagt:

    vor fünfzig Jahren ist es mir genau so ergangen wie Andi. Ich bezeichne uns als vergessene Kinder. Ärzte, Nachbarn, Lehrer Verwandte alle sehe, dass da ein Kind in der Familie ist, doch niemand kümmert sich. So lange die Kinder unauffällig sind – und viele geben sich sehr viel Mühe damit – interessiert sich niemand dafür. Dass dies auch heute noch so ist, erschüttert mich tief. Dieser Umstand spricht für die grosse Hilflosigkeit im Umgang mit den betroffenen Kindern. Dabei wäre es einfach: Wahrnehmen, Gefühl „Du bist nicht allein“ vermitteln und ganz wichtig: „Du hast nichts falsch gemacht. Du musst Dich nicht schämen“. Dane für den Artikel

    • Esther sagt:

      Danke für Ihre Aussage, es tut weh das zu lesen. Eben die Nachbarn versteht man nicht, warum lassen sie es einfach sein ? Was für eine erbarmungslose Kindheit. Hoffe est geht Ihnen heute gut.

  • Oliver Halter sagt:

    Ja, das ist ein wichtiges und riesiges Thema. Meine Mutter war wohl, was man Borderline nennt? Hat uns jeweils unterstellt, das wir sie tot wünschen. Meiner Schwester einer Axt in die Hand gedrückt, damit sie ihr den Kopf abschlage. Hat uns geschlagen, ist ausgerastet.

    • schmerzkörper sagt:

      …sehr ähnliches habe ich auch erlebt…. auch mit dem tod…das mit der axt ist unfassbar…. viel kraft

  • FrauQ sagt:

    Muttis Liebling. Wow, ich staune über ihr Fachwissen. Toll, dass Sie es in dieser freundlicher Form mit uns teilen.

    Mein Vater ist Bipolar (das volle Programm). So viel zum Thema, dass „diese Patienten“ keine Familie haben. Sie wissen aber bestimmt, dass besonders die Manien häufig erst Ende 20 das erste Mal auftreten, da war man bereits einige Jahre zeugungsfähig.

  • Maria Sah sagt:

    Das Tabu geht im Grunde schon damit los, dass manche Leute jegliche Abweichung per se als krank betrachten und sei sie auch noch so irrelevant.

  • Eva D sagt:

    Ich möchte ergänzen, dass Fachpersonen, die mit kranken resp. nicht oder nur teilweise „funktionierenden“ Erwachsenen zu tun haben, in der Pflicht stehen, nach allfällig vorhandenen Kindern und deren Befinden zu fragen und dafür zu sorgen, dass diese Unterstützung bekommen. Und zwar ohne Vorwurf an die Erwachsenen, sondern im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung der Situation, also Inklusion aller Betroffenen.

    • Rosa sagt:

      So lange aber diese Kinder „funktionieren“ und alles unter Kontrolle haben (Haushalt, Essen, Schule) können auch Fragen nicht weiter bringen. Ich rede aus Erfahrung – meine Mutter war Alkoholikerin, mein Vater egozentrisch und Narzisst. Ich habe den Behörden gelogen, damit ich nicht weggenommen wurde. Das Haus das sauber, unsere Kleidung auch, meine Schulnoten hervorragend. Zum Glück konnte ich mit 19 weg von „zu Hause“. Kinder in dieser Konstellation sollten ohne Fragen unterstützt werden. Und am liebsten alleine, da solche Kinder ihre Eltern immer verteidigen werden.

  • Annika Keller sagt:

    Vielleicht eine Situation, die einen weitere Einblick gibt: Meine Mutter war hochfunktional depressiv. Das Essen stand immer auf dem Tisch, nach aussen war alles gut. Mein Vater verzog sich in seine Arbeit. Wir Kinder waren vereinzelt und einsam, Emotionen behielt man für sich. Ich habe mich nie gesehen gefühlt, ich wurde in meinen Bedürfnissen über Essen, Kleider, Hobbies hinaus (was man von aussen sieht) vernachlässigt. Wie schön wäre es gewesen, wenn meine Eltern eine Beziehung zu anderen Leuten zugelassen hätten, aber alle Nachbarn wurden schlechtgemacht, Vereine waren nicht möglich. Ich weiss nicht, wer mich hätte „sehen“ können. Ich war ein unproblematisches Kind, gut in der Schule, wenn auch nicht wirklich fleissig. Damit fällt man durch alle Maschen.

