Nutzen Sie die Zeit sinnvoll – oder auch nicht

Warum sollte man das gerade jetzt lernen? Eine selbst genähte Mundschutzmaske. Foto: Screenshot Youtube
«Ich poliere gerade mein Englisch auf. Und der Malte lernt jetzt sogar Gitarre.» Schön für dich und Malte, denke ich und frage mich, warum ich darüber informiert werden musste. Ob nun über die üblichen Eltern-Whatsapp-Gruppen, in den sozialen Netzwerken oder über den Podcast der Autorin Charlotte Roche, in dem ich erfahre, dass sie sich nun gern mit Tai-Chi beschäftigen möchte und der Sohn ihres Mannes auch gerade Gitarre spielen lernt.
Aus allen Ecken raunen einem Tätigkeiten und Beschäftigungsmöglichkeiten zu, wie man sich die zwangsverordnete Zuhausezeit vertreiben oder, noch besser, wie man sie sinnvoll nutzen kann.
Selbst schuld, kann man mir mit gutem Grund vorwerfen. Ich muss mir weder solche Podcasts reinziehen, noch in den sozialen Netzwerken rumhängen. Und Eltern-Whatsapp-Gruppen in Corona-Zeiten für mindestens vier Wochen auf stumm zu schalten, ist eine der besseren Ideen dieser Tage. Ausserdem sind gerade soziale Netzwerke ja auch genau dafür da: «Hier, ich habe einen Kuchen gebacken, guck mal, wohin ich neulich verreist bin, liebe Grüsse an die Oma.» Dagegen ist nichts einzuwenden. Auch nicht dagegen, dass man versucht, das Beste aus dieser absurden Zeit zu machen. Falls mir das selbst nicht gelingt, ist das mein Problem.
Die meisten von uns zeigen lieber Fortschritte, Erfolgserlebnisse und gelungene Momente.
Was mich daran stört, ist der Eindruck, dass hier für die momentane Corona-Wirklichkeit ein Optimierungsfilter angelegt wird. Solche Filter benutzen wir alle, das ist vollkommen normal. Unsere gerahmten Familienfotos sind auch die achte Aufnahme und nicht die sieben davor, auf denen wir wirr in der Gegend herumgucken, die Augen verdrehen oder gerade niesen mussten. Die meisten von uns zeigen lieber Fortschritte, Erfolgserlebnisse und gelungene Momente anstatt fliegender Popel, schreiender Eltern oder den Fussboden putzen müssen, weil die jüngste Tochter einfach nicht damit aufhören will, die Dielen vollzukritzeln. Aber muss das wirklich jetzt sein?
Vielleicht bin das wirklich ja nur ich. Vielleicht bin ja nur ich damit überfordert, jetzt zu lernen, wie man Mundschutzmasken näht, sein eigenes Geschirr töpfert oder die Kinder mit musikalischen Einlagen unterhält. Ist aber unwahrscheinlich.
Hauptsache, klarkommen
Ich bin momentan ganz froh, wenn ich morgens irgendwie hochkomme und unter der ersten Bedürfnissalve der Kinder («Papa, essen, spielen, druck mir ein Bild aus, ich muss Kacka, ich will mir nicht die Hände waschen, Papa, essen, trinken, Paw Patrol, essen PAPAAAAAAAA!!!») nicht zusammenklappe. Wie weit die Grossen bei ihren Homeschooling-Aufgaben sind, interessiert mich nur sehr am Rande. Ich denke mir ganz sicher keine Motivationseinheiten aus, damit sie sich besser das Zeug draufschaffen, das einfach nur als abkopiertes Arbeitsblatt in ihrem Postfach landet. Und mir ist auch egal, wann wer aufsteht.
Momentan sind wir alle sehr damit beschäftigt, irgendwie klarzukommen. Betonung liegt auf irgendwie. Das heisst natürlich nicht, dass Malte nicht Gitarre spielen lernen darf oder so ein Online-Yogakurs auf Youtube nicht eine prima Idee ist, um sich den körperlichen und psychischen Stress dieser Tage von Leib und Seele zu halten. Mich macht nur dieser fröhlich motivierte Beschäftigungsimperativ fertig. Osterbasteln gegen Corona