Wenn Mama zusammenbricht
Inzwischen ist er ziemlich genau zwei Jahre her: dieser Tag, der mein Leben komplett auf den Kopf gestellt hat. Ich war im Bahnhof Bern, auf dem Heimweg von der Arbeit. Bis zu diesem Moment war meine Welt in bester Ordnung. Ich fühlte mich so fit und gesund wie schon lange nicht mehr, hatte Energie wie selten und war drei Monate zuvor nach meiner Mutterschaftspause wieder voller Elan in meinen Fernsehjob eingestiegen.
Mein Kleiner, inzwischen zehn Monate alt, war zu diesem Zeitpunkt wesentlich pflegeleichter als die vierjährige Schwester in ihrer Anfangszeit. Eben noch hatte ich eine Kolumne darüber geschrieben, dass mit 40 das Leben so richtig beginne. Ich war also voll im Saft, hatte weder Schlaf- noch Konzentrationsschwierigkeiten, war nicht müde, nicht deprimiert und hatte auch sonst keinerlei Symptome, die auf einen Zusammenbruch hingedeutet hätten. Und nun freute ich mich, dass ich an diesem Tag im Büro etwas früher Schluss machen konnte und den Zug um 17.34 Uhr erwischen würde. Kurzum: Es war alles in bester Ordnung.
Nächster Halt: Inselspital
Bis ich in der Bahnhofsunterführung vor der grossen Anzeigetafel stand. Und meine Welt zu wanken begann. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Decke kam mir entgegen, der Boden unter meinen Füssen ebenso. Es war der schlimmste Schwindel, den ich je hatte. Was ich nicht wusste: Er würde noch über Stunden, ja Tage anhalten. Es fühlte sich an wie in einem Vakuum auf hoher See. «Schnell hinsetzen», dachte ich und eilte zum Perron. Eine unsichtbare Macht wollte mein Hirn rausreissen, zog daran und dehnte es wie einen Kaugummi, den man langzieht. Ich fühlte mich wie in einem Science-Fiction-Film, nur war ich leider mitten in der Realität, in der Rushhour des Lebens. Es war 17.34 Uhr. Die Zugtüren schlossen, der Zug fuhr davon. Ohne mich. Ich sass noch immer auf der Bank von Perron 7, und nichts war mehr wie vorher.
Es erwischte mich mit solcher Wucht, dass sofort klar war: Es geht nicht ohne Klinik.
Statt nächster Halt Thun hiess es nächste Station Inselspital. Ich lag auf dem Krankenbett und fiel gleichzeitig ins Bodenlose. Nach einer schlaflosen Nacht durfte ich nach Hause. Man wolle weitere Abklärungen vornehmen, MS sei nicht ganz ausgeschlossen, aber für den Moment sei alles okay.
Doch für mich war nichts mehr okay. Tagelang bewegte ich mich in dieser komischen Parallelwelt, die so gar nichts mehr mit meiner bisherigen Wirklichkeit zu tun hatte. Meine Wahrnehmung: verschwommen und verschoben. X-mal tauschte ich meine Linsen und musste jedes Mal erneut feststellen, dass diese verzerrte Wahrnehmung nichts mit meinen Augen zu tun hatte. Irgendwann kamen Panikattacken hinzu. Eines Nachts war ich mir sicher: «Jetzt verlierst du den Verstand.» Am nächsten Morgen war es da: dieses Gefühl, das unverkennbar eine Depression ist. Und das ich nicht meinem allerärgsten Feind wünschte. Dieses Depressionsgefühl liess nicht mehr zu, dass ich weiterarbeitete, und auch nicht, dass ich für meine Kinder sorgen konnte. Mich hatte es mit solcher Wucht erwischt, dass sofort klar war: Es geht nicht ohne Klinik. Diagnose: mittelschwere Erschöpfungsdepression. Vermutlich auch ein Anteil Postpartaler Depression, denn nur kurz vorher hatte ich meinen Sohn abgestillt.
Es kann jeden treffen
Begriffe und Ausdrücke wie Wahnsinn, verrückt sein, «meine Welt gerät ins Wanken» oder «es zieht mir den Boden unter den Füssen weg» schienen plötzlich ganz einleuchtend. Nur dass man dies lieber niemals erfahren hätte.
Depression, das war mir als Journalistin nicht fremd. Ich hatte schon viel dazu recherchiert, gefilmt, Interviews mit Betroffenen und Experten geführt – und hätte nie, nie, nie im Leben gedacht, dass es mich einmal selbst erwischen könnte.
