Es war einmal die Bildschirmzeit…

Der Lockdown hat offenbart, dass wir unsere Vorurteile gegenüber Technologie in Kinderhand dringend überdenken müssen.

Bildschirmzeit ist nicht gleich Bildschirmzeit: Die Nutzungsdauer allein ist daher wenig aussagekräftig. Fotos: Getty Images

Geschafft. Die statistische Steilwand bei den Corona-Fallzahlen ist so weit ausgeblieben. Dagegen gelang es (uns zumindest) auf anderem Gebiet keineswegs, die «curve» zu «flatten». Der initiale Anstieg unserer Bildschirmzeit und das anschliessend stabile Superhochplateau während des Lockdown waren nix für Schwindelfreie. Doch nun, da der erste Einsatz des Handys am Morgen wieder dessen Weckfunktion ist, da die Normalität sich zaghaft zurückmeldet, bin ich zuversichtlich, dass es automatisch wieder weniger wird.

Mit Betonung auf weniger. Denn es ist ehrlicherweise ja nicht so, dass wir die Bildschirmzeiten unserer Kinder unter normalen Umständen wahnsinnig gut im Griff hätten. Und schon vor dem Ausnahmezustand kamen wir uns bei der Eindämmung der auch im Kinderleben um sich greifenden Digitalisierung gerne mal vor, als ob wir ein mittelgrosses Waldstück mit der kleinen Heckenschere zurückschneiden wollten. Es wird zunehmend schwierig, zeitliche Vereinbarungen durchzusetzen und findige «Hackerinnen» auch vom eleganten Umgehen technischer Sperren abzuhalten – wobei entsprechendes Versagen stets mit elterlicher Selbstgeisselung bestraft wird. (Ein Segen, werden unsere Akkukabel konstant zum Laden gebraucht…)

200 Gramm Schoggi oder Broccoli: Einerlei?

Doch dann, eben, kam der Lockdown – und funktionierte doch irgendwie wie eine durchschlagende Imagekampagne für Bildschirmzeit. Ganze Schultage fanden plötzlich online statt, Kontakte zu Grosseltern und Freunden, selbst Musik- oder gar Turnstunden konnten nur dank Teams, Zoom und wie sie alle heissen aufrechterhalten werden. Da dämmerte uns etwas, was bisher allenfalls selten und vage unsere auf sofortiges Ausschalten gedrillten Elternhirne durchkreuzte: Sich so auf die Dauer zu konzentrieren, bringts das? Ist das nicht etwa, wie wenn wir über die Ausgewogenheit unserer Ernährung anhand des blossen Gewichtes der vertilgten Tagesration bestimmen wollten? 200 Gramm Schoggi oder Broccoli, macht keinen Unterschied?

Dass differenziert werden muss, dass Bildschirmzeit nicht das einzige Kriterium einer sinnvollen Mediennutzung sein sollte, ist nicht erst seit dem Lockdown klar. Aber seit dem Lockdown offensichtlich. Hat er uns doch eines überdeutlich gezeigt: Ob mit Grosseltern gefacetimt, den Onlineerklärungen der Mathi-Lehrerin gelauscht oder trashiges Youtube- Zeugs geschaut wird, ist einfach nicht das Gleiche.

Ist «Wie lange?» die richtige Frage?

Der Begriff «Bildschirmzeit» verwische wichtige Unterscheidungen, so der britische Psychologe Andrew Przybylski. In einem Interview mit der FAZ sagte der Forschungsdirektor des Oxford Internet Institute zudem, dass wir die falsche Debatte führen, wenn wir diskutieren, wie viel Zeit Jugendliche am Handy verbringen sollten. «Viele Menschen fänden es verrückt, sich ernsthaft darüber zu unterhalten, wie lange man vor einem Buch verbringen oder beim Essen brauchen sollte. Aber bei Fernsehen, Handys und PCs setzt diese Logik aus.»

Möglichkeiten statt Risiken: Dank digitaler Medien gabs im Lockdown sogar Musikunterricht.

