Sechs Jahre Windeln wechseln

Jede Mühe wert! Liebe macht die Betreuung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen leichter. Symbolbild: iStock
Im Frühling 2015 sah ich in einem Hofladen ein schönes 12-teiliges Holzpuzzle, das einen krähenden Hahn zeigt. Die reine Vorfreude, dieses schon bald mit meiner Tochter zusammenzusetzen, liess es mich kaufen. Mir war schon bewusst, dass es noch ein paar Monate dauern würde, bis sie das schafft – sie war damals noch nicht mal eins. Aber so lange? Heute ist meine Tochter ziemlich genau sechs Jahre alt. Und das Holzpuzzle liegt noch immer in Cellophan versiegelt in ihrem Zimmer.
Selbst wenn Ronja wollte (und sie will nicht), sie könnte das Puzzle nicht zusammensetzen. Feinmotorisch und kognitiv ist sie noch immer nicht so weit. Denn sie hat … Ja, was hat sie eigentlich?! Auch das wissen wir nach wie vor nicht. Trotz Untersuchungen und Tests in der Entwicklungspädiatrie, in der Neurologie, in der Genetik. Anfangs wurde dieser Unwissensstand unter «Entwicklungsverzögerung» subsumiert, mittlerweile sind wir bei der «Entwicklungsstörung».
Es könnte ein Gen-Defekt sein, den man kaum kennt und von denen es weltweit nur ein paar wenige Fälle gibt. Es könnte aber auch eine Autismus-Spektrum-Störung sein. Im Prinzip wissen wir mehr darüber, was es nicht ist, als was es ist. Eine Stoffwechselkrankheit ist es zum Beispiel nicht. Das Angelman- und ein paar andere Syndrome sind es (angeblich) auch nicht. Das Hirn-MRI hat nichts ergeben. Ringchromosom 18 ist es angeblich ebenfalls nicht. Und selbst wenn es eins davon wäre, hätten wir lediglich einen Namen. Dieser könnte uns zwar helfen, einzuordnen, wo sie steht – und bei Abklärungen mit Krankenkasse oder IV hilfreich sein – aber wirklich wissen, was sie dereinst können wird, werden wir auch so nicht.
Unser Mädchen wird links und rechts überholt
Von ihren zwei Cousinen, die beide knapp zwei Jahre alt sind, wird sie gerade links und rechts überholt. Diese bilden Zwei-Wort-Sätze, sprechen neue Wörter direkt nach, zählen sogar schon. Ronja hingegen sagt «Bibi» und will die Kleinen halten wie Puppen. Dieser fast unvermeidliche Vergleich tut immer noch weh. Allerdings immer weniger, weil ich mittlerweile akzeptiert habe, dass meine Tochter anders ist als normal entwickelte Kinder. Manchmal gefällt mir das sogar. Sie beherrscht über ein Dutzend Gebärden sowie ein paar wenige Worte (Mami, Papi, Aua, etc.) und ich mag es, so mit ihr zu kommunizieren. Auch wenn natürlich kaum mehr damit zu klären ist, als was sie gerade oder als nächstes tun oder haben will. Immerhin begreifen nun aber alle Aussenstehenden sehr schnell, dass sie nicht nur aus Jux vor sich hinlautet, sondern eben ein Kind mit speziellen Bedürfnissen ist.
Muss ich nicht froh sein, ein Kind zu haben, das sichtbar Freude am Leben hat, sich frei bewegen kann?
Unser Alltag ist in vielerlei Hinsicht ambivalent: Einerseits merke ich, dass ich ihr viel abnehme, wahrscheinlich zu viel, in Anbetracht, dass sie nicht auf demselben Stand ist wie ihre Altersgenossen. Andererseits will ich sie nicht überfordern oder ihr das Leben unnötig schwer machen. Ich liebe sie natürlich bis zum Mond und zurück und lache gerne mit ihr, wenn sie aber stundenlang nur klagt und motzt, würde ich sie manchmal gerne in ein Heim geben. Ist das so anders als mit einem normal entwickelten Kind? Ich weiss es nicht, Ronja ist mein einziges leibliches Kind. Es ist jedenfalls anders, als ich es mir immer vorgestellt hatte. Und das ist wohl das grösste Problem für mich.
Anstrengend ist es, soviel ist klar. Sechs Jahre Windeln wechseln, sechs Jahre überallhin begleiten und nicht aus den Augen lassen, sechs Jahre raten, was sie jetzt will und auf sie einreden, ohne zu wissen, ob sie es versteht. Ronja kann sich kaum selber beschäftigen. Zeitweise sind wir deswegen nahe am Nervenzusammenbruch, manchmal denke ich aber «andere Kinder sind auch anstrengend» oder «es könnte noch viel schlimmer sein». Wenn ich an Eltern denke, die geistig und körperlich schwer behinderte Kinder betreuen, kriege ich ein schlechtes Gewissen: Steht mir Selbstmitleid überhaupt zu? Muss ich nicht froh sein, ein Kind zu haben, das sichtbar Freude am Leben hat, sich frei bewegen kann, keine Schmerzen hat und kleine Fortschritte macht?
