Corona-Tagebuch

Mein zufriedenes Leben im Einsiedlertum

Ein sicheres Einkommen und endlose Gartenabenteuer: Die Krise macht unserem Autor bewusst, wie unglaublich privilegiert er eigentlich ist.

Kein Grund zu jammern! So manche Familien erleben trotz Corona viel Positives. Illustration: Benjamin Hermann

Dienstag, 7. April

Wir waren die letzten Tage oft draussen. So oft, dass uns gestern erst nach dem Bau des Nachtlagers aus Ästen und Laub einfiel: «Moment, wir haben doch eine Wohnung mit richtigen Betten!» Schnell die Pieselgrube wieder zuscharren und rein ins Maison.

Ich bin kein enthusiastischer Naturmensch, aber ich freue mich für den Brecht über das schöne Wetter. Er springt auf dem Trampolin inzwischen 50 Meter hoch, und wenn wir reingehen, müssen wir mit dem Presslufthammer den getrockneten Schlamm wegspitzen, bevor wir den Rest abkärchern können. So soll Kindheit sein.

Der Lockdown macht mir bewusst, wie privilegiert wir sind. «Wir» als Bevölkerung, die wir einem guten Gesundheitssystem vertrauen können. Aber auch «wir», die Leute mit einem Garten und ganz besonders «wir», die vier Tschannens. Unser Garten ist etwa so gross wie der Nationalpark, und für garstiges Wetter haben wir ein Haus, das Sie sich wie das Schloss von Versailles vorstellen können – einfach mit Ikea-Möbeln. Das sind natürlich alles gefühlte und grob geschätzte Vergleiche.

Corona betrifft uns alle und trifft uns doch ganz unterschiedlich.

Dazu haben wir Jobs und Aufträge, die uns auch jetzt zuverlässig Nudeln, Pizza und Broccoli auf den Tisch finanzieren. Wir wechseln uns im Homeoffice ab: Jemand arbeitet, jemand schaufelt Brei in Beebers und bringt dem Brecht bei, schön auf einer Linie zu schreiben. Da wir schon vorher auf Kita, Tagesschule, Grossvati-Tag, Nanny und Zofe verzichteten, flutscht uns die Betreuung auch jetzt ganz flott von der Hand.

Ich erzähle Ihnen das alles nicht, um anzugeben. Fegte grad keine Pandemie übers Land, würde ich übrigens ganz gerne in der Stadt wohnen und gerne etwas mehr verdienen. Aber aktuell ist das Einsiedlertum mit Teilzeitstelle hier in Hinterstotzigen-Amafterderwelt richtig angenehm.

Meine Privilegien breite ich auch deshalb aus, weil es unverfroren wäre, Ihnen hier ohne diesen Kontext wegen irgendwelcher Unannehmlichkeiten des Lockdowns das Gesicht vollzuheulen. Corona betrifft uns alle und trifft uns doch ganz unterschiedlich. Natürlich ist es moralische Pflicht der Privilegierten, die weniger Privilegierten zu unterstützen. Dazu gibt es viele Möglichkeiten.

Sollte ich im Verlaufe dieses Corona-Tagebuchs doch rumjammern – und das werde ich –, dann sagen Sie bitte: «Tschannen, halts Maul!»

Übrigens habe ich in letzter Zeit auch andere Menschen jammern gehört. Sie sagen Dinge wie: «Oh Gott, bitte nicht noch ein Corona-Tagebuch.» Ich verstehe das. Natürlich darf man drüber diskutieren, ob Eltern über ihren Lockdown-Alltag schreiben sollen und wer das bitteschön lesen will. Fangen Sie unten in den Kommentaren mal damit an. Ich stosse später hinzu. Zuerst muss ich mich informieren, ob Prinz Williams Kinder heute auch klatschen, wie die Rückbildung bei Anja Zeidler läuft und ob Luca Hänni immer noch Single ist.

Corona-TagebuchDurch Homeschooling und Homeoffice sind sich Eltern und Kinder zurzeit so nahe wie nie. Im Mamablog berichten wir von Montag bis Freitag um 17 Uhr vom ganz normalen Wahnsinn aus dem Lockdown: von Kindern, Schule, Arbeit, Patchwork, Beziehungen, Social Distancing und kleinen Errungenschaften im neuen Alltag. Den nächsten Eintrag von Markus Tschannen lesen Sie am kommenden Freitag. Bleiben Sie munter!

 

16 Kommentare zu «Mein zufriedenes Leben im Einsiedlertum»

  • tina sagt:

    privilegierte: ich warte wirklich darauf, dass jemand den 10 reichsten im lande oder auch den 100 reichsten, nur läppische 10% der kontostände konfisziert, um all jene zu unterstützen, die durch die maschen des bis jetzt bestehenden hilfsnetzes fallen. und warum zum geier machen die 10 oder auch 100 reichsten das nicht freiwillig? das würde unter „etwas zurückgeben“ laufen. ich bin als organisatorin nahe an freiwilligenarbeit dran und diese leute sind alle eher einkommenstechnisch arm und WOLLEN etwas zurückgeben. weil sie sich als vom leben beschenkt empfinden

  • tigercat sagt:

    Was soll sich bei Anja Zeidler zurückbilden und wer ist überhaupt Anja Zeidler???

