Sind wir noch gesellschaftsfähig?

Kaputtes Waffeleisen? Egal! Im Lockdown werden Prioritäten verschoben. Illustration: Benjamin Hermann
Dienstag, 5. Mai
Es staubt ganz schön, wenn man bei uns versehentlich die Gästehandtücher berührt. Und auch sonst holt sich die Natur einiges zurück. Unsere Dusche zum Beispiel wurde zur Kalksteinhöhle. Wir putzen sie normalerweise immer dann gründlich, wenn Übernachtungsbesuch angekündigt ist. Vieles habe ich noch gar nicht überprüft. Bestimmt hat eine grosse Iltisfamilie unser Auto längst zum Generationenwohnhaus umgebaut.
Einiges gibt in diesen Zeiten grad ganz den Geist auf und wird nicht mehr ersetzt. Das Waffeleisen – dessen Kabel ich versehentlich gewaffelt habe – steht seit Wochen defekt herum, weil die Waffeleisenersatzkabelfachhandelsgeschäfte mit Brettern vernagelt sind. Etwa die Hälfte der Rauchmelder funktioniert, den anderen fehlen Batterien. Die Heizung heizt nur noch jeden dritten Tag, aber ich möchte den Heizungsmenschen nicht einer unnötigen Ansteckungsgefahr aussetzen. Alle reden von Digitalisierung, aber ich stelle in diesem Lockdown eher eine gewisse Detechnologisierung fest.
Ich habe ein stattliches Stück meiner Gesellschaftsfähigkeit verloren.
Hinzu kommt – man verwittert auch als Person. Ich habe ein stattliches Stück meiner Gesellschaftsfähigkeit verloren. Spreizte ich im Februar beim Afternoon Tea noch den kleinen Finger ab, begrüsse ich fremde Menschen inzwischen mit gutturalen Grunzlauten. Waschen tu ich mich auch eher selten – ist ja ziemlich eklig in unserer Dusche. Der Brecht wiederum ist in den letzten Tagen streitsüchtig geworden. Er versucht die Strukturlosigkeit zu nutzen, um sich in unserer Familie die Position des Alphawolfs zu erkämpfen. Das wirkt im kleinen Rudel vielversprechender als im Grossrudel. Was ich sagen will: Die Dynamiken einer Schulklasse täten ihm gerade ganz gut.
Ich bin gespannt, ob wir den Weg zurück in die Zivilisation finden. Es wird wohl seine Zeit dauern. Der Brecht kreuzt nächste Woche die Krallen mit seiner strengen Lehrerin. Ich werde wieder neu lernen müssen, dass man in physischen Meetings saubere Hosen, eventuell sogar Socken und Schuhe trägt. Und wenn wir wieder mit dem Auto Verwandte und Freunde besuchen können, fragen die sich bestimmt, weshalb wir so jämmerlich nach Iltis stinken.
Corona-TagebuchDurch Homeschooling und Homeoffice sind sich Eltern und Kinder zurzeit so nahe wie nie. Im Mamablog berichten wir von Montag bis Freitag um 17 Uhr vom ganz normalen Wahnsinn aus dem Lockdown: von Kindern, Schule, Arbeit, Patchwork, Beziehungen, Social Distancing und kleinen Errungenschaften im neuen Alltag. Den nächsten Eintrag von Markus Tschannen lesen Sie am kommenden Freitag.
2 Kommentare zu «Sind wir noch gesellschaftsfähig?»
„Sind wir noch gesellschaftsfähig?“
Diese Frage stellt sich mMn nur fremdgesteuerten Menschen, die Ihr „normales“ Leben komplett an Bedürfnissen / Ansichten / Forderungen von Anderen ausrichten.
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Unabhängige, selbstbestimmte Menschen tun etwas aus eigener Überzeugung d.h. weil SIE es wollen. Für diese Menschen spielen die äusseren Umstände letzlich keine Rolle.
Klingt etwas schwarzweiss, dafür dass „gesellschaftsfähig“ nun wirklich ein sehr undefinierter Begriff ist.