Was ich im Lockdown gelernt habe

Man kann ohne Restaurantbesuche leben, ohne Partys, ohne Freunde: Aber wollen wir das? Illustration: Benjamin Hermann
Donnerstag, 7. Mai
Eine Zeitlang spielte ich mit meinen beiden Kindern beim Mittagessen ein Spiel. Ich fragte sie: Welche drei Dinge habt ihr heute gelernt? Es ist gar keine so einfache Aufgabe, vor allem für Erwachsene, die nicht mehr zur Schule gehen und glauben, sie lernten eigentlich gar nicht mehr viel Neues. Es ist eine gute Denksportaufgabe und sorgte immer für Diskussionen: Muss es wirklich etwas Gelerntes sein, oder reicht es, einfach Informationen aufzuzählen, die man vorher nicht hatte?
Ab Montag wird der Lockdown vorsichtig in die zweite Phase gehen. Mein Sohn wird wieder die Schule besuchen, schrittweise werden wir aus den Homeoffices in die Büros zurückkehren, und es wird auch wieder möglich sein, ein Museum oder eine Buchhandlung zu besuchen. Wir werden alle aus unseren Löchern ans Licht zurückkriechen und dabei hoffen, dass die Sache damit gegessen ist. Zumindest wird dieses Tagebuch dann zu Ende sein.
Das ist eine gute Gelegenheit, zu fragen: Was habe ich während des Lockdown gelernt? Es ist Folgendes:
- Wie Menschen in Bezug auf ein gesundheitliches Risikothema reagieren, ist vollkommen individuell und schwierig abzuschätzen. Es hat in der Regel nichts mit ihrer politischen Einstellung zu tun – sehr viel aber mit Angst und Risikobereitschaft. Man wird immer wieder überrascht, weil Menschen sich ganz anders verhalten, als man es geglaubt hätte.
- Es braucht wenig, um eine Gesellschaft von Grund auf umzukrempeln, wenn alle den Sinn dieser Massnahme einsehen. Wenn die Menschen sich aber aufgrund dieser Regeln selber einschränken, erwarten sie auch von allen anderen, dass sie das tun.
- Wenn eine Bedrohung das Mitwirken aller verlangt und die individuelle Freiheit eingeschränkt wird mit der Aufforderung, Verantwortung fürs Soziale zu übernehmen, bringt das teilweise überraschende Charakterzüge zum Vorschein. Viele entwickeln eine gewisse Blockwartmentalität, wenn sie den Verdacht haben, andere nehmen sich Freiheiten, die sie sich selber versagen. Viele Menschen scheinen das Bedürfnis zu haben, andere für Dinge zu massregeln.
- Ein Leben ohne öffentliches Leben ist armselig. Menschen brauchen andere Menschen um sich herum, und sei es nur als Kulisse und Inspiration. Zwar hat sich auch gezeigt, dass vieles von dem, was wir immer für unverzichtbar halten, uns weniger fehlt, als wir gedacht haben. Umgekehrt gibt es aber auch Dinge, die zwar nicht lebensnotwendig sind, aber eine unschätzbare Freude bereiten. Man kann zwar ohne Restaurantbesuche leben, ohne Partys, ohne Freunde, ohne Arbeitskollegen. Das ist vielleicht alles Luxus – und dennoch ist das Leben ohne sie um so vieles ärmer.
Und damit verabschiede ich mich aus dem Corona-Tagebuch und freue mich auf das neue alte Leben, das ab Montag wieder beginnt.
Corona-TagebuchDurch Homeschooling und Homeoffice sind sich Eltern und Kinder zurzeit so nahe wie nie. Im Mamablog berichteten wir während der vergangenen zwei Monate täglich vom ganz normalen Wahnsinn aus dem Lockdown: von Kindern, Schule, Arbeit, Patchwork, Beziehungen, Social Distancing und kleinen Errungenschaften im neuen Alltag. Morgen erscheint der letzte Beitrag von Markus Tschannen.
2 Kommentare zu «Was ich im Lockdown gelernt habe»
Das Tagebuch, Michèle Binswanger, kann weiter gehen.
– Was habe ich nach des Lockdown gelernt?
Die meisten werden NICHTS gelernt haben. Das konnte man schon diese Woche sehen. Die Leute sind hirnlos ungeduldig. Warum eigentlich? Hat man Gelerntes schon so schnell verlernt?
Vielen Dank, Frau Binswanger! Ich lese Sie immer gerne wieder! (lassen Sie sich im Übrigen von der Zuger-Angelegenheit nicht runterkriegen!!)
Weiterhin alles Gute!