Freitagsfrage

Muss ich die Nachbarskinder schützen?

Experten warnen, dass die Corona-Isolation häusliche Gewalt schüre. Wie man bei einer Konfrontation im direkten Umfeld richtig reagiert, sagt unsere Erziehungsberaterin.

Helfen ja, aber nicht allein: Bei einem Verdacht auf häusliche Gewalt sollte man Experten beiziehen. Illustration: Benjamin Hermann

Liebes Mamablog-Team

Meine Nachbarn sind ohnehin schon sehr überfordert mit der Erziehung ihrer zwei Kinder. Das zeigt sich mitunter daran, dass oft laut geschrien wird und die Kinder manchmal über Stunden weinen. Seit der Schulschliessung höre ich aber nun täglich Schreie, Gerumpel und Wimmern aus der Wohnung unter mir. Was soll ich nur tun – vorbeigehen und mit der Polizei drohen? Julia

Liebe Julia

Herzlichen Dank für Ihre Frage.

Ich kann Ihre Besorgnis und den Wunsch, die Kinder der Nachbarn zu schützen, gut nachvollziehen.

Es gibt viele Formen häuslicher Gewalt. Findet die Gewalt zwischen den Eltern statt, und sind die Kinder dabei? Oder sind sie gar direkt davon betroffen? Selbst wenn die Kinder nicht körperlich misshandelt werden, sind sie Belastungen ausgesetzt: Sie befinden sich in einer Atmosphäre von Angst und Gewalt. Sie fühlen sich schutzlos, denn die Menschen, die sie schützen sollten, sind dazu aktuell nicht in der Lage.

Die deutsche Sozialpsychologin Sandra Dlugosch hat das Miterleben von häuslicher Gewalt in der Kindheit untersucht. Sie berichtet, dass die Kinder in Situationen häuslicher Gewalt mit der existenziellen Angst um ihr eigenes Leben oder um das Leben des bedrohten Elternteils konfrontiert sind. Sie können die Situation nicht verhindern, nicht stoppen oder abschwächen, sondern sind ihr ausgeliefert. Wie traumatisch solche Erlebnisse für das individuelle Kind sein können, hängt von seinem Alter, seinen Fähigkeiten, dem Umfeld, der Häufigkeit und dem Ausmass der Gewalterfahrung ab. Das, was die Kinder und Jugendlichen durch häusliche Gewalt erleben, belastet sie schwer.

Handeln Sie ruhig und besonnen – ausser es besteht eine akut bedrohliche Situation.

Häusliche Gewalt ist keine harmlose Privatsache. Auch für Sie als Zeugin kann sie sehr belastend sein. Es ist jedoch äusserst wichtig, dass Sie sich von Ihren Gefühlen nicht überwältigen lassen. Handeln Sie ruhig und besonnen – ausser es besteht eine akut bedrohliche Situation.

Als aussenstehende Person ist es sehr schwierig, die Lage einzuschätzen. Handeln Sie daher nie in Eigenregie, sondern holen Sie sich dafür professionelle Unterstützung. Auf die verschiedenen Möglichkeiten werde ich nachher eingehen. Nehmen Sie sich zuerst Zeit für eine kurze Dokumentation der Lage. Der Umgang mit der Situation ist für Sie also auch mit Aufwand verbunden. Ohne geht es nicht, aber nichts machen sollte nicht die Lösung sein. Einen ersten Schritt haben Sie bereits getan.

Schreiben Sie als Erstes möglichst präzise Ihre Beobachtungen und die Informationen, die Ihnen zur Verfügung stehen, nieder:

  • Wie alt sind die Kinder?
  • Wie zeigt sich die Familiensituation? Welche Aussenkontakte und weiteren Bezugspersonen (z.B. Tante, Götti) haben die Kinder?
  • Woran machen Sie eine mutmassliche Misshandlung fest?
  • Wie schätzen Sie den Zustand der Kinder ein?
  • Zeitpunkt und Häufigkeit der mutmasslichen Misshandlung
  • Haben andere Personen ähnliche Beobachtungen gemacht?

Wenden Sie sich nun an eine Fachstelle ohne Meldepflicht (Opferhilfestellen) und besprechen Sie die Situation und das weitere Vorgehen – zum Beispiel mit der Kinderschutzgruppe und Opferberatungsstelle des Kinderspitals Zürich. Ihre vorherig dokumentierten Beobachtungen werden Ihnen im Gespräch nützlich sein.

Selbstverständlich sind auch mehrere Kontakte mit der Fachstelle möglich, zum Beispiel, wenn eine besprochene Intervention nicht sofort die erhoffte Wirkung zeigt. Bei feel-ok finden Sie weitere anschauliche Hinweise zum Thema.