Und nun musste ich erfahren, dass es eben doch jeden treffen kann. Die Jüngste in der Klinik war 15, der Älteste 90. Künstler, Spitzensportlerin, Informatiker, KV-Angestellte, Bankerin, Bauarbeiter, Polier, Krankenschwester: Sie alle sassen mit mir in einer Runde. Auch wenn ich mich anfangs wie im Irrenhaus fühlte, merkte ich schon bald, dass es der richtige Weg war. In der Klinik wurde mir geholfen. Dort zeigte man mir Wege und Werkzeuge, um aus der tiefen Dunkelheit zurück ins Licht zu finden.
Das Therapieangebot war breit: von verschiedensten Körpertherapien über Ergotherapie bis hin zur Aromatherapie und zum Achtsamkeitstraining. Was klingen mag wie ein Wellnessprogramm, sind bewährte Methoden, um eigene Frühwarnzeichen zu erkennen, um die Abwärtsspirale stoppen zu können. Um sich selbst wieder zu spüren. Denn die Sinne, die Selbstwahrnehmung spielen ja verrückt in diesem Ausnahmezustand Depression.
Meine Depression, mein Schosshündchen
Genauso wichtig waren aber auch Psychotherapie und Psychopharmaka. Gegen Letztere habe ich mich anfangs vehement gesträubt. Heute bin ich froh, dass mich mein Therapeut irgendwann davon überzeugen konnte. Zwar heilen Medikamente keine Depression. Aber sie helfen, im allerschlimmsten Moment Stabilität zu schaffen. Damit man überhaupt wieder fähig wird, sich auf die anderen Therapien einzulassen.
Winston Churchill nannte seine Depression den «schwarzen Hund». Ein Hund, der riesig und gefährlich ist, der beisst und bellt. In der Klinik lernt man, diesen Hund an die Leine zu nehmen. Und in der nachfolgenden Therapie lernte ich, ihn zu einem fügsamen Schosshündchen zu machen. Heute, zwei Jahre später, geht es mir wieder gut. Ganz selten noch wedelt das Schosshündchen um mich herum oder bellt auch einmal. Die meiste Zeit schläft es friedlich in seiner Hundehütte.
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25 Kommentare zu «Wenn Mama zusammenbricht»
Wow! Danke! Könnte meine Geschichte sein!
Eine postpartale Depression ausgelöst durch das Abstillen habe ich zweimal erlebt. Weder die Mütterberaterin noch der Psychiater haben einen Zusammenhang zwischen dem Abstillen und der Depression erkannt.
Ich wünschte mir mehr Aufklärung durch Mütterberaterinnen, Stillberaterinnen oder die Spitäler.
ich selber hatte noch nie im leben depressionen, aber ich habe in meinem umfeld viele, die damit leben müssen. sie haben nicht die selben probleme, es geht ihnen ganz verschieden. einigen hilft therapie, einigen medikamente (mit therapie), anderen hilft das nicht und vorallem: ich kenne niemanden, der „werkzeuge“ bekam und therapiert wurde, so dass das in dem sinne half, dass sie die depression „loswurden“, „in den griff bekamen“ oder wie auch immer. es mag lindern, es mag im moment manchmal hilfreich sein. aber ich kenne keinen menschen, der es ganz überwunden hat oder wenigstens zu einem grossen teil. manchen geht es besser, mit oder ohne hilfe (je nach typ mensch oder krankheit vielleicht, keine ahnung), aber keinem gut
Doch, ich hatte eine als Teenager, das ging ein paar Jahre, und dann war die Pubertät vorüber und die Depression quasi weg über Nacht. Seither hatte ich keine mehr.
Kann man nach einer so einschneidenden Erfahrung „sein wie vorher“? Natürlich nicht. Weil die Erfahrung einer Depression uns prägt und das Grauen nie vergessen werden kann. Sie macht uns irgendwann reicher, gelassener und – hoffentlich – egoistischer. Eben nicht „wie zuvor“ und das ist gut so.
nina, das ist schön zu lesen!
sibylle: jeder ändert sich ja laufend, klar. aber ich vermisse dass es wenigstens einem teil der leute, die mit depressionen kämpfen, besser geht wenn sie therapie machen und diese so gerne angepriesenen werkzeuge bekommen, von denen mir noch nie einer sagen konnte, was das sein soll. ich kann auch nicht nachvollziehen, warum es so weit verbreitet ist, dass die leute denken, sie müssten egoistischer sein und das auch noch gut finden.
Depressionen haben 1000 Gesichter. Deswegen werden sie oft spät erkannt.
Im Gegensatz zur Autorin weiss ich genau, woher meine Depressionen kommen: fehlende Anerkennung, Intrigen, physische und psychische Misshandlung durch die Schwester und Ignoranz dieser durch Eltern. Durch mein fehlendes Selbstbewusstsein widerholte sich in meiner ersten Ehe bis zu Suizidgedanken.
