Nicht alles lässt sich wegatmen

Mehr Achtsamkeit ist ja schön und gut. Doch in manchen Situationen wünscht sich unser Papablogger ein bisschen weniger Gelassenheit. Und mehr Haltung.

Bitte bewerten! Neben Meditationen und Achtsamkeit sollten wir nicht vergessen, auch mal angeekelt oder überwältigt zu sein. Foto: Getty Images

Okay, okay, ich soll mich also beruhigen. Aaaaaaaaaaaaatmen. Atmen klingt gut, beruhigen auch. Gibt ja eigentlich immer genug Stress und gerade sowieso: Kinderbetreuung, Corona, Fremdbedürfnisse, Arbeit, Hurra, schon wieder Bindehautenzündung. Irgendwas ist immer. Da ist es doch gut, wenn immer mehr Eltern in meinem Bekanntenkreis ihren Alltag achtsamer und entspannter gestalten. Mit mehr Aufmerksamkeit für das Hier und Jetzt und die Personen, die zählen, dafür mit weniger Ablenkungen und Stressauslösern. Vielleicht mit Meditation. Auf jeden Fall mit weniger Urteilen. Am besten überhaupt nicht bewerten.

Nicht bewerten wird überbewertet

Und genau hier steige ich aus. Nicht aus der Bekanntschaft oder Freundschaft zu Eltern, die Achtsamkeit für sich entdeckt haben und versuchen, ihren Alltag bewusster und stressreduzierter zu gestalten. Auch nicht aus der Idee, dass ein bisschen mehr Konzentration aufs Wesentliche und weniger am Rad drehen uns allen gut tun würde. Sondern aus dieser «Du sollst nicht bewerten»-Kiste.

Nicht nur, weil ich damit meinen Job gefährden würde. Als Kolumnist geht es nicht nur darum, einigermassen vernünftig formulieren zu können, sondern auch, sich zu möglichst vielen Dingen eine mehr oder weniger fundierte Meinung zu bilden. Das heisst bewerten. Windeleimer halte ich für unnützen Kram, Tragetücher für ne feine Sache, wieso, weshalb, warum, 4000 Zeichen, so sieht es aus.

Ich habe aber auch ein grundsätzliches Problem mit dem «nicht bewerten». Vorsichtig formuliert halte ich es für überbewertet und nicht durchdacht. Unvorsichtig gesprochen für irgendwie verlogen. Das liegt daran, dass durchwegs alle Menschen, die mir analog oder virtuell über die Vorzüge des «nicht Bewertens» berichten, etwas anderes zu meinen scheinen als sie sagen. So wie hier:

Diese Menschen sprechen von Bewertung, meinen aber offenbar vor allem oder ausschliesslich Abwertung. Schlechte Gefühle, gemeine Vorurteile über andere, mieses Wetter, Unnachgiebigkeit mit den eigenen biografischen Entscheidungen. Klar kann man sich damit das Leben ganz schön schwer machen.

Denkanstösse, um aus dieser Miesepeterfalle herauszukommen, sind zweifellos eine gute Sache und auch mir willkommen. Sie sind aber sehr alter Wein in neuen Schläuchen, heissen positives Denken, «NLP», dies und das, was auch immer, und sie haben nichts damit zu tun, dass man nicht bewertet, sondern damit, dass man sich in seiner Bewertung auf die positiven Dinge fokussiert.

Antisemitismus zum Beispiel ist scheisse. Das lässt sich nicht wegatmen.

Bewerten, Urteilen, Einschätzen ist viel umfänglicher und sehr viel mehr mit der Essenz unserer Menschlichkeit verhaftet, als neuerdings der Anschein erweckt wird: «Ich liebe dich. Ich bin hier Zuhause. Das Essen schmeckt mir. Du tust mir gut. Das Wetter ist fantastisch. Ich habe einen grossartigen Job gemacht. Schön, dass es dich gibt.» Das sind auch alles Bewertungen. Sich dieser positiven Einschätzungen zugunsten einer entspannteren Halbdistanz zu enthalten, macht in meinen Augen kaum Sinn.

