Best of: Mein Kind braucht Wachstumshormone
Heute publizieren wir einen Text, der in den vergangenen Monaten besonders gut bei unseren Leserinnen und Lesern angekommen ist. Er erschien erstmals am 2. März 2020. Frohe Ostern!

Knochenreifung und Zuckerstoffwechsel: Wachstumshormone regulieren nicht nur die Körpergrösse. Foto: iStock
Als mein Sohn zur Welt kam, war er mit seinen 53 cm ein eher grosses Baby. Nach ein paar Monaten pendelten sich seine Grösse und sein Gewicht auf der untersten Perzentile der Wachstumskurve ein. Wie es eben zu erwarten war, wenn Mama und Papa nicht besonders gross sind und sich auch der Rest der Verwandtschaft längenmässig eher in tieferen Gefilden bewegt.
Ich war deshalb nicht weiter beunruhigt, als der Kinderarzt zum ersten Mal eine Bemerkung machte, dass mein Junge «schon sehr klein» sei für sein Alter. Doch bei der Folgekontrolle wurde klar, dass er unter die tiefste Perzentile abgerutscht war, sodass der Arzt uns zum Spezialisten schickte, um weitere Abklärungen betreffend Wachstum machen zu lassen.
Viel Lärm um nichts?
Trotz der abflachenden Wachstumskurve war ich überzeugt, dass der Kinderarzt viel Lärm um nichts machte. Schliesslich hatte ich selber als Kind erst recht spät einen Wachstumsschub gehabt, wieso sollte es bei meinem Sohn nicht genauso ablaufen? Ich ging also zu dem Termin in der Überzeugung, dass ich es danach schwarz auf weiss haben würde, dass mit meinem Kind alles in Ordnung ist.
In der Klinik wurde der Siebenjährige im Detail vermessen, seine Hand wurde geröntgt und man berechnete allerlei. Danach äusserten die Spezialisten den Verdacht, dass er an einem Wachstumshormonmangel leiden könnte. Um diese Vermutung bestätigt zu haben, musste mein Sohn zum nächsten Termin nüchtern antraben und ein paar Stunden lang still daliegen, an einer Infusion hängend. Es wurde ihm in regelmässigen Abständen Blut abgenommen, um festzustellen, wie stark die Wachstumshormone in der Zeitspanne ansteigen. Um ganz sicher zu gehen, wurde der Test ein paar Wochen später nochmals wiederholt.
Das Resultat war eindeutig: Die Hirnanhangdrüse meines Siebenjährigen produziert zu wenig Somatotropin, wie das Wachstumshormon auch genannt wird. Weshalb man uns empfahl, ihm die fehlende Hormondosis künftig von aussen zuzuführen – also zu spritzen.
Notwendig oder nice to have?
Hätte mir der Arzt gesagt, dass mein Kind einen Eisenmangel hat und ein Supplement benötigt, hätte ich das Medikament ohne zu zögern eingepackt. Doch hier ging es um Hormone. Und Injektionen. Das klang nach einem heftigeren Eingriff in den Körperhaushalt. Und das alles nur, um ein paar Zentimeter grösser zu werden?
Mir schwirrten allerlei Gedanken durch den Kopf. Ein Kind grösser zu spritzen, das klang so nach Optimierung – grässlich! Und doch … gerade Männer haben es nachweislich schwerer, wenn sie sehr klein sind. Sie werden seltener befördert, sind bei der Partnerwahl benachteiligt. Rechtfertigt das die Spritzen? Was sagt mein Sohn dazu? Und vor allem: Was würde er als Erwachsener zum Thema sagen?
Jeden Abend eine Spritze
Im Gespräch mit dem Arzt erfuhr ich schliesslich, dass das Somatotropin für weit mehr als nur die Körpergrösse zuständig ist. Es beeinflusst auch die Knochenreifung, den Fettsäure- und den Zuckerstoffwechsel. Aufgrund des Hormonmangels habe mein Sohn weniger körperliche Ausdauer, sein Körper würde später weniger Muskelmasse und dafür mehr Fettpölsterchen bilden. Und er würde vermutlich nicht nur ein bisschen weniger gross werden, sondern deutlich kleiner als sein Vater und ich.