Zusammenbrüche hatte ich mehr als einen, aber stationäre Behandlung hätte Fremdplatzierung meiner Kinder bedeutet, da alleinerziehend. So wurstelte ich mich halt durch, mit wenigen Krankschreibungen (1×7 Tage, 1×3Wochen, 1×6Wochen) Einmal hatte ich sogar eine gute Psychologin, bei der ich aber wegen der KK aufhören musste. Danach eine Odysee mit verschiedenen Therapeuten, bei denen es für mich einfach nicht stimmte.
Mit Psychopharmaka habe ich im Gegensatz zur Autorin keine guten Erfahrungen. Ausser immense Gewichtszunahmen, welche ich bis heute nur mit strengster Essdisziplin bekämpfen konnte, hatte es mir nichts gebracht.
Ich nehme seit 4 Jahren nichts mehr ein, Diät muss ich immer noch halten.
Ich bin heute glücklich, aber meine Depressionen und Erschöpfungszustände sind trotzdem geblieben. Seit einem Jahr praktisch dauerhaft, öfters kurz vor dem nächsten Zusammenbruch. Schlaflosigkeit, Weinkrämpfe, Schwindelanfälle, Zittern am ganzen Körper, Existenzängste.
Mommentan macht mir auch die Isolation zu schaffen. Im Winter habe ich kaum Zeit um Leute zu treffen oder einzuladen und jetzt wird die Isolation verlängert.
Hatte ich auch : einen totalen Burnout. Aber niemand glaubte mir und der Arzt sagte mir es sei nicht medizinisch anerkannt, also musste er mich unter Depression einen Monat freigeben. Aber heute, 30 Jahre später (!) habe ich mich immer noch nicht erholt : stets müde, konzentrationsprobleme, usw.
Ein ehrlicher, schonungsloser Bericht, vielen Dank. Genau so ist es und es kann wirklich jeden trefffen!
Ich habe dies selber zwei Mal mitgemacht, einmal nach der Geburt und einmal nach einem tragischen Ereignis. Meine Devise: achtsam auf sich selber sein.
Ich wünsche Ihnen alles Gute!
Nebenwirkungen:
Frau…depressiv…. Mann geduldig, immer noch verliebt… sieht, dass etwas schief läuft
Frau geht zum Psychologen…. kommt in Klinik
und dann……. wird böse und aggressiv
sieht den Partner als natürlichen Feind und das Böse
bei Besuchen in der Klinik von Freunden wird über den Partner brutalst gesprochen und er wird denunziert
der Kontakt bricht trotz mehrmaligem Senden von Blumen und Liebeserklärungen ab…..
Der Partner versteht die Welt nicht mehr
Mittlerweile fast 2 Jahre keinen Kontakt mehr und trotzdem wird fast jeden Tag versucht, Leid zuzufügen……
Die Psychiater sprachen mit dem Partner, dass es 2 Jahre dauert (dauern kann), bis sich dieser Zustand verbessert…..
Fazit: Patient kann ganze Familien zerstören….
es kommt viel schlimmer etc
RM solche Erfahrungen machen Angehörige leider sehr häufig. In der Klinik haben sie eigentlich nie das Wohl der Angehörigen im Auge. Dies haben mir auch Fachleute bestätigt. Es ist ein grosses Problem in der Psychiatrie.
Nach ihrem Beschreib kann es gut sein, dass die Depression ihrer Frau eine Folgeerscheinung einer tieferliegenden psychischen Störung ist. (Dieser Punkt geht oft vergessen.) Wer auf Liebe mit Hass reagiert, hat ein sehr tiefgehendes Problem mit sich selbst. Es ist ungesund eine solche Person zu lieben. Man schadet damit nicht nur sich selbst, sondern auch der kranken Person.
Ich würde mich an Anlaufstellen für Angehörige wenden. Auf keinen Fall an die Therapeuten, welche ihre Frau behandeln.
Ich lebe seit 1986 (!) mit einer bipolaren Partnerin zusammen. In der Klinik wird ein Partner (oder dessen Kinder nie miteinbezogen(suchen sie sich eine Selbsthilfegruppe!) – nach ca. 15 FFE’s setze ich nur noch auf Psychopharmaka’s. Sobald meine Partnerin diese reduzierte und absetzte ging ab in die Psychose mit nachfolgendem (Zwangs-)klinikaufenthalt. – So beruflich durchzustehen, die Familie am ‚Laufen‘ zu erhalten ist nur noch unsäglich. Aber der Patient(die Patientin bestimmt mit den Aerzten einer Psycho-Klinik fast alles und hat die entsprechenden Rechtsmittel. – In den Depressionsphasen arbeitet der Partner ‚wie ein Trier‘. Ein Dankeschön gab’s praktisch nie. Von der Psychiatrie bin ich völlig enttäuscht und hüte mich mit solchen Personen überhaupt Kontakt zu halten.
