Kinder sind auch nur Menschen

Das kennen wir doch! Wir alle können zu giftgrünen Käfern werden, wenn wir verletzt sind. Foto: iStock
Ich hatte mich während meiner ersten Schwangerschaft wirklich äusserst ernsthaft darauf vorbereitet, Mutter zu werden. Zwar wäre ich aus dem Geburtsvorbereitungskurs am liebsten wieder rückwärts rausgerobbt, als wir mit der Gebärmutter zu singen begannen, liess aber selbst dieses Ritual geduldig über mich ergehen. Zur Vorbereitung auf die künftige Mutterschaft hab ich aber vorwiegend gelesen.
Ich las und las und las. Ich glaube, ich habe alles gelesen, was mir über Kinder, Eltern und Babys in die Hände fiel, und ich kann noch nicht mal mit Sicherheit behaupten, dass nicht selbst auch ein Buch über die Pubertät dabei war. Neugierig las ich mich der Fremde entgegen, bereits leise ahnend, dass Muttersein so gar nichts mit den Zoobesuchen mit Patenkindern zu tun haben wird und dass bald eine immense Verantwortung in mein und unser Leben treten wird. In der Lektüre suchte ich vor allem nach Antworten. Nach Antworten darauf, was ein so hilflos ausgelieferter kleiner Mensch braucht, um einst stark und glücklich zu werden.
Die erste Lektion erfuhr ich bereits in der ersten Nacht im Spital.
So war ich von der knallharten Realität des Mutterseins noch gänzlich unberührt und naiv genug zu glauben, wir müssten es einfach nur richtig, richtig gut machen, dann wäre das mit dem Glück und der Stärke sozusagen gebucht. Wie damals in den 80er-Jahren mit den Bastelbögen, die man in der Schule jeweils zu Weihnachten bezog: Wer es schaffte, an den richtigen Stellen Schnitte und Falze zu machen, hatte am Schluss das Schloss Lenzburg vor sich. Oder auch nicht. Mit meinem bescheidenen Basteltalent schaffte ich es regelmässig nur bis zum Wassergraben des Schlosses. Und selbst diesen konnte man nur als solchen erkennen, weil ich noch ein Krokodil und einen von ihm angefressenen Ritter reinmalte.
In eine neue Dimension katapultiert
Als ich mir also schwanger und tausend misslungene Bastelbögen später überlegte, was so ein Kind wohl braucht, ahnte ich noch nicht, wie ermüdend sich ein Weg anfühlen würde, auf dem alles richtig verlaufen soll. Geschweige denn, dass ein solcher weder dem Kind noch seinen Eltern gerecht werden würde. Ich ahnte auch noch nicht, wie sehr Babys von ihrem ersten Atemzug an schon sie selbst, von ihrem eigenen Charakter geformt sind. Und wie sehr es die Aufgabe von uns Eltern sein würde, mit unserer Liebe diesen Charakter mit all seinen Herausforderungen zu begleiten.
Diese erste Lektion erfuhr ich bereits in der ersten Nacht im Spital, als ich kein Auge zutat, sondern nur damit beschäftigt war, mein perfektes Neugeborenes ununterbrochen anzustarren, das so anders war, als ich es mir vorgestellt hatte, und meine Faszination erst unterbrochen wurde, als die resolute Schwester ins Zimmer stürmte und irgendetwas von «Guten Morgen» brüllte. Lektion zwei holte mich dann unverzüglich in meinen ersten Tagen zu Hause ein: Dass, wenn so ein Kind erst einmal da ist, sich sowieso alles komplett anders anfühlt, als man es sich vorgestellt hatte. Weil das Leben eben das Leben ist und Eltern durch eine Geburt in eine komplett neue Dimension katapultiert werden. Eine, die sich weder erahnen noch erlesen lässt.
Kinder drücken naturgemäss die richtigen Knöpfe
Die Dritte, und das war die weitreichendste Lektion für mich als Mutter, war, dass in meine Begleitung der Kinder dann am meisten Kraft floss, wenn ich mich und meine eigene Geschichte mit ins Boot nahm. Denn eigentlich wurde es genau immer dann spannend, wenn ich am heftigsten auf etwas reagierte, was die Kinder betraf. Und je mehr ich mich selbst kennen lernte, um so stärker konnte ich auch in der jeweiligen Situation unterscheiden, was mich denn nun gerade wirklich an der Gegenwart stresst oder wann bei mir ein Knopf mit vergangenen Ängsten oder Glaubenssätzen gedrückt wird, der nur zu mir gehört und nicht zu meinen Kindern. Denn so viel steht fest: Kinder drücken naturgemäss die Knöpfe, die am meisten wehtun, was evolutionstechnisch auch ihr Job ist, um uns letztlich alle weiterzubringen. Vorausgesetzt, man ist mit Lektion Nummer drei vertraut und wagt sich selbst hie und da an Orte vor, die nicht ganz so putzig sind wie die Bastelbögen aus den 80ern.