In verschiedenen Studien widmete Przybylski sich der Frage, wie lang zu lang und wie schädlich ein «Zuviel» ist. Aus Daten von 120’000 britischen Jugendlichen schloss er mit Co-Autorin Netta Weinstein, dass es Teenagern, die moderate Zeitspannen vor ihren Geräten verbringen, besser geht als solchen, die dies nie, wenig oder zu lang tun. Extrem viel Zeit vor digitalen Geräten – im Interview spricht er von mindestens 6 bis 7 Stunden täglich – scheine sich zwar negativ auf die Psyche auszuwirken. Doch sei der Effekt sehr gering, und es sei unklar, ob es sich um einen kausalen Zusammenhang handle. In einer anderen Studie analysierten Co-Autorin Amy Orben und er Userdaten von 17’000 Heranwachsenden. Auch hier scheint die Dauer der Bildschirmzeit wenig messbare Effekte auf die mentale Gesundheit zu haben. Eine weitere Untersuchung mit 35’000 Kindern deutet zudem darauf hin, dass Kinder, die ein bis zwei Stunden pro Tag vor dem Bildschirm sind, ein höheres Level des Wohlbefindens haben als jene ohne Zugang. Und kaum eines der untersuchten Kinder soll genügend Zeit mit Technologie verbracht haben, um messbare negative Folgen zu zeigen.

Nicht jede Minute im Netz gefährdet die Gesundheit

Von Apple-Aktionärin bis Technologie-Komplettverweigerer, da horchen wohl einige auf, dominieren sonst ja meist Schilderungen von Risiken und Nebenwirkungen des Zuviels. Doch mehren sich – auch neben den genannten – Studien, die so manches davon zumindest infrage stellen.

Auch wenn es gute Gründe für Skepsis in Bezug auf die Rolle von Facebook, Snapchat und Tiktok in unserer Gesellschaft gebe, so Przybylski und Orben: Anzunehmen, die Wissenschaft stütze die Ängste, dass jede Minute online die mentale Gesundheit gefährde, sei ein Fehler.

Und jetzt? Dürfen wir etwas aufatmen, auch wenn der Nachwuchs pausenlos am Gadget hängt? Kinder langfristig tagelang vor Screens zu setzen, bleibt wohl weiterhin kaum angebracht, je jünger, desto weniger, und auch nicht, wenn immer nur Schulfernsehen läuft. Ein zeitlicher Richtwert ist für Eltern zudem halt gar handlich. Doch vielleicht wäre jetzt ein guter Moment, um tief aus dem Bauch heraus gurgelnde Vorurteile gegenüber Technologie in Kinderhand zu hinterfragen. Und um zu überlegen, ob wir es uns mit der Stoppuhr daneben, jedenfalls mit einer allzu rigid eingesetzten, nicht gleichzeitig zu schwer und zu leicht machen. Zu schwer, weil die Einhaltung der Dauer mit zunehmendem Alter der Kinder (und zunehmender Digitalisierung) kniffliger wird und nicht alles nur schlecht ist, bloss weil es auf einem Screen stattfindet. Und zu leicht, weil die Konzentration auf die Dauer den Blick von schwierigeren, aber wohl wichtigeren Fragen ablenken könnte wie beispielsweise von jener, warum unsere Kinder welche Inhalte konsumieren. Oder wie es um ihre Balance im Leben, on- und offline, ganz grundsätzlich bestellt ist.

Weitere interessante Postings:

10 Kommentare zu «Es war einmal die Bildschirmzeit…»

  • Mark sagt:

    Meines Erachtens kommt das Thema zu viel Zeit vor dem Bildschirm aus Grossmutter’s Zeiten. Entscheidend ist eher was man damit macht. Persönlich verbringe ich keine Zeit in sozialen Netzwerken, dafür im Moment ca. 20% auf Youtube, wo ich primär wissenschaftliche Filme und Reviews fuer aktuelle Projekte sehe. Den Rest auf Newsplattformen und Wikipedia. Hinzu kommt die Arbeitszeit in Word und Excel und manchmal etwas Programmieren fuee meine Websites. Insgesamt sollte das eigentlich eine sehr ausgewogene Tätigkeit sein, dass alleine die Tatsache, dass vieles vor dem Bildschirm stattfindet schaedlich sein soll glaube ich nicht.