    • Bruno Mueller sagt:

      Ja, das ist so und das tut mir sehr leid. Und wie geht es Ihnen heute?

      • Annika Keller sagt:

        Grüezi Herr Müller, danke der Nachfrage.
        Ich habe mich nach meinem Auszug mit 19 für 11 Jahre durchgekrampft, immer studiert und gearbeitet undhatte nie ein Gefühl des Ankommens. Dann der Zusammenbruch, aus dem ich mich jetzt noch immer herauszuarbeiten versuche. Es ist schwer zu akzeptieren, dass meine Eltern mir was ganz wichtiges nicht geben konnten und ich jetzt lernen muss, dies zu tun. Es fühlt sich so unfair an und ich stehe mir mit den antrainierten Verhaltensweisen (mich und meine Gefühle nicht ernst zu nehmen) bei der Genesung häufig selbst im Wege. Ich hoffe, in einigen Jahren so weit zu sein, dass ich mit Stolz darauf zurückschauen kann, was ich geschafft habe. Hilfe zu suchen und hinzuschauen, bevor ich die Fehler meiner Eltern mit eigenen Kindern wiederhole.

    • Luna sagt:

      Liebe Annika
      Die Beschreibung Deiner familiären Situation triift die meine haarscharf. Falls Du Interesse hättest, Dich darüber auzutauschen, würde ich mich sehr freuen. Viel Kraft! Luna

  • Danielle Silberschmidt sagt:

    Sehr gut, dass Sie auf diese Kinder aufmerksam machen. Das Patenschaftsprojekt Ponto (www.ponto.ch) richtet sich genau an solche Kinder und ermöglicht ihnen unbeschwerte Zeit und eine stabile und verlässliche Beziehung zu einer weiteren Bezugsperson. Die Eltern erhalten durch die Patenschaft ein wenig Zeit für sich, können wieder Energie für den Alltag mit den Kindern gewinnen oder sich um ihre Gesundheit kümmern.

  • Anh Toàn sagt:

    Vielleicht noch schlimmer als Eltern mit psychischen Krankheiten sind wirklich schlechte Eltern, wobei das schlecht nicht berücksichtigt, dass die auch ihre Geschichte haben: Was wenn der Papa fast die ganze Zeit des Aufwachsens seiner Kinder im Knast verbringt und sich die Mama davon macht? Darüber zu reden, fällt Kindern noch viel schwerer. Krankheit ist ja Entschuldigung, was, wenn Kinder ihrer Eltern nicht entschuldigen können?

    Wenn Kinder eines Tages dem Lehrer oder ihren Freunden genauso erzählen, dass der Papa im Knast ist, wie das er sich das Bein gebrochen hat oder dass Mama Depressionen hat, wäre es einfacher.

    • Andrea Flückiger sagt:

      Wenn Kinder ihre Eltern nicht entschuldigen können, nehmen sie eben die Schuld für die Misere nicht auf sich. Wenn Kinder parentifizieren, übernehmen sie die Rolle der Eltern, die sie in Wirklichkeit gar nie ausfüllen können, und bleiben ohne befriedigende Elternbeziehung, und mit Selbsthass wegen ihres „Versagens“ zurück. Da kann es einfacher sein, den Vater zu verachten, weil er im Knast ist. Vor allem, wenn sonst für das Kind gesorgt wird.

      • Raimondo Civetta sagt:

        Die emotionale Unfähigkeit, sich mit Kindern zu befassen, kommt auch ohne begleitende Depressionen vor. Eher als betroffene Väter, sind Mütter instinktiv und hormonell bedingt oft dennoch in der Lage, sich anfänglich einigermassen um ihre Kinder zu kümmern. Der nötige soziale, psychologisch-pädagogische Austausch mit ihren Kindern ist jedoch schwer gestört oder völlig inexistent, was Vernachlässigung gleichkommt und oft besonders bei den Erstgeborenen zu Parentifizierung führt (die Kinder übernehmen die eher wahrgenommene, ernst genommene Erwachsenenrolle).