Meine Erfahrung ist, dass die Psychoindustrie nicht daran interessiert ist, dass es den Kranken besser geht oder gar geheilt werden, sondern dass diese ihr Einkommem sichert. Ich erlebe in meinem Umfeld, dass psychisch Kranke wie Babys behandelt werden. Dass man denen zutraut die Toilette zu benutzen, anstatt in Windeln zu sch… ist ein Wunder. Immer nur bitschibätschi dududu, alle Pläne ausreden, die einen Anstupf geben könnten, dass es besser geht.
Danke Reincarnation
Genau so sehe ich das nun auch
Eine kleine Kritik habe ich: Was hat das jetzt mit „Wenn Mama zusammenbricht“ zu tun?
Ich meine, das könnte der Zusammenbruch einer x-beliebigen Person sein, mit oder ohne Kinder.
Der Titel suggeriert doch, dass jetzt ein Bericht folgt, was es für die Familie bedeutet, wenn Mama/ein Elternteil eine akute Depression hat.
gut beobachtet tststs – es ist wirklich ein irreführender Titel.
Der Titel suggeriert eher, dass ein Bericht folgt von einer, welche durch die Mutterschaft so überfordert ist, dass sie zusammenbricht.
Der passende Titel hier wäre: „Depression aus heiterem Himmel“ – es geht hier weder um Elternschaft, noch sonst was.
@Reincarnation: sie haben wohl keine Kinder. Mutterschaft und Doppelbelastung Familie-Beruf erhöht das Risiko mit Sicherheit massiv, auch bei Vätern, ganz sicher aber bei den Müttern. Das muss m.E. nicht Mal mehr speziell erwähnt werden und der Titel ist daher durchaus passend, im Gegenteil, die zweite Mutterschaft schien problemlos zu verlaufen, man denkt sich nicht einmal etwas dabei. Dass der Beruf häufig aufgegeben oder geändert werden muss ist eine leidige, von der Gesellschaft kaum anerkannte Tatsache und geht wohl regelmässig mit massiven Lohneinbussen einher.
Herr Reiner ich habe Kinder, und nicht nur eine Doppelbelastung, sondern wenigstens eine dreifache. Ich breite mein Privatleben hier in der Öffentlichkeit einfach so wenig als möglich aus.
Also, nichts von dem trifft zu, was Sie über mich vermuten.
Doch die Frau sagt eben: „aus heiterem Himmel“ und sie sagt nicht, „danach lernte ich, dass ich meine Überlastung nur verdrängt hatte… o.ä.“
Also scheint es eben nicht die Mutterschaft oder Doppelbelastung zur Depression geführt haben. Jedenfalls suggeriert das die Autorin sehr stark. Also sollte der Titel dem auch Rechnung tragen.
„Nur wer es selbst erlebt hat, kann verstehen wie schrecklich eine Depression ist“ – absolut einverstanden. Ich hatte vor mehreren Jahren einen Rückfall. Ich werde möglicherweise freiwillig bis ans Lebensende eine minimalst Dosis Cipralex einnehmen.
Manchmal beneide ich Leute, bei denen es einfach ganz schnell und klar einfährt, und alles seinen Lauf nimmt. Ich habe jahrelang mit verdeckten, mittelschweren Depressionen gelebt, ohne Klinik oder Hilfe.
Auch diese Frau hat offensichtlich schon lange mit verdeckten Depressionen gelebt.
Guter Artikel, man mag sich nicht ausmalen was es für Betroffene bedeutet in dieser Zeit daran zu erkranken, oder sich langsam der Entscheidung „jetzt will ich doch abklären“ genähert haben, oder dies bei einem Familienmitglied erleben.
Wie bei so vielen Krankheiten, deren Fallzahlen/Tag ja nicht plötzlich rückläufig wären… .
Liebe Frau Honegger !
Vielen lieben Dank für Ihre Offenheit und den Mut, über Ihre Krankheit zu sprechen. Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Liebe und Gute, weiterhin viel Kraft, Mut, Zuversicht, Hoffnung, Freude und Spass am Leben und mit Ihrer Familie und allerbeste Gesundheit !
Liebe Grüsse
Andrea Sabina Mordasini
Sehr gut und treffend beschrieben. Nur wer es selbst erlebt hat, kann verstehen wie schrecklich eine Depression ist. Den genau gleichen Satz gebrauche ich auch immer: ich wünsche es nicht meinem ärgsten Feind!