Manche Bücher sind wirklich grossartig und haben mein Muttersein tief geprägt.
Ein Jahrzehnt und zwei Kinder später stehe ich nun also manchmal staunend vor dem Erziehungsregal eines Buchladens. Endlos viel Literatur, die uns unsere Kinder und den Umgang mit ihnen erklären soll. Manche Bücher sind wirklich grossartig und haben mein Muttersein tief geprägt. So sehr gar, dass ich in Tränen ausbrach, als ich vom Tod des mir über die Jahre so vertraut gewordenen Jesper Juul hörte – das sagt ja wohl alles.
Von exotischen, giftgrünen Käfern
Doch mir schauen auch Bücher entgegen, die ebenso gut aus einer zoologischen Abteilung stammen könnten. Exemplare, mit denen uns ein exotischer, giftgrüner und auch leicht gefährlicher Käfer erklärt werden soll. Als würden wir vor lauter «es besonders gut machen zu wollen» manchmal die wichtigste Lektion des Elternseins vergessen. Dass Kinder in erster Linie einfach nur Menschen sind, deren Grundbedürfnisse die gleichen sind wie die unseren: Nahrung, Sicherheit, Liebe, Dazugehören und Wachstum. Und dass wir alle – ob gross oder klein – jeweils zu giftgrünen, mehr oder weniger gefährlichen Käfern mutieren, wenn wir verletzt oder behindert werden.
Kinder haben einfach noch zusätzlich den Auftrag, mit dem Leben zu experimentieren. Also jene prickelnde Energie zu leben, die wir Erwachsenen nur allzu oft in unseren Tupperware-Gefässen eingefroren haben. Und dieser uns fremd gewordene Mut kann Kinder in unseren geordneten Augen manchmal tatsächlich zu exotischen Käfern werden lassen. Doch letztlich sind Kinder genauso nur Menschen, wie wir selber einst einfach nur Kinder waren.
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14 Kommentare zu «Kinder sind auch nur Menschen»
Das erste was ich beiseite gelegt habe, waren all die schlauen Bücher und Ratgeber, wie man Kinder erzieht, was ich wann zu machen habe, damit es meinen Kinder gut geht usw. Ich glaube kaum, das diese Autoren mich, meinen Mann, meine Kinder oder gar unsere ganzen Lebensumstände gekannt haben. Wir haben die Mädels gross werden lassen, ihnen Grenzen da gesetzt, wo wir es für notwendig erachtet hatten im Rahmen einer freiheitlichen Erziehung, dessen Werte vornehmlich aus unser ureigenen Erfahrung mit erzogen werden resultierten. Und natürlich etwas im Rahmen der gesellschaftlichen Regelung.
Rückblickend würden mein Mann und ich es immer wieder so machen.
Ein schöner Text, aber warum ahnte man nicht, dass Kinder keine leeren Gefässe sind, sondern schon als fertiger Mensch mit eigenen Charakterzügen und Eigenheiten geboren werden? Meine Mutter meint/e jeweils, dass Kinder ab dem ersten Lebenstag erzogen werden müsste, uA dur h schreien lassen, um sie nicht zu „verwöhnen“ und damit sie sehen, wo dr Bartli der Most holt. Äähm nein, solche Ansichten sind längst überholt. Heutige Mütter wissen doch, dass Kinder vor allem Fürsorge brauchen und dass man sich mit dem Charakter des Kindes auseinandersetzen soll, oder nicht?
Wie oft haben mir Jesper Juuls Ideen weitergeholfen mit meinen vier Kindern und den vielen Kindern, die ich als Spielgruppenleiterin während 10 Jahren begleiten durfte.
Am besten gefällt mir sein Satz: “ Kinder wollen Eltern aus Fleisch und Blut.“ Wieviel Druck nimmt diese Aussage weg und räumt auf mit der Vorstellung, perfekte Eltern sein zu müssen.
Nie wäre ich beim Zoobesuch mit den geliebten Gottenkinder auf die Idee gekommen, dass dies etwas mit Mutterschaft zu tun haben könnte.
