Plötzlich tickt die Zeit anders

Kein Unterricht, kein Druck: Teenager können dem «Ferienmodus» durchaus etwas Positives abgewinnen. Illustration: Benjamin Hermann
Montag, 6. April
Es ist seltsam, wie anders die Zeit verstreicht, wenn man morgens nicht mehr aus dem Haus ins Büro eilt, Sitzungen abhält, im Büro sitzt, mit Kollegen mittagessen geht, abends vielleicht ein Bier oder noch Sport, und sich dann durch die Pendlerströme nach Hause wälzt. Jetzt bleiben wir zu Hause und erledigen alles von hier. Anfangs dachte ich: Yeah, nicht mehr pendeln, das bedeutet so viel mehr Zeit! Denkste. Ich habe nicht mehr Zeit, aber sie verläuft anders. Formlos, verstreicht sie rasend schnell und scheint trotzdem stillzustehen, man tigert herum, sieht überall nur Aufgaben, die es zu erledigen gälte, kann sich nicht dazu aufraffen, anderes ist gerade wichtiger. Die Tage, vormals als Montag, Dienstag, Mittwoch bekannt, sind ununterscheidbar geworden, und haben wir eigentlich noch März, oder sind wir schon im nächsten Monat gestrandet?
Ich erinnere mich an ein Buch aus meiner Kindheit. Eigentlich nur an den Titel: «Zwei Jahre Ferien» hiess es, und ich habe wohl meinem Philosophen-Onkel allzu enthusiastisch davon erzählt, wie toll ich mir das vorstelle, zwei Jahre Ferien zu haben. Er hörte mir zu und machte dann dieses Gesicht, als suche er irgendwo in seinem Hinterkopf nach einer Antwort. Dann erklärte er mir, dass wir Ferien vor allem als Abwechslung so sehr schätzten, um uns zu erholen. Dass es aber eine ganz andere Sache sei, wenn es nur noch Ferien gäbe, man sich ganz eigene Strukturen geben müsse.
Als hätte die Krise eine Stopp-Taste gedrückt.
Meine Kinder bringen der Aussicht ziemlich viel Sympathie entgegen: sich den Rest des Schuljahres ans Bein zu streichen. Es sind nicht gerade Ferien, aber sie dürfen ihre Bildung bis auf weiteres selber verfolgen – ohne Unterricht, Präsenzzeiten, permanenten Druck. Es ist, als hätte die Krise eine Stopp-Taste gedrückt, alles hält den Atem an, alles funktioniert nur noch auf Sparflamme. Und das ist nicht nur schlecht. Es gibt auch Raum für Neues. Kurioserweise merken das auch die Spitäler, erzählte mir eine Ärztin. Es gibt momentan weniger Notfälle, auch weniger Herz- und Schlaganfälle.
Und dann gibt es da noch eine andere Perspektive: Die Vorstellung, dass es nie mehr so sein wird wie früher, so vieles sich verändern wird, hat auch etwas Aufregendes. Als Journalistin will ich sehen, verstehen, dabei sein. Es ist die Perspektive des Reporters, der sich am Wind grosser Veränderungen berauscht. Sofern man sich nicht gerade vor Angst in die Hosen scheisst.
Irgendwann wird das Gröbste vorbei sein. Die Zeit wird wieder ihre alte Form annehmen, und irgendwann werden wir bemerken, dass es eben doch nicht die alte Form ist. Sondern eine neue. Ich freue mich schon darauf.
Corona-TagebuchDurch Homeschooling und Homeoffice sind sich Eltern und Kinder zurzeit so nahe wie nie. Im Mamablog berichten wir von Montag bis Freitag um 17 Uhr vom ganz normalen Wahnsinn aus dem Lockdown: von Kindern, Schule, Arbeit, Patchwork, Beziehungen, Social Distancing und kleinen Errungenschaften im neuen Alltag. Den nächsten Eintrag von Michèle Binswanger lesen Sie am kommenden Donnerstag.
Ein Kommentar zu «Plötzlich tickt die Zeit anders»
Das war für mich auch das Erstaunlichste – ich habe den Bezug zu den Wochentagen verloren. Das lag vermutlich daran, das ein Arbeitstag für mich dadurch gekennzeichnet war, das ich das Haus verlassen habe. Und ein Wochenende dadurch, das ich zu Hause geblieben bin.
Was mich weiter am HO stört, ist der kurze Weg vom Frühstück zur Arbeit. Ich musste täglich 40 min pendeln – und das war eine hervorragende Zeit um mich von zu Hause auf die Arbeit umzustellen – und abends umgekehrt.
Dazu kommt jetzt noch – es steht ein Stück Firma bei mir zu hause !!
Auch ich hoffe, das diese Zeiten den Fokus auf die wirklich wichtigen Dinge lenkt, das Pflegekräfte & Co endlich vernüftig bezahlt werden und das es auch ausreichend Personal gibt. Und wir uns wirtschaftlich wieder mehr auf uns besinnen.