Irgendwie geht es immer weiter – auch ohne Diagnose
Zwischendurch erlaube ich mir eine schwache Minute. Danach muss es sowieso weitergehen. Tut es auch.
Nicht regelmässig, aber immer wieder melden sich Leute bei mir, die einen meiner Texte über Ronja gelesen haben. Sie seien in ähnlichen Situationen mit ihren Kindern und möchten nun wissen, wie es bei uns weitergegangen ist. Ich gebe gerne Auskunft, weil ich weiss, wie unerträglich die Unwissenheit ist. Und weil es helfen kann, die Geschichte anderer Familien zu hören. Wie sich die Unsicherheit gelöst hat. Wie sich die Situation entspannt hat. Oder auch nicht. Selbst wenn es völlig unwahrscheinlich ist, dass es zwei Kindern gleich ergehen würde, nur weil sie ein paar gemeinsame Symptomen aufweisen. Zusammenzufassen, «wie es uns ergangen ist», finde ich gar nicht so einfach: Irgendwie ging es halt weiter. Auch ohne Diagnose.
Heute sagt Ronja «Pi», wenn sie pink meint. Oder den Piks vom Arzt. Oder Pilze. Das rührt mich. Andererseits merkt sie noch immer nicht, wenn sie pinkeln («bibi») muss. Gnadenlos hält sie mich auf dem Boden der Tatsachen: Nur nicht zu viel erwarten, es kann alles immer anders kommen. Damit verschafft sie mir eine Portion Demut, die ich vielleicht nicht unbedingt nötig habe, die aber sicher nicht falsch ist.
Eltern, die ihr Kind lieben, schaffen das
Noch so eine Diskrepanz: Eigentlich möchte ich nicht so viel über meine Tochter preisgeben, zumal ich schon zweimal ausführlich über sie geschrieben habe. Andererseits ist es eine Form der Verarbeitung für mich. Und ich sehe, dass es viel mehr Eltern so geht wie mir, als ich früher gedacht hätte. Ich bilde mir ein, ihnen ein bisschen weiterhelfen zu können und ihnen zu zeigen, dass sie mit ihren Sorgen nicht alleine sind. Meine wertvollsten Ratschläge sind trotzdem so banal wie nur etwas: Es kommt, wie es kommt. Und: Eltern, die ihr Kind lieben, schaffen das.
Es ist ermüdend, ja, aber es ist auch gut. Und sofern ich zwischendurch Pausen habe und durchatmen kann, freue ich mich auch wieder auf und über meine spezielle Tochter. Wahrscheinlich hatte ich eh eine völlig verklärte Vorstellung davon, wie es ist, ein Kind zu haben. Und ob wir gemeinsam diesen Puzzle-Hahn zusammensetzen können oder nicht, spielt sowieso keine Rolle. Hauptsache, wir spielen irgendwas zusammen.
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15 Kommentare zu «Sechs Jahre Windeln wechseln»
Lieber Herr Hunziker
Vielen Dank für ihren ehrlichen, kleinen Einblick in ihr Leben mit einem Kind mit besonderen Bedürfnissen.
Beim Lesen musste ich ganz stark an eine Facebook Seite denken, deren ich folge. Sie heisst „Lena-aus dem Leben unseres ganz speziellen Lottogewins“.
Dort schreibt ein Vater überaus ehrliche, humoristische und sarkastische Texte über das Leben mit seiner Tochter Lena, welche an einem sehr seltenen Gendefekt „leidet“(Syngap)
Vielleicht wäre dieser Einblick eine Bereicherung.
Ich wünsche ihrer Familie alles Gute.
Marietta Kocher
Ein sehr schöner Beitrag, obwohl ich nachvollziehen kann, dass es nicht immer einfach ist, ein besonderes Kind zu haben. Vielleicht ist es aber auch an der Zeit, sich nach Entlastung umzusehen?
Ausserdem zeigt es, dass man nicht alles planen und auch trotz all den modernsten prenatalen Vorsorgeuntersuchungen kein „gesundes“ Kind garantiert werden kann.
Alles Gute für Herrn Hunziker und seine Familie.
Lieber Reto
Vielen Dank für dein hervorragender Text.
Lieben Gruss und ganz viel Geduld von einem Papa, der seit 8 jahren seiner Tochter die Windeln wechselt.
Ein schöner, aufrichtiger Text voller Liebe für jene, die im Leben oft alles als selbstverständlich betrachten. Ihnen, Reto und den Familien wünsche ich mit dem grössten Respekt nur das Beste, Kraft und viel Glück.
Respekt Ihnen und ihrer Familie gegenüber! Mehr bleibt da eigentlich nicht zu sagen, ausser viel Glück und Freude in der Zukunft.
Sehr gut geschrieben. Aber nicht in erster Linie wegen der Schreibkunst, sondern wegen der inneren Einstellung. Wohltuend anders. Man spürt Ehrlichkeit und Dankbarkeit.
Danke. Viel Kraft und Weisheit wünsch ich Ihnen.
Der Text ist so gut und ehrlich geschrieben; Ihre Geschichte hat mich sehr berührt; ich wünsche Ihnen viel Kraft und gute Gedanken fuer die Zukunft !
