Corona-Tagebuch

So lehrreich kann Unschooling sein

Reifenwechseln und Briefe schreiben statt Pflichtunterricht: Unser Papablogger entdeckt die Vorteile von interessengetriebenem Lernen.

Konstruktives Homeschooling: Lernen nimmt im Lockdown überraschend neue Formen an. Illustration: Benjamin Hermann

Dienstag, 14. April

«Wie läufts mit dem Homeschooling?» Wer zu Hause schulpflichtige Kinder hortet, kennt diese Frage. «Entspannt, entspannt», antworte ich. Der Brecht ist in Basisstufe 2 und hat zwar ein Mathe-Lehrbuch sowie -Übungsheft, aber nach dem Kindergartenmodell wäre er … eben noch im Kindergarten. Das berücksichtigen auch seine Lehrerinnen. Die meisten Aufgaben sind für Kinder der Basisstufe 3 und 4 Pflicht, für die jüngeren – also Basisstufe 1 und 2 – freiwillig.

Immerhin: Diese Freiwilligkeit nehmen wir sehr ernst und verzichten auf Pflichtunterricht. Klar, ab und zu schreiben wir ein paar Sätze ins Corona-Heft – Papa muss ja auch. Meistens darf der Brecht aber bestimmen, was er machen will. Zum Glück stehen keine wichtigen Prüfungen an, und so ist es egal, was er lernt. Ich möchte die Volksschule nicht missen, aber wir erhalten hier gerade ein leckeres Probiermüsterli von interessengetriebenem Unschooling.

Das Kind schraubt Radmuttern auf die Bolzen, und Vati schüttelt eine Denkaufgabe aus dem Hirn.

Gestern spendierte ich unserem Auto die wohlverdienten Sommerräder. Irgendwann schlich der Brechthold um mich herum und wollte wissen, warum ich Räder wechsle. Wir redeten lange über Gummimischungen und Haftreibung. Der Brecht identifizierte anhand des Profils, wo bereits die Sommerräder drauf waren und wo noch die Winterräder. Am offenen Radkasten inspizierten wir die sonst schlecht sichtbaren Teile des Autos: Motor, Antriebswelle, Achslenker, Bestandteile der Bremse, Federung und Stossdämpfer. Das Kind durfte Radmuttern auf die Bolzen schrauben, und zum Schluss schüttelte Vati eine Denkaufgabe aus dem Hirn: Was bedeuten die Kreidemarkierungen VR und HL an den Rädern? Es dauerte eine Weile, aber immerhin merkte der Brecht zwischenzeitlich korrekt an, dass es ja wohl «WinterReifen» heissen müsse, nicht «VinterReifen».

An der Buchstabenfront ist der Brecht zum Glück fit. Er liest viel, und obwohl schreiben nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehört, hat er doch oft Gelegenheit, es zu üben. Seit kurzem hat er nämlich einen Brieffreund. Wissen Sie, was so richtig zum Ins-Bäckchen-Kneifen knuffig ist? Wenn sich zwei noch nicht ganz Sechsjährige in krakeliger Schrift ohne ie und Doppelkonsonanten über «Haustire» unterhalten … die sie beide nicht haben.

Auch für weitere praktische Anwendungen hat der Brecht die Schrift entdeckt. Seit heute hängt an seiner Zimmertür ein selbst gestaltetes Schild: «BITE NICHT REIN KOMEN». Wenn er hinter der Tür jetzt tatsächlich ungestört Mathe-Aufgaben löst, dann darf die Schule gerne noch länger geschlossen bleiben.

Corona-TagebuchDurch Homeschooling und Homeoffice sind sich Eltern und Kinder zurzeit so nahe wie nie. Im Mamablog berichten wir von Montag bis Freitag um 17 Uhr vom ganz normalen Wahnsinn aus dem Lockdown: von Kindern, Schule, Arbeit, Patchwork, Beziehungen, Social Distancing und kleinen Errungenschaften im neuen Alltag. Den nächsten Eintrag von Markus Tschannen lesen Sie am kommenden Freitag.

6 Kommentare zu «So lehrreich kann Unschooling sein»

  • fufi sagt:

    Jaja, das „interessenbasierte Lernen“ ……
    Ich hab stets alles, was mich interessierte, in mich aufgesogen. Dummerweise hat der Mittelschulstoff irgendwie grad gar nicht zu dieser Kategorie gehört. Ausser ein paar klitzekleine Inseln im riesigen öden Meer des gefälligst zu Lernenden (weshalb auch immer DAS denn so wichtig hätte sein sollen …). DAs Maturzeugnis spricht hier eine überaus deutliche Sprache.
    Tja, das Studium hat mich dann aber sehr interessiert, ausser natürlich dieses eine Fach 🙂

    40 years later bin ich irgendwie ein Lexikon des unnützlichen Wissens.

    Und ja, wegen der Denkaufgabe, das ist ja sonnenklar:
    VR = Vorderrad
    HL = Hintellad

  • Kurt Bättig sagt:

    Nun gibts schon drei Varianten von Bildung: Schoolschooling, Homeschooling, Unschooling.
    Dank apewording werden noch weitere Begriffe dazu kommen.
    Newspeak der schönen neuen Welt…

    • Die Begriffe sind nicht so neu, dass Sie gleich einen Beissreflex kriegen müssen, Herr Bättig. Und sie machen Sinn: Homeschooling ist wie die Volksschule, also Unterricht nach Lehrplan, einfach zu Hause. Unschooling ist sozusagen der Gegenentwurf zur von Erwachsenen geleiteten Schule. Da bestimmen die Kinder mit ihren Interessen die Inhalte.

  • Ig sagt:

    Meinen Jungs habe ich so ziemlich alles vermittelt, was ich so weiss. Inklusive erste Hilfe Grundkurs, Grundkurs im Spinnen(am Redli), Pflege/Waschen eines Menschen im Bett, Wäschesortierung im Detail etc etc.
    Dazwischen, meistens im Auto, Geschichtsstunden, Autofahren/Betrieb und auch Details von Eisenbahnen/zügen.
    Das Resultat: Tweens, die um die Ecke denken können, sehr interessiert an Vielem sind–und mittlerweile die Mamakommentare auch sehr gut ausblenden können…

  • Lisa sagt:

    An der Denksportaufgabe bin ich gerade fast gescheitert. Aber zu meiner Ehrenrettung: ich habe gar kein Auto 🙂
    Solch praktisches Lebenslernen kommt leider häufig zu kurz. Man muss sich als Eltern allerdings ein bisschen die Mühe machen um herauszufinden, was das Kind wirklich interessiert und darauf aufbauen. Und nicht das vermitteln wollen, was man selbst weiss (dem Kind aber wurscht ist).

Die Redaktion behält sich vor, Kommentare nicht zu publizieren. Dies gilt insbesondere für ehrverletzende, rassistische, unsachliche, themenfremde Kommentare oder solche in Mundart oder Fremdsprachen. Kommentare mit Fantasienamen oder mit ganz offensichtlich falschen Namen werden ebenfalls nicht veröffentlicht. Über die Entscheide der Redaktion wird keine Korrespondenz geführt.