Eltern, selbst wenn sie Gewalt ausüben, sind keine «schlechten Menschen». Sie sind meist selbst überlastet und überfordert. Auch wenn es uns schwerfällt: Wir erreichen mehr, wenn wir den Eltern mit Offenheit und nicht mit Vorwürfen begegnen. Wenn Sie den Eltern das nächste Mal im Treppenhaus begegnen, bietet sich ein Gespräch darüber an, wie es ihnen in dieser schwierigen Corona-Zeit geht. Kommen Schwierigkeiten zur Sprache, können Sie, wenn Sie sich das zutrauen und es die Situation erlaubt, auf den Elternnotruf oder auf die Pro-Juventute-Elternberatung hinweisen oder selber zur Entlastung einen Spaziergang mit den Kindern anbieten. Auch die Kinder können Sie im vertraulichen Gespräch darauf hinweisen, dass sie sich Hilfe holen dürfen. Zum Beispiel über die Notrufnummer 147 oder den gleichnamigen Chat der Pro Juventute.

Danke, dass Sie nicht wegschauen. Ich wünsche Ihnen viel Mut!

Daniela

 

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12 Kommentare zu «Muss ich die Nachbarskinder schützen?»

  • Lisa sagt:

    Ich hatte Nachbarn, deren Kind über Stunden schrie und weinte, Krankheitsbedingt. Diese Nachbarn hatten öfter die Polizei/Kesb am Hals. Zum Glück konnte es immer gut und richtig geregelt werden. Und ich hatte andere Bekannte, deren Kinder sehr ruhig, artig und zurückhaltend waren. Als sie erwachsen waren, stellte sich heraus, dass da massiver Missbrauch – physisch und psychisch – dahinter steckte. Hätte keiner gedacht… Insofern bin ich aufmerksam, wenn ich in der Nachbarschaft etwas aussergewöhnliches feststelle, habe auch schon Eltern direkt darauf angesprochen. Auf diese Weise konnte ich eine völlig überforderte Mutter überreden, professionelle Hilfe anzunehmen. Im Fazit ist es doch so: Wegschauen ist schlecht. Hinschauen und reagieren ist richtig. Egal über welchen Weg.

  • Elisa sagt:

    An Ihrer Stelle würde ich den Kindern das ‚Signal‘ senden (falls sie schon im Schulalter sind), dass sie immer bei Ihnen klingeln können, falls ‚etwas‘ ist. Vielleicht treffen Sie die Kinder mal im Treppenhaus oder sehen sie im Garten spielen (falls in der gegenwärtigen Situation noch erlaubt)…versuchen Sie das Vertrauen der Kinder zu gewinnen. Im Ernstfall rufen Sie die Polizei (lieber einmal zuviel als zu wenig). Als Kind hat mich meine Logopädin ‚gerettet’& mir erklärt, dass die Situation daheim nicht normal ist. Sie brachte mir bei wie ich die Polizei anrufen kann & gab mir den Rat das nächste Mal zu den Nachbarn zu flüchten. Dies hat geholfen. Meine Mutter fand danach den Mut sich zu trennen & bekam professionelle Hilfe (auch rechtlich) um sich&uns vom Vater zu schützen.

  • M. Sommer sagt:

    Mich irritiert, dass die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde von der Expertin mit keinem Wort erwähnt wird. Diese ist – auch in Corona-Zeiten- für den Kindesschutz in der Schweiz zuständig und prüft bei Verdachtsfällen wie dem Beschriebenen, ob ein Handeln nötig und angemessen ist (oder entlastet die „verdächtigten“ Eltern, falls alles in Ordnung ist). Kinder zu schützen ist die gesetzliche Pflicht der Kindesschutzbehörde und gerade jetzt, wo Kitas, Kindergärten und Schulen geschlossen sind, ist es wichtig, dass nicht alle wegsehen und den Kopf einziehen, wenn Kinder (und vielleicht ja auch die Eltern) Hilfe brauchen. Eine Gefährdungsmeldung hat nichts mit Denunzieren zu tun, sondern zeigt, dass man Verantwortung für Andere übernimmt. Es scheint mir wichtig, auch diesen Weg aufzuzeigen.

    • A. Zindel sagt:

      Es ist aber sicher nicht die erste Anlaufstelle. Dort bzw bei der Polizei sollte man sich erst melden, wenn die Situation wirklich extrem ist. Es gibt Familien die lautet sind als andere und Nachbarn, die empfindlicher sind als andere. Sobald die kesb benachrichtigt würde, befinden Mühlen zu malen, für nicht mehr zu stoppen sind. Da ist es besser, erst andere Schritte zu gehen. Wenig kann schon sehr viel bewirken. Wenn sich nichts tut, geht man einen Schritt weiter und noch einen.
      Es gibt viele Fälle, bei denen überreagiert wird. Das kann mehr Schaden anrichten als helfen.