  • Otto Lang sagt:

    Man gewöhnt sich an alles. Und dann zeigen die entsprechenden Studien auch, dass man sich gewöhnt hat und alles nicht so schlimm ist. Die Korrelation von Bildschirmzeit und Kurzsichtigkeit zum Beispiel – ist ja nicht so schlimm, wenn 90% aller Kinder Brillen tragen, oder? Brillen tragen ist ja nicht schlimm.

  • Beni sagt:

    Kinder sollten genug draußen sein, nicht zuletzt wegen ihren Augen. Fehlendes Sonnenlicht führt anscheinend zu Kurzsichtigkeit. Viel Bewegung und viel Kontakt zu anderen Kindern. Wenn man das hinkriegt ist Bildschirm Zeit auch nicht mehr so lang.

    • 13 sagt:

      Wenn mein Sohn und sein Freund in Skater Park mit dem BMX und dem Scooter Tricks versuchen und sich dabei gegenseitig filmen. Läuft das dann unter „draussen“, „Sonnenlicht“, „soziale Kontakte“, „Bewegung“ oder „Bildschirmzeit“?

  • Yoko sagt:

    Bitte mal Vorträge der Herren Spitzer und Winterhoff, beides Psychiater, auf YouTube anhören, und sich dann eine Meinung bilden zum Thema Bildschirmzeit bei Kindern und Jugendlichen!

    • 13 sagt:

      „Bitte mal Vorträge der Herren Spitzer und Winterhoff,…“

      Bitte nicht!

      „sich dann eine Meinung bilden“ Information durch Polemik? Wie wäre es mit etwas objektiveren Quellen?

  • Maike sagt:

    Es kommt doch wohl auch darauf an, was da über den Bildschirm flimmert !

    4 Stunden mit schulischem Inhalt wäre zu akzeptieren – aber 4 Stunden Netflix, Instagram, FB und Konsorten würde ich unterbinden.

    Und Erziehungsparameter von vor der Coronazeit haben rückblickend durchaus ihre Berechtigung. Ist genau wie mit der Mode – vor 40 Jahren waren weisse Tennissocken das non plus ultra. Jetzt trägt sie kaum einer.

    Nur jetzt muss man die Erziehungsparameter halt der aktuellen Situation geschuldet anpassen. Und wenn – hoffentlich – Corona mal vorbei sein sollte, muss man sie wieder überdenken.

  • 13 sagt:

    Schön geschrieben.

    Der Unterschied vom Handy zu anderen Geräten, die wir früher so hatten, ist nun mal, dass es ein Multifunktionsding ist. Während zuvor: Musik auf dem CD-Player gehört wurde, der Wecker geweckt hat, die Zeitung in Papierform gelesen, mit dem Festnetz telefoniert und mit der Kamera fotografiert wurde etc. kommt heute für all das das Handy zum Zuge. Trotzdem bleiben es verschiedene Tätigkeiten und sind so zu werten und nicht unter „Bildschirm-Zeit“ zu verbuchen. Nach 8 Stunden im Büro kommt auch niemand auf die Idee zu sagen, man sei heute zu lange vor dem Bildschirm gesessen und sollte darum auf die Tagesschau verzichten..

  • Reincarnation of XY sagt:

    Guter Beitrag.

    Ich lebe selbst nicht nach Stoppuhren, also konnte und wollte ich das auch gegenüber den Kindern nie einführen.
    Mir scheint es wichtiger auf die Entwicklung des Kindes zu achten.
    Kommt es mit in der Schule? Hat es noch andere Interessen? Wie ist sein Sozialverhalten?

    Ich denke darauf müssen wir achten und weniger über Regeln diskutieren.

Die Redaktion behält sich vor, Kommentare nicht zu publizieren. Dies gilt insbesondere für ehrverletzende, rassistische, unsachliche, themenfremde Kommentare oder solche in Mundart oder Fremdsprachen. Kommentare mit Fantasienamen oder mit ganz offensichtlich falschen Namen werden ebenfalls nicht veröffentlicht. Über die Entscheide der Redaktion wird keine Korrespondenz geführt.