Nachdem ich all diese Informationen erhalten hatte, war für mich der Entscheid klar: Es gab keine andere Option als diese Spritzen. Der Papa war von Beginn weg gleicher Meinung, auch weil er die Auswirkungen der Hormonbehandlung aus der Ferne schon mitbekommen hatte: Der Sohn eines Freundes ist schon länger in Behandlung, und die Eltern berichten nur positiv davon. Und als unser Junge vom Arzt hörte, er würde dank der Injektionen nicht nur wachsen, sondern auch den Ball stärker kicken können, war er sofort Feuer und Flamme.
Da das Hormon vor allem während des Schlafs ausgeschüttet wird, muss jeden Abend eine Spritze gemacht werden. Und das so lange, bis das Kind ausgewachsen ist – in unserem Fall also die nächsten 11 Jahre. Glücklicherweise wird das Medikament mit einem sogenannten Pen gespritzt, auf den man jeden Abend eine neue winzige Nadel setzt. Das ist so simpel, dass sogar Kinder die Injektion vorbereiten und sich mit etwas Mut sogar selber stechen können.
Vorbereiten Ja, stechen Nein
Das Vorbereiten des Pens fand mein Sohn denn auch total faszinierend. Ja, er war fast ein bisschen stolz, als wir mit einem Dreimonatsvorrat von Injektions-Pens nach Hause kamen – denn wer sonst hat schon so was zu Hause? Den Übungs-Pen nahm er sogar mit in die Schule, um seiner Klasse die Prozedur vorzuführen und alles zu erklären. Vor dem echten Pieks hatte er dann aber solche Angst, dass ich die ersten Abende stundenlang mit ihm übte, bloss um am Ende verzweifelt aufzugeben.
Die Praxisassistentin gab uns dann den rettenden Tipp: Wir könnten es im Schlaf versuchen, das würde das Kind gar nicht merken. Der Sohn fand die Idee gut, wir auch. Trotzdem sass ich die ersten paar Male mit angehaltenem Atem und hypernervös über dem schlafenden Jungen, bevor ich den Pen ansetzte. Sein eigenes Kind zu stechen, ist schwierig genug, es im Schlaf mit einer Spritze zu überraschen, ist noch heftiger. Aber es funktioniert. Und heute, zwei Monate später, habe ich mich schon fast an die allabendlichen Injektionen gewöhnt.
Wachstumsmässig ist in der kurzen Zeit übrigens noch nicht viel passiert. Aber mein Sohn steht nun regelmässig aufgeregt im Zimmer an seiner Messlatte und möchte wissen, wie gross er nun schon sei. Und der erste dazugewonnene Zentimeter wurde mit riesigem Jubel begrüsst.
Diese Beiträge könnten Sie auch interessieren:
7 Kommentare zu «Best of: Mein Kind braucht Wachstumshormone»
Es ist von vorteil wenn Jungs grösser sind als Mädchen
Was? Nicht innerhalb der Normgrösse? Geht ja gar nicht. Nicht normierte Menschen sind nutzlos. Könnte man meinen. Und Manche handeln sogar danach. Einfach unfassbar. Das Ende der Evolution der Menschheit haben wir wohl schon hinter uns.
Vor 32 Jahren bekamen wir die Diagnose dass unsere Tochter nur 1.42 m gross würde. Gott sei Dank gab es da schon den Pen und das Wachstumshormon Norditropin sie wurde 1.60m gross und hat trotz noch sonstiger Einschränkungen, Freude am Leben und ihrer Grösse.
Hormone spritzen für Kinder? Um Gottes Willen.
Ja“ liebe „eltern , mal dringend googeln aus was wachstumshormone hergestellt werden , und sich dann über nichts mehr wundern! GRAUSLIG
Lieber Herr Thaelen, fertig gegoogelt: Somatotropin wird schon seit langem “rekombinant” hergestellt. Also gentechnologisch, wie z.B. auch Insulin für Diabetiker. Finde ich nicht besonders “grauslig” …
In den 60-er und 70-er Jahren wurden vor allem Mädchen mit wachstumshemmenden Hormonen behandelt, damit sie nicht zu gross werden. Denn zu grosse Frauen würden keinen Mann finden, so die einhellige Meinung der Mediziner. Mit dem Ergebnis, dass die behandelten Mädchen im Erwachsenenalter alle unter sehr deformierten Körpern litten. Die Wachstumshormone hatten nämlich leider nicht den Effekt, einfach nur die Grösse zu reduzieren, die betroffenen Mädchen entwickelten alle sehr breite Becken und ganz wenig Busen. Diese Hormonbehandlung wurde für viele Frauen zum Albtraum.