Ein mir bekanntes Ehepaar welches schon einen Sohn hatte, war einverstanden ein afrikanisches Baby das seine sehr junge Mutter nicht wollte, zu adoptieren. Es wurde in der Kirche gefragt eine Sonntagmorgen ob sich eine Familie disem Kind annehmen würde. Dieses Paar hatte ein sehr gorsses Herz und sagte zu, Als sie das Kind dann im Flughafen abholten, sahen sie nichts besonders und hatten ihre grosse Freude. Jedoch alle anderen sahen sofort dass diese Kind nicht normal war. Effektiv war es schwer behindert und lief nie und konnte auch nicht selber essen. Dieses Kind jedoch war ein SONNENSCHEIN und lachte stets und die Familie liebte es. Mit 12 Jahren während des Mittagsschlaf ist es dann zu den Engel gegangen ohne das jemand etwas merkte. Die Eltern waren für Jahre untröstlich.
Danke für Ihren Text. Sehr schön geschrieben. Danke dafür.
„Einerseits merke ich, dass ich ihr viel abnehme, wahrscheinlich zu viel, in Anbetracht, dass sie nicht auf demselben Stand ist wie ihre Altersgenossen. Andererseits will ich sie nicht überfordern oder ihr das Leben unnötig schwermachen.“
Den ersten Satz kann man auch beenden mit „…in Anbetracht ihrer ausserordentlichen Fähigkeiten“ und noch immer passt der zweite:
Letztlich ist der Umgang mit diesem Kind so ambivalent wie mit jedem Kind, es geht um den Umgang mit den eigenen Erwartungen: Vor kurzem haben wir hier über Bewertungsverzicht geredet: Unglücklich macht uns die Differenz zwischen dem Ist und unseren Erwartungen und dies hängt an der Bewertung des Ist. Ich sehe in diesem Text ein wunderbares Beispiel, wie man mittels Verzicht auf Bewertung froh wird am und im Ist.
Lieber Reto,
Ein ganz grosses Dankeschön für Deinen ehrlichen Text. Ich bewundere Menschen wie Dich.
Ich habe das Glück, 2 erwachsene, gesunde Söhne zu haben. Und ich wünsche Dir und den Deinen viel Mut und Kraft für Euer weiteres Leben mit Eurer Tochter.
Mir hat mal eine ältere Nachbarin mit einer ebenfalls „speziellen“ Tochter gesagt: es wird alle Tage es bitzeli mehr und besser, es wird aber nie zuviel.
glg
Ja ich weiss nicht… Solange die Eltern da sind geht es, aber man muss bedenken was passiert wenn einer fehlt durch Unglück oder anders ? Es ist eine dramatische Situation, sehr erschöpfend für die Eltern, Grosseltern usw. Ein armes Kind (aber trotzdem fröhlich) und arme und erschöpfte Eltern die einem Leid tun.
Nein, kein armes Kind, und keine armen Eltern. Einfach andere. Ich habe selber einen Bruder, der eine durchaus vergleichbare Behinderung hat. Seit über 50 Jahren unselbständig, schwierige Kommunikation. Manchmal glücklich, manchmal nicht. Wie wir auch. Zufrieden und „angekommen“ in seiner Welt. Wie wir auch. Meist ausgeglichen, oft aber nicht. Wie wir auch. Dramatisch? Manchmal, wie bei uns auch. Erschöpfend? Sicher, wie jedes Kind und jede Person, die nicht selbständig leben kann. Zu bemitleiden? Nein, nicht nötig, einfach nur unterstützen, wenn man kann. Und sei es nur an der Urne, wenn wieder irgendwelche Politiker es wichtiger finden Steuern zu sparen statt Leute mit besonderen Bedürfnissen zu unterstützen.
Lieber Martin, dein Kommentar spricht mir aus dem Herzen! Was nützt Mitleid, wenn man nicht bereit ist, konkret mitzutragen? Reto Hunziker möchte ich sagen, dass es nicht an der nötigen Liebe fehlt, wenn man es nicht schafft. Die grösste Lektion als Mutter war die, dass ich bei allergrössten Bemühungen und endloser Liebe manchmal trotzdem nicht mehr kann, nur noch verzweifelter Mensch bin. Das ist nicht schön aber es ist Teil von uns. Wir sollten uns in solchen Momenten grosszügig vergeben und nicht geiseln, davon hat das Kind nichts. Sie werden Ihr Kind ein Leben lang voller Liebe begleiten, das ist alles, was Ronja braucht. Ob Sie das bei sich Zuhause machen oder Ronja mit anderen Menschen, die ähnliche Einschränkungen haben, zusammenlebt, spielt keine Rolle. Solange sie geliebt wird.
Armes Kind? Wie wollen Sie das beurteilen? Der Autor schreibt ja selbst, sie sei glücklich. Und auch er scheint glücklich zu sein, auch wenn er Momente hat, die ihn (über-)fordern. Genau dieses herablassende Mitleid macht es für Betroffene so schwierig. Eigentlich muss man Mitleid haben mit Menschen, die über keine Empathie verfügen.