    • Anh Toan sagt:

      Und apropos Schuld übernehmen: Wenn Mamas Leben so schwer ist, sind die Kinder schuld. Wenn Mama eine Krankheit hat, darum &ML macht es Sinn, ist die Krankheit schuld, bzw. niemand. Mal weglassend, dass wir heute für Manche schuld sind an Krankheit, falsche Ernährung, zu wenig Bewegung. Bei Depressionen zu wenig Networking, zu wenig Spazieren, zu wenig Sonne.

    • Anh Toàn sagt:

      „Wenn Kinder parentifizieren, übernehmen sie die Rolle der Eltern,…“

      Und das können Kinder gegenüber jüngeren Geschwistern genauso. Übernehmen die Eltern die Verantwortung nicht, müssen die Kinder zu viel Verantwortung tragen. Und sei es nur für sich selber. Meistens werden sie dabei überfordert, und „versagen“ dabei, logischerweise, sind ja noch Kinder. Das Versagen mündet dann in Depressionen.

  • Muttis Liebling sagt:

    ‚Denn psychische Erkrankungen sind nach wie vor ein Tabu.‘

    Es gibt psychische Störungen und vielleicht psychische Krankheiten, aber sicher keine psychische Erkrankungen. Dass Übliche wie Burnout, die leichten bis mittleren Depressionen, ADHS sind definitiv keine Krankheiten.

    Kandidaten für psychische Krankheiten sind nur die schweren Formen von Bipolarität und Schizophrenie. Ich habe noch nie gesehen, dass solche Patienten Familie und/ oder Kinder haben.

    Man ist gut beraten, als Laie den Begriff ‚psychische Krankheit‘ nicht zu benutzen. Wenn überhaupt sind die so selten, dass die Wahrscheinlichkeit, als Nichtpsychiater mal eine gesehen zu haben, sehr gering ist.

    • Andrea Flückiger sagt:

      Im Ernst? Mir ist ein Kind bekannt, dass nach Jahren des Leidens von seiner schizophrenen Mutter getrennt wurde, und letztlich in ein Heim eingewiesen wurde, um es vor der Mutter zu schützen. Die Mutter konnte wohlverstanden nicht zur Behandlung ihrer Erkrankung gezwungen werden, war aber zur Gänze arbeitsunfähig. Von Eltern mit schweren Depressionen oder Alkoholismus und Drogensucht gar nicht zu reden! Wieso ausgerechnet Bipolare keine Kinder haben sollten, verstehe ich auch nicht. Zum Glück gibt es in grösseren Städten Unterstützungsangebote für Kinder psychisch kranker Eltern.

      • Muttis Liebling sagt:

        Alkoholismus und Drogensucht sind keine Krankheiten.

        Um Krankheit zu sein, muss eine Störung einen objektivierbaren Befund haben, der unabhängig von beobachtbaren Leiden ist. Nur z.B. schwere Schmerzen haben, halluzinieren, wahnhaft um sich schlagen oder elendig leiden, ist noch keine Krankheit.

      • Othmar Riesen sagt:

        Ihr Kommentar trifft überhaupt nicht den Sinn des Artikels. Uns allen ist ein Kind bekannt, dass dieses oder jenes Symptom aufweist oder auch nicht. Ihr Kommentat kommt herüber, als jemand, der Haare spaltet und keinerlei Empathie hat. Es tut mir so leid, das sagen zu müssen.

    • Carolina sagt:

      ML: Wie üblich, verlieren Sie sich in semantischen Feinheiten, ohne auf das eigentliche Thema einzugehen. Wenn wirklich an die 300.000 Kinder in der Schweiz (eine Null weniger wäre genauso schlimm) ohne wirkliche Unterstützung mit Eltern aufwachsen, die in irgendeiner Form nicht in der Lage sind, nach ihren Kindern zu schauen, ist es völlig unerheblich, ob es sich um eine Störung, eine Krankheit oder Befindlichkeit handelt. Keinem einzigen Betroffenen ist damit geholfen (ganz im Gegenteil), wenn man sich in Begrifflichkeiten verliert…….
      ‚Ich habe noch nie gesehen, dass solche Patienten Familie und/oder Kinder haben.‘: Das sagt eigentlich alles über Ihren Alltagsbezug!