Sich komplett von negativen Werturteilen zu befreien, übrigens auch nicht. Antisemitismus zum Beispiel ist scheisse. Gestern scheisse, heute scheisse, morgen scheisse. Das lässt sich nicht wegatmen. Genauso wenig wie eine Situation, in der meinen Kindern Gewalt angetan wird. Sie können davon ausgehen, dass ich das «sehr negativ bewerte». Anders gesagt: Ich raste aus. Das ist die Kehrseite meiner unbedingten Liebe zu ihnen, meines Beschützerinstinkts und meiner Verantwortlichkeit.

Bei allem Verständnis für den Wunsch und das Bemühen um mehr Gelassenheit, die auch mir oft gut zu Gesicht stehen würde, wünsche ich mir für die Zukunft, bei manchen Dingen, Situationen und Menschen niemals so gelassen zu werden, wie mir hier und da vorgeschwärmt wird. Bei aller Überzeugung, dass unsere Vorurteile so antastbar und revidierbar wie möglich sein sollten, würde ich mich Werturteilen nicht gänzlich enthalten wollen. Das hat zum einen mit dem zu tun, was der Soziologe Hartmut Rosa in seiner Kritik an der Achtsamkeit als Unverfügbarkeit beschreibt.

Nichtssagende Enthaltung

Während durch Achtsamkeit Bewusstsein verfügbar gemacht und unter Kontrolle gebracht wird, ist das Leben eben auch durch unverfügbare Unkontrollierbarkeiten geprägt, die ich nicht schärfen oder herunterdimmen (je nach Bewertung) wollen würde. Und zum anderen missfällt mir der Umgang mit dem zutiefst menschlichen Aspekt des Bewertens. Des Überwältigt-Seins, der Begeisterung und des Ekels, der Hingabe, des Desinteresses. Das sind doch wir, das macht uns aus.

Wieso beschäftigen wir uns eigentlich so zwanghaft damit, uns als Menschen zu überwinden? Einen Tag wegen einer Million nicht reproduzierbarer Dinge als ätzend oder grossartig bewerten zu können, finde ich faszinierend. In einem furchtbaren Tag Wundervolles finden zu können, noch viel spannender. Sich der ganzen Sache bewusst zu enthalten eher nichtssagend. Aber vielleicht irre ich mich ja auch, habe das alles nicht verstanden und nicht zu werten ist das Beste überhaupt. Dass ich das anders sehe, wissen Sie ja jetzt. Von mir aus spricht nichts dagegen, dass Sie das und mich jetzt hemmungslos bewerten.

35 Kommentare zu «Nicht alles lässt sich wegatmen»

  • sabine sagt:

    Ganz toller Bericht. Ich stimme jedem Satz zu!

  • Maike sagt:

    Das Bewerten einer Situation, eines Gegenübers ist so alt wie es Lebewesen gibt. Ist dieser Säbelzahntiger eine liebe Katze oder will sie mir ans Leben ? Das waren noch naturgegeben Dinge die es zu Bewerten galt. Bei uns sind jetzt Dinge dazugekommen, wie – gehe ich jetzt mit oder ohne Maske raus auf die Strasse – deren Problematik wir uns selbst geschaffen haben. Leider ist unsere Gehirn dafür Schuld, das es zu dieser Problematik kommt. Zum Glück können wir es auch dafür nuetzen, diese Problematik zu lösen. Und manchmal hilft auch wegatmen..

  • Dave Jäggi sagt:

    Es ist kein gutes Zeugnis für die Achtsamkeitspraxis, wenn gefolgert wird, dass es nur darum gehe, „alles wegzuatmen“ und nichts zu bewerten. Nein, darum geht es gerade nicht. Es geht nicht um den Gegensatz „nichts bewerten oder kritisch Stellung zu beziehen“. Es geht um den Gegensatz, aus dem Affekt oder aus der inneren Ruhe heraus Stellung zu beziehen und Missstände anzugehen. Bei Achtsamkeit und allg. bei spiritueller Praxis ist das UND die entscheidend. Kontemplation UND Aktion, es gibt nicht das Eine ohne das andere, sonst bleibt es bei Wellness für den Geist.