      • 13 sagt:

        @ A. Zindel
        Das ist ein Trugschluss. 80-90% aller Meldungen bei der KESB werden wieder eingestellt, weil die Kinder nicht gefährdet waren. Die Mühlen mahlen im Notmalfall dann, wenn es einen Grund gibt.

  • Anh Toàn sagt:

    Schwieriges Thema: Einerseits geht uns das Leben unserer Nachbarn nur soweit etwas an, als es lästige Emissionen (Lärm etc.) verursacht, andererseits kann man vage (das „Zeuge“ gefällt mir hier nicht) durchaus genug mitbekommen, um einen ernsthaften Verdacht zu begründen: Ich würde mich zuerst bei den Nachbarn, dann allenfalls bei den zuständigen Behörden (also der Polizei) über das beklagen, was mir zusteht, sprich den Lärm monieren, ohne darüber hinaus beschuldigend zu folgern, dieser Lärm entstehe aus Misshandlungen. Allenfalls werden dies die Abklärungen, ob und damit auch warum unakzeptabler Krach ist, ergeben. Manchmal sind die Dinge nicht, als was sie erscheinen, man sollte nicht vorverurteilen, irrt man sich, wird nämlich danach das Verhältnis zum Nachbarn schwierig.

    • Mauro Suter sagt:

      Gewalt gegen Kinder geht alle etwas an! Das Problem hier ist wohl kaum der Lärm allein. Und ja, es ist nicht immer so wie es scheint. Deshalb ist es wichtig, hinzuschauen, denn nur so kann man wenn nötig den Kindern helfen oder, wenn alles ein Irrtum ist, den Verdacht aus dem Weg räumen.

    • 13 sagt:

      @ Anh
      Kindesschutz geht nachbarschaftlichem Verhältnis vor. Häusliche Gewalt ist keine Privatsache, sondern etwas, das die ganze Gesellschaft betrifft. Die Nachbarn sind jedoch nicht die richtigen, um herauszufinden, was vor sich geht. Darum bringt ein Ansprechen je nach Situation nichts oder kann sogar kontraproduktiv sein, weil die Nachbarn alarmiert werden. Solche Dinge gehören in die Hände der Fachpersonen. Die KESB, die Polizei oder Opferschutzstellen sind da die richtige Adresse. Und sollte sich der Verdacht nicht erhärten: Umso besser. Sollten die Nachbarn danach wütend sein, ist es halt so. Wem das eigene Ansehen vor dem Schutz von Kindern vor Gewalt geht, brauche ich eh nicht.

      • Reincarnation of XY sagt:

        Anh – ich kann sehr wohl in Frieden leben.
        Und wer nichts zu verbergen hat, der kann auch was vertragen.
        Wie es Tamar sagt: unsere Gesellschaft leidet ganz bestimmt nicht darunter, dass man sich zu viel Sorgen um das Kindeswohl in der Familie macht.
        Wir leben viel mehr in einer Jahrtausendealter Kultur des Wegschauens.
        Früher: weil keine Rechte hatten.
        Heute: weil man eben – wie Sie anführen – keinen Ärger will.
        Will ich auch nicht. Aber wenn man täglich schreien und stundenlanges Weinen hört, dann sollte man eindeutig handeln.

    • Anh Toàn sagt:

      Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben…

      • Tamar von Siebenthal sagt:

        Genau: wegschauen, wie man das schon seit 50’000 Jahren so hält, bei Gewalt und Kindsmissbrauch…

        Aber sich immer wieder echauffieren, wenn es anderorts passiert. Passt doch

    • Anh Toàn sagt:

      Wird man „Zeuge“ von Missbrauch, warum überhaupt nur bei Kinder, sondern generell bei allen Schwereren Verbrechen, zumindest Delikte gegen Leib und Leben, muss man handeln, soweit man kann, zumindest als sittliche Pflicht. Aber mir fehlt hier die notwendige Zuverlässigkeit der Information. Grundsätzlich versuche ich, zu Nachbarn nicht mehr Beziehung aufbauen als nötig, und da mische ich mich auch nicht ein, vielleicht sogar noch weniger als irgendwo, wo ich gerade zufällig ist. Mit Kindern wird man mehr Beziehung haben zu Nachbarn mit gleichaltrigen Kindern, dann ist da aber mehr als reine Nachbarschaft.

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