      • Muttis Liebling sagt:

        Man kann beides, ein Problem beschreiben und dennoch die richtigen Worte benutzen. Wenn eine grob falsche Terminologie benutzt wird, steht zu vermuten, auch der Inhalt ist falsch. So halte ich weder 300’000, noch 30’000 derart betroffene Kinder für plausibel. Ich wüsste nicht einmal, wie man an derartige Zahlen gelangen sollte.

        Weder zu meinem, noch zu Ihrem Alltagsbezug gehören psychisch Kranke. Falls es die gibt, haben weder Sie noch ich je einen davon im Alltag gesehen. Dazu müsste man schon auf der Chronikerstation einer psychiatrischen Klinik arbeiten.

      • Tamar von Siebenthal sagt:

        @ Muttis Liebling

        Sorry, unter vielen Leuten habe auch ich einen Alltagsbezug zu psychisch Kranken. In meinem Fall handelt es sich um die Schwägerin meines Mannes mit hochgradigem Borderliner-Syndrom. Und ja: ging es nach ihr und ihrem Mann hätten sie ein Kind. Dass sie bisher zum Glück nicht schwanger geworden ist, beobachten alle in der Familie mit Erleichterung, weil alle wissen, dass sie nicht dazu in der Lage ist, ein Kind angemessen zu versorgen.

        Sie schwurbeln wieder einmal etwas, bringen für Ihre geliebte DDR üblichen Entsorgungsmethoden von psychisch Kranken ins Spiel und meinen, dass dies auch in Ländern üblich ist, welche gewisse ethische Standards haben.

      • Muttis Liebling sagt:

        Auch das Borderline- Syndrom ist keine Krankheit (was eigentlich schon der Begriff Syndrom sagt) und auch Sie haben noch nie einen psychisch Kranken gesehen.

      • Tamar von Siebenthal sagt:

        @ Muttis Liebling

        Gott sei Dank haben Sie ausserhalb der DDR nie praktizieren dürfen, sofern Sie in diesem Gefängnisstaat überhaupt Arzt gewesen sind, wie Sie ja immer wieder gerne betonen.

        Doch: Borderline-Syndrom ist definitiv eine Krankheit und wird von richtigen Medizinern auch als Krankheit bezeichnet/diagnostiziert.

      • Carolina sagt:

        ML, Sie haben hier mal vor Jahren einen Artikel von Ihnen und über Sie verlinkt, der Ihren Alkoholismus thematisiert. Wenn mich nicht alles täuscht, haben Sie damals dafür plädiert, einfach in ‚Ruhe gelassen zu werden‘, dass eine Therapie bzw eine Intervention nur dann notwendig wäre, wenn Sie bzw ein anderer Betroffener für seine Umgebung schwer tragbar ist oder sogar Leid verursacht.
        Ein Kind, das mit einem Elternteil aufwächst, der was-auch-immer-für-Probleme hat, den Alltag zu meistern/nach den Kindern zu schauen, kann sich naturgemäss nicht für Definitionsfragen interessieren. Entscheidend ist, ob es leidet oder nicht – je nach Einzelfall ist es ja durchaus möglich, dem Kind individuelle Hilfe zukommen zu lassen, ohne die Familie zu zerreissen.
        Sie sind eindeutig auf dem Holzweg.

    • Hobbyvater sagt:

      Vorallem müsste man als Arzt klinisch gearbeitet haben, um eine glaubwürdige Meinung abgeben zu können.

  • Susanne Schild sagt:

    Ein sehr guter und wichtiger Beitrag! Vielen Dank, Sabine Sommer.
    Diese Kinder brauchen unbedingt Unterstützung, weil sie selbst nicht einordnen können, wie viel Last und Verantwortung sie tragen. Daher gefiel mir vor allem die Aussage „Doch jede liebevolle Beziehung ausserhalb des Systems stärkt ihre Resilienz.“

Die Redaktion behält sich vor, Kommentare nicht zu publizieren. Dies gilt insbesondere für ehrverletzende, rassistische, unsachliche, themenfremde Kommentare oder solche in Mundart oder Fremdsprachen. Kommentare mit Fantasienamen oder mit ganz offensichtlich falschen Namen werden ebenfalls nicht veröffentlicht. Über die Entscheide der Redaktion wird keine Korrespondenz geführt.