  • Markus Baumgartner sagt:

    Nicht ganz zum Thema, aber mir ist beim Lesen spontan aufgefallen, dass das Wort „Privilegien“ bei mir inzwischen leider spontan ideologische Assoziationen weckt. Ich fühle mich nämlich grad ähnlich privilegiert wie Herr Tschannen und bin teilweise schockiert wie einige in meinem Umfeld jammern. Was mir aber auch sehr klar wird, sind die Gründe für meine Privilegierung: ich lebe in einem westlichen Industrieland, gehöre zur Mittelschicht, habe einen Job, der Heimarbeit zulässt, und habe keine ernsthaften gesundheitlichen Probleme. So lebt es sich gut. Und es liegt eben nicht primär daran, dass ich ein alter Hetero-Cis-Mann bin. Ich würde mich freuen, wenn mehr Menschen diejenigen Privilegien „checken“ würden, die wirklich den Unterschied machen.

    • tina sagt:

      der witz an den privilegien von alten weissen hetero-cis-männern ist halt, dass es für leute, die eine oder mehrere dieser eigenschaften nicht haben, nicht so leicht ist, die selben privilegien zu bekommen und dafür um so leichter, sie wieder zu verlieren, wenn man sie mal hat

      • Markus Baumgartner sagt:

        Ach ja? Wenn ich kein alter Hetero-Cis-Mann wäre, würde ich dann mit geringerer Wahrscheinlichkeit in einem westlichen Industrieland leben? Zur Mittelschicht gehören? Körperlich gesund sein? Wohl kaum. Man könnte höchstens noch diskutieren, ob vielleicht etwas mehr Männer als Frauen in Berufen sind, in denen von daheim gearbeitet werden kann, aber schwarz-weiss ist die Situation auch da keinesfalls.

      • tina sagt:

        „Wenn ich kein alter Hetero-Cis-Mann wäre, würde ich dann mit geringerer Wahrscheinlichkeit in einem westlichen Industrieland leben? Zur Mittelschicht gehören? Körperlich gesund sein?“
        genau. die wahrscheinlichkeit wäre geringer all diese privilegien zu haben und vorallem sie auch stabil und verlässlich weiterhin zu behalten. typisch ist, dass als angehöriger dieser gruppe glaubt, diese privilegien hätten gar nicht so viel mit der zugehörigkeit zu dieser gruppe zutun

  • Magdalena sagt:

    Ich liebe alle Beiträge vom Tschannen. Aber dieser hier ist einfach zum brüllen, ich liebe es und hat mich richtig zum lachen gebracht. Danke und bitte mehr.

  • Maura Hanley sagt:

    Bin begeisterte ‚Tschannen-Leserin‘. Manchmal muss ich lauthals lachen über das Geschriebene – herrlich schräge Beiträge einer bodenständigen Familie. Danke vielmals. Tagebücher sind seit 1994 meine grosse Leidenschaft. Und dieses Mal, ja, auch ich mag die Ruhe am Himmel, die leeren Wälder, wo wir gerne mit Rosa, ein fideles Hundemaitli, hingehen. Das einzige, was anhängt, ist das ‚Grosskinder-Fasten‘, das Fasten unserer 3 jungen Familien. Wir machen jetzt ‚Window-Shopping‘: Die Jungen bringen uns gemäss unseren Wünschen die Kommissionen durchs Fenster. Und auch sonst fühlen wir uns gut im ‚Kopf‘. Haben noch kein ‚cabin fever‘. Ferien fallen ins Wasser – Geld gespart. Wohltuend am Vollmondvorabend, einen solch aufmunternden Bericht von Ihnen zu lesen! Keep safe!

  • 13 sagt:

    Das finde ich einen tollen Beitrag. So sollte es sein. Verglichen mit vielen, geht es uns gut und das darf man durchaus bemerken und wertschätzen.

    Falls man aber doch das Haar in der Suppe suchen soll: Das Corona-Tagebuch geht in Ordnung, das Bild ist zu überdenken….

    • Das Bild ist zu überdenken … wegen Cultural Appropriaton?

    • tina sagt:

      wenn „uns“ und „man“ = 13 mit ihrem mann und ihren kindern und markus tschannen, seine frau und kinder ist, dann ja, unbedingt, meine güte JA, schätzt das, bitte, sehr, und zwar täglich mehrfach intensiv. es geht nämlich längst nicht allen so hierzulande

    • Peter S. Grat sagt:

      Shit, meine Kinder spielen gerne Indianerlis, ich habe nichts dagegen. Jedes Spiel bedient ja gewisse Klischees und Indianer sind bei ihnen positiv besetzt.

      Zudem hat das eigentlich nichts mit Cultural Appropriation (nicht Appropriaton) zu tun, sondern ist schlicht spielen.

      Hier wird IMHO dieser Begriff falsch verwendet.

      Wenn ich meinen Kindern sagen würde, sie dürfen nicht mehr Federn und Tomahawk brauchen um Indiander zu spielen, dann würden sie sagen: „aber das gehört doch dazu“.

      Gibt übrigens ein tolles Indianermuseum in Zürich, klar wollten die Kinder das zu Hause umsetzen, was sie dort gesehen haben.

      Was spielen Ihre Kinder denn so, ohne irgendwelche Klischees zu bedienen. Lego, Playmobil und alle Compi-Spiele basieren ja auf Klischees. Ist ja nicht per se schlecht.

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