  • Anh Toàn sagt:

    „Antisemitismus zum Beispiel ist scheisse. “

    Genau darum geht es doch beim Verzicht auf Wertung: Denn wenn man wertet, wird man manches als unterirdisch betrachten und mit Aggression darauf reagieren, wie Sie die hier ausdrücken. Und diese Aggression bringt Ihre eigenen schlechten Seiten hervor.

    „Sie fragte nach meinem Feind, ich sagte, das Bedürfnis in manchen Menschen, ihre Brüder zu bekämpfen und töten, ohne Respekt vor Gott oder Liebe, bat sie um Pferde um meine Feinde nieder zu trampeln. Aber sie dachte nicht an Krieg, welcher Menschen zu Tieren reduziert, so einfach zu beginnen aber unmöglich zu beenden“ (Uriah Heep: Lady in Black)

    Sie werden keinen Zugang finden zu einem Antisemiten, keinen Frieden schliessen können, keine Brücken bauen können.

    • Anh Toàn sagt:

      Rassismus ist nicht scheisse (Wertung), Rassismus ist dumm / falsch / unvernünftig, weil wo jemand herkommt, die Farbe seiner Haut, die Länge seiner Nase nicht mehr über ihn sagt, als seine Schuhgrösse.

      Meinungen sind richtig oder falsch, oft ist dies schwierig zu erkennen, da wir nicht allwissend sind. Aber es gibt keine guten und schlechten Meinungen.

  • Lina Peeterbach sagt:

    Achtsamkeit und Bewertungs(-Abstinenz) haben ja grundsätzlich eine relativ kleine Schnittmenge.
    Beim Nicht-Bewerten nach östlicher Philosophie ist das Ziel tatsächlich, die ultimative Gelassenheit zu erlangen, und die emotionalen Ausschläge in beide Richtungen möglichst aud Null zu reduzieren. Achtsamkeit ist quasi der Schritt dorthin: „ich nehme meine Bindehautentzündung wahr, inkl. der damit einhergehenden Gefühle, aber ich bewerte sie nicht“. Radikal bis hin zu „ich nehme den nahenden Tod meines Kindes wahr, inkl. Gefühle, und bewerte nicht“. Für Normalsterbliche Westler höchstwahrscheinlich eher schwer zu erreichen.

    Ist aber ein sehr interessanter Blog heute, regt definitiv zum Denken an. Danke.

  • Christopher End sagt:

    Achtsamkeit bedeutet für mich einfach zu beobachten: So beobachte ich auch meine eigenen Wertungen – ich mache sie aber nicht weg. Ich beobachte z.B. meine Gedanken, Gefühle und Körperwahrnehmungen. Dadurch baut sich tatsächlich eine Distanz auf – ich spüre z.B., dass ich nicht die Wut bin oder der Schmerz, sondern dass das Wut oder Schmerz in mir ist.

    Das bedeutet aber nicht im Umkehrschluss, dass ich keine Werte hätte, diese nicht verteidigen würde oder nicht emphatisch sei. Ganz im Gegenteil.

    Indem ich meinen Weg achtsam gehe, spüre ich viel eher, wenn ich ungerecht bin. Ich spüre auch viel eher, wenn andere meine Grenzen oder die von anderen überschreiten.

    Achtsamkeit und Empathie gehen Hand in Hand.

    • Markus Eberhard sagt:

      Das finde ich sehr hilfreich. Es geht ja darum, nicht an Konzepten festzuhalten. Was nun wie ein neues Konzept tönt, löst sich auf, wenn ich im Modus der Selbstbeobachtung bin. Dann kann ich gut wahrnehmen, wie mich die Konzepte (z.B. „bewerten“, „nicht bewerten“) verkrampfen und wie dort, wo sich die Konzepte auflösen, das Leben anfängt.