‚… Kinder drücken naturgemäss die Knöpfe, die am meisten wehtun….‘
Das gefällt mir am besten. Ich kann mir heute nicht mehr vorstellen, ohne Kinder gelebt zu haben – sie haben es geschafft, dass ich Höhen und Tiefen mit mir selber erlebt habe, in ziemlich verschüttete und angsteinflössende Bereiche meines Inneren hinabsteigen musste, uralte Aengste und Haltungen hinterfragen musste und trotzdem für die Kinder einer der wichtigsten Menschen war und bin, sie be- und verurteilen nicht, sondern nehmen das als Teil meiner selbst hin. So gesehen, sind sie das Wichtigste in meinem Leben. Ich, die ich gar nicht verrückt nach Kindern war, muss heute sagen, dass es da irgendjemand oder irgendetwas gut gemeint hat mit mir.
Ein schöner Text!
V.a. dieser Kommentar tut gut: „….bereits leise ahnend, dass Muttersein so gar nichts mit den Zoobesuchen mit Patenkindern zu tun haben wird …. „, denn allzu oft staune ich, wie Menschen ohne Kinder unreflektiert denken, genau zu wissen, was Elternschaft bedeutet.
Beim Titel ist eigentlich das Wort „nur“ zuviel. Ich denke dass wir uns vielmehr vor Augen führen müssen, dass Kinder Menschen sind. Nicht irgendwelche Alien, die versuchen, unser schön aufgeräumtes Leben durcheinanderzuwirbeln. Sondern Menschen, mit menschlichen Bedürfnissen, Stärken und Schwächen und einem Platz in der Gesellschaft.
Schön gesagt 13.
Dieser Satz fiel mir auch auf. Wie wahr, wie wahr.
Das „nur“ stimmt insofern, dass wir auch dazu neigen, Kinder zu überhöhen, so irgendwie als reine Engelswesen, die nur Opfer werden und wenn es nach ihnen ginge, man sie „nur lassen würde“ der Weltfrieden herrschen würde (Kinder an die Macht).
Das ist natürlich genauso verkehrt, wie die Prämisse aus der Bibel „Bosheit ist gekettet an des Knaben Herz – die Rute befreit ihn davon“.
Kinder sind Menschen. Menschen wie wir. Genau gleich. Mit allen Eigenschaften, die wir Menschen haben, den wunderbaren und denen erschreckenden.
@ Roxy
Wir sind uns betreffend des Kinderbildes einig, aber wohl nicht in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Mir persönlich fallen Situationen/Diskussionen mit Kindern als Belastung/Störenfriede auf, von „Kinder sind Privatsache“ (bereits die Gleichung Kinder = Sache ist ja vielsagend) bis hin zu Diskussionen über Kinder im öV und Restaurants, also Orten, wo sich üblicherweise Menschen versammeln. Aber sicher wird beides je nach Kreis zutreffen.
Ihre Wahrnehmung ist schon richtig und ich teile sie auch. Jedoch werden Kinder auch glorifiziert. Etwa so wie die unterdrückte Frau im christlichen Patriarchat auch glorifiziert wurde, in der reinen Jungfrau Maria.
So meinte ich das.
Es gibt noch eine positive Interpretation des „nur“. Nämlich dass wir an Kinder nicht höhere Ansprüche stellen sollten als an uns. Für manche Eltern ist es ein Skandal wenn Kinder lügen oder ungehorsam sind. Dabei tun sie diese Dinge ja selbst auch.
@13: Vor allem gibt es unzählige Mütterbeiträge, die ihre Kinder als unerhörte Belastung bis hin zum „alltäglichen Wahnsinn“ und Auslöser von Burnout etc. bezeichnen.
Da scheint es normal, dass auch unbeteiligte Dritte lärmende Kinder mal als störend empfinden, und einige wenige Örtlichkeiten für Kinder gesperrt sind. Wie es ja auch andere gibt, die nur Kindern vorbehalten sind.
@ SP
Schade wurde mein Kommentar nicht veröffentlicht, aber ist es wirklich nötig, bei jedem Thema Mütter/Frauen zu kritisieren? Ich staune ja schon, was das weibliche Geschlecht angeblich alles falsch machen kann…
‚Kinder sind auch nur Menschen‘
Bis in etwa zum 3. Geburtstag stimmt das.
Der Titel gefällt mir.
Und auch der Text.
Liebe Frau Sommer
Das erste Jahrzehnt ist ein gemeinsamer Weg des Wachstums. Mit meinen Kindern habe ich das zweite Jahrzehnt erreicht und sie loslassen können. Sie stehen selbstbewusst und kraftvoll im Leben. Ich glaube im ersten Jahrzehnt habe ich gute Arbeit geleistet. Voller Fehler, backflash in meine eigene Kindheitsgeschichte, Tips aus Mamaratschlägen ausprobiert usw. Oft suchende auf dem Weg. Der Wertvollste Ratgeber aber war, das Kind in seiner Eigenheit zu erkennen und zu begleiten und Fehler machen zu dürfen.