  • 13 sagt:

    Das Bewerten und auch Beurteilen an sich ist kein Problem. Richtig ist aber, dass es besser und schlechter fundierte Meinungen und ich denke, dass das des Pudels Kern ist. Das Problem ist nicht, dass Menschen bewerten. Das Problem ist, dass sie allzu oft eine völlig falsche Einschätzung dessen haben, worauf sich ihre Meinung / ihr Urteil stützt und dabei allzu oft völlig verkennen, dass ihnen für manche fundierte Meinungen schlicht das Vorwissen, die Informationen oder die Erfahrung fehlt. Das heisst nicht, dass sie nicht zu einer Meinungsbildung befugt sind, sondern dass man sich etwas Selbstkritik wünschen würde, wie auch die Fähigkeit die Bewertung anzupassen, wenn man neue Informationen erhält, denen man zugänglich sein sollte.

  • Muzio sagt:

    Peter Gabriel (Genesis) hat es vor fast 20 Jahren in seinem Song „Darkness“ auf den Punkt gebracht: „I have my fears, but they do not have me“.
    Der feine Unterschied zwischen Wegatmen und durchatmen.

  • Fred Steiner sagt:

    Der Umgang mit dem Bewerten, resp. nicht-bewerten wird wohl nicht richtig verstanden. Ist auch nur ein kleiner Bestandteil einer östlichen und auch westlichen (Mystik) Philosophie und Praxis.
    Es geht darum zu lernen, mit seinen Bewertungen umzugehen, darum ist Einhalt mal gut, um vor einer Bewertung oder einer Handlung zuerst mit sich in Einklang zu kommen. Wenn der Geist immer zugedröhnt ist (heute normaler Zustand) ist eine sogenannte fundierte Meinung und eine klare Bewertung nicht immer möglich. Äussere Einflüsse in Wechselwirkung mit unseren Sinnen führen zu unstetiger, innerer Haltung. In der Meta-Meditation lernt man mit der Liebe umzugehen, auch lehre ich in der Zen-Meditation, dass im Moment, im Hier und Jetzt, eine umfassende Verbundenheit mit allem vorliegt.

  • Carolina sagt:

    Vielleicht habe ich mich ungeschickt ausgedrückt, aber das war es eigentlich, was ich sagen wollte: Achtsamkeit findet, wenn überhaupt, nur zwischen den Polen statt.

    • Muttis Liebling sagt:

      ‚Achtsamkeit‘ ist eine Brücke zum gestrigen ‚Burn out‘. Beide gibt es nur in der Fantasie der sich damit Beschäftigenden und nur in deren Zeit. Man kann dem etwas abgewinnen, wenn man hinter die Begriffe schaut.

      Das ist allerdings sehr selten und zeichnet auch diesen Blog oder den gestrigen nicht aus.

    • Reincarnation of XY sagt:

      Carolina – es gibt Dinge, die man man nur Erfahrung verstehen kann. Die lassen sich nicht durch intellektuelle Diskussionen greifbar machen.
      Vergleichbar mit der Elternschaft. Vielleicht intellektuell nachvollziehbar, theoretisch erklärbar. Aber auf einer Ebene kann nur verstehen, wer es erlebt hat.

      Achtsamkeit ist ein Bewusstseinszustand. Wenn man diesen nicht erlebt hat, kann man ihn nicht verstehen. Und wenn jemand davon redet, wird man die Worte falsch interpretieren.

      Man kann nur durch das eigene Praktizieren verstehen lernen. Es nützt auch nichts, Bekannte zu beobachten, weil man ja nicht wissen kann, ob es die wirklich verstehen, oder nur darum so eifrig davon reden, weil sie es genau nicht verstehen.

      • Röschu sagt:

        @RoXY
        Sie behaupten also, dass man nur aus selbst gemachten Erfahrungen lernt?

      • Carolina sagt:

        Mal ganz abgesehen davon, dass mein Kommentar oben an die falsche Stelle gerutscht ist, verstehe ich Sie ehrlich gesagt heute nicht. Ist mir zu abgehoben – daher überlasse ich Ihnen und ML das Feld, der wie immer noch einen oben drauf setzt;-))

      • Reincarnation of XY sagt:

        Röschu
        Ich schrieb „es gibt gewisse Dinge“

        Das heisst nicht alle Dinge, sondern eben einige Dinge, wie z.B. Elternschaft

        Weiteres Beispiel: Wie es sich anfühlt im Wasser zu sein, kann nur der Mensch verstehen, der selbst mal im Wasser war.

        Ist das so schwierig zu verstehen?

      • Muttis Liebling sagt:

        @Röschu

        RoXY behauptet, dass man innere Zustände nur an sich selbst beobachten kann. An allen Anderen kann man nur die Entäusserung von Innerlichkeit sehen.

        Dahinter ist eine einfache Idee. Alles was ich aussen beobachte, kann ich bemerken, analysieren, aber nicht wirklich verstehen. Ich kann auch meine Kinder nicht vollständig verstehen. Nur mich selbst kann ich verstehen, aber auch das nur mit zusätzlicher Mühe. Spontan verstehe auch ich mich nicht.

        Diese zusätzliche Mühe nennt der Zeitgeist Achtsamkeit. Ich würde lieber Introspektion sagen. Das Wort ‚Achtsamkeit‘ ist verschlissen worden, wie man bei einem Besuch jeder Buchhandlung sieht.

        Jeder Mensch ist der Ausdruck der gesamten Welt und deshalb findet man in sich auch die gesamte Welt wieder.

      • Reincarnation of XY sagt:

        Carolina

        🙂 nun, eigentlich ist es nicht abgehoben

        P. reisst einfach ein Thema an, das so oberflächlich nicht besprochen werden kann.
        Es geht um Achtsamkeit und Meditation („kann nicht weggeatmet werden“).

        Das war für mich auch abgehoben, solange ich es nicht praktiziert habe. Wenn man es aber praktiziert, erweist es sich als sehr real.

        Die Diskussion um Freud – passt nicht wirklich zum Thema. (Obwohl Adler mit seiner Psychologie des Mutes im weiteren Sinne schon zum Thema passt.)

      • Muttis Liebling sagt:

        Freud passt gut zum Thema ‚Achtsamkeit‘ um dem Vulgärbegriff eine Spur von Substanz zuzuweisen.

        Der 25- jährige Schopenhauer hatte nach seiner Dissertation nur eine Negativformulierung seiner Philosophie. Er wollte Kant erweitern, dessen ‚Ding an sich‘ fest machen, aber nicht so, wie es die Kants akademische Nachfolger Fichte, Schelling und Hegel taten.

        Die erlösende Idee kan, nachdem er zufällig eine erste Übersetzung der Upanishaden in die Hände bekam. Das ist der Text, auf dem die Veden und damit Hinduismus und Buddhismus gründen. Schopenhauer wurde später Buddha von Frankfurt genannt. Freud hat seinen zentralen Begriffe von ihm.

        Schopenhauer und Buddha hätten den Begriff ‚Achtsamkeit‘ und den Neobuddhismus auch dieses Blogs strikt zurückgewiesen.

  • SlowDan sagt:

    Wenn ich nur noch wahrnehme und nichts bewerte, gehe ich Auseinandersetzungen aus dem Weg und gebe denen die Macht, welche diese suchen. Meine Emotionen können etwas bewirken und Eskalation ist nicht per se schlecht, sofern sie nicht Selbstzweck ist.

  • Muttis Liebling sagt:

    ‚Wieso beschäftigen wir uns eigentlich so zwanghaft damit, uns als Menschen zu überwinden?‘

    Weil das das Ziel jeder Biografie ist. Um es christlich zu sagen, das Menschliche ist die Erbsünde. Oder mit Schopenhauer, Leben arbeitet auf das Ziel, den Willen zu überwinden. Wille ist bei Schopenhauer der Urtrieb, das Ursprüngliche, was man nur ertragen, aber nicht beeinflussen kann. Das Leben, wie wir es nativ leben, ist das schlechtmöglichste Leben.

    • Reincarnation of XY sagt:

      Nun, man kann es auch pragmatisch begründen.
      Der Mensch ist Lösungsorientiert.
      Und er sieht Probleme in seinem Verhalten.
      Deshalb kommt er auf die Idee einer Ursünde.

      Ärger z.B. macht uns krank. Also fragt sich der Mensch, wie er sich von diesem Übel befreien könnte.
      Auch sieht der Mensch, dass Rassismus, Gewalt und Krieg irgendwie das Leben verunschönert, ja bedroht. Und er macht sich Gedanken, warum er diese Dinge nicht los wird, und wie er sie überwinden könnte. WENN ER KLUG ist, bemerkt er, dass diese Dinge in unserer eigenen Natur wurzeln.
      DESHALB ist diese Frage völlig oberflächlich.
      Wir können nicht für eine bessere Welt sein UND sagen: lebt doch einfach das (Raub)Tier in euch aus.

      • Muttis Liebling sagt:

        Ich erlaube mir, dem mit einem Freud- Zitat zu begegnen, welches der bei Schopenhauer abgeschrieben hat:

        Das Es reitet auf dem Ich.

        Das Es ist das, was Sie Raubtier nennen und das ist allmächtig. Das Ich kann nimmer siegen.

        Der edle Mensch mit all seiner Kultur, seinem Wissen ist nur der Gaul, der vom seinen Trieben beritten ist und im besten Fall den Trieben ein kleines Stück Gestaltung abgewinnen kann. Aber die Richtung bestimmt der Reiter, nicht der Gaul.

      • Reincarnation of XY sagt:

        Das passt zu Freud. Man kann viel von ihm lernen, doch darin stimme ich nicht mit ihm überein. Ihre zitierte Weisheit ist Ausdruck eines pessimistischen Dualismus (es/ich – bei Paulus: Fleisch/Geist). Sie steht für Freuds Determinismus. Die so beliebte Negativität bei Europas Intellektuellen.
        Auch wenn wir Widerstreit im Menschen erkennen, so ist diese Interpretation weder richtig noch hilfreich. Wir müssen den Menschen ganzheitlich sehen, nicht dualistisch. Freuds Zeitgenosse Adler ist das viel besser gelungen.
        Beschäftigen Sie sich mit Adler! Ichiro Kishimi gibt eine hervorragende Einführung

      • Muttis Liebling sagt:

        Ganzheitlich ist ja gerade dualistisch, nicht monistisch. Der Mensch ist ein Doppelwesen (Plessner): Selbst nach innen, Rolle nach aussen.

        Doppelt auch alles Kategoriale. Jedes Objektive hat einen subjektiven Partner:

        Unglücke – Glück.
        Zwänge – Freiheit
        Rechte – Gerechtigkeit
        Geschlechter – Gender
        Krankheiten – Gesundheit, usw.

        Ich habe natürlich auch alle abtrünnigen Freud- Schüler gelesen. Nicht nur Adler, der ist ja noch nah am Meister. Interessant für den MB wären die Frauen Helene Deutscher, Melanie Klein, Karen Horney, natürlich Anna Freud und noch viele mehr. Speziell Kinderpsychoanalyse könnte ich mir als Thema für den MB vorstellen.

      • Roxy sagt:

        Korrektur: Adler war kein Schüler von Freud. Wird gerne so dargestellt (wen wunderte?) ist aber nicht so.
        Natürlich gibt es Dualität. Die Frage ist, wie man damit umgeht, diese interpretiert.

        Alles gelesen zu haben, ist eine Sache…. ich sehe in ihren Gedanken jedoch nicht, dass die Lektüre Adlers Spuren hinterlassen hat. Worin würde denn Adler dem Freud-Zitat widersprechen?

      • Muttis Liebling sagt:

        Alfred Adler war einer der 4 (Freud nicht mitgerechnet) Gründungsmitglieder der Mittwochgesellschaft und blieb darin von 1902 bis 1911. Im Standardwerk ‚Klassiker der Psychoanalyse‘ von Rattner wird ihm der zweite Artikel gleich nach Freud gewidmet. Da steht aber auch Ihre Aussage: ‚Adler hat zeitlebens die These verneint, er sei ein Schüler Freuds gewesen‘.

        Adler nennt seine Lehre ‚Individualpsychologie‘, Kenner meinen, er hätte auch den Begriff ‚Sozialpsychologie‘ benutzen können. Ihre Frage des Widersprechens eines Zitates kann ich nicht beantworten. Adler widerspricht der gesamten spekulativen Herleitung Freuds, nicht aber den Konsequenzen. Den Kernbegriffen Unbewusstes, Verdrängung, Sublimation bleibt er nahe. Klären Sie mich auf, wenn ich etwas nicht weiss.

      • Reincarnation of XY sagt:

        Nun, er verneinte den Determinismus, der bei Freud, wie auch in ihrem Zitat immer mithaucht.
        Als wären wir ein Gaul, dem wir ausgeliefert sind.

        Darüber gäbe es viel zu sagen. Aber kaum in diesem Format. Buchtipp habe ich schon gegeben.

  • Reincarnation of XY sagt:

    Nun Herr P., ich kann natürlich nicht beurteilen, ob ihre Bekannten den Weg der Achtsamkeit auf sinnvolle Weise begehen. Es gibt ja keine Wahrheit, die man nicht verkehrt leben und predigen kann.
    Dennoch ist Ihre Reaktion, Herr P., interessant:
    Sie bemerken richtig, dass Sie von ihrem Ärger einen Nutzen haben. Er ist Teil ihres Lebens und ihres Berufs und sie möchten daran gar nichts ändern. Deshalb ist es selbstverständlich, dass Sie nichts mit Konzepten anfangen können, welche Ihren Status Quo so massiv in Frage stellen. Die können und dürfen nicht stimmen, müssen lächerlich sein, lächerlich gemacht werden.
    Achtsamkeit wäre: Sie betrachten ihre Gedanken und Gefühle von aussen, ohne zu urteilen.

  • Sportpapi sagt:

    Sehr gut. Ist ja auffällig, wie gerade Menschen, die sehr darauf beharren, andere Menschen nie bewerten zu wollen, schon gar nicht negativ, vielfach andere Menschen, die das anders sehen, negativ bewerten…
    Keine Toleranz den Intoleranten…
    Reflexion scheint mit wichtig z.B. über eigene Haltungen und Vorurteile, und dann Menschen, Handlungen und Fakten mögilchst korrekt wahrzunehmen und, logisch, nach gewissen Regeln einzuordnen und zu bewerten.
    Die Alternative ist meiner Meinung nach, dass man sich schlicht entweder selber betrügt, oder sich nicht für das Umfeld interessiert.

  • Esther sagt:

    Nicht beurteilen ist ok, nicht bewerten ist manchmal ok.

  • Carolina sagt:

    Gefällt mir, Ihr heutiger Kommentar. Sie haben schön herausgearbeitet, dass Bewerten sehr wohl mit Achtsamkeit einhergehen kann, wenn man es erst einmal als Meinungsbildung, als veränderbar und verhandelbar ansieht – und das kann man nur, wenn Bewerten nicht gleich Abwerten ist. Allerdings ist das, gerade im öffentlichen Raum, hier social media, eine immer schwieriger werdende Aufgabe: sehr viel spielt sich zwischen den Polen nicht mehr ab, ist verboten, mit -ismus-Beschimpfungen belegt, zwischen Gut und Böse ist oft eine grosse langweilige Besserwisserei und moralische Ueberheblichkeit anzufinden, keine Diskussion, keine Aufregung, man lebt von Disclaimern, politischer Korrektheit und ständigem Relativieren. Schade eigentlich!

    • Reincarnation of XY sagt:

      Carolina – die Pole brauchen sich gegenseitig und schaukeln sich gegenseitig hoch.
      Wir aktivieren unser Belohnungssystem mit unseren Statements, geben uns Sicherheit, indem wir uns mit unserer Blase identifizieren und füttern unseren Selbstwert, indem wir die ANDEREN als die Bösen identifizieren, gegen die wir natürlich unbedingt kämpfen müssen. (Selbst wenn dieser Kampf, die Gegenseite nur stärker macht.)

      Da scheint es mir gar nicht mal so schlecht zu sein, einmal inne zu halten und aus dieser Dualität auszusteigen. Darum geht es in der Achtsamkeit.
      Mögen es viele auch nur als Hype nachplappern, dennoch wird im Blog deutlich, dass P. über etwas lästert, das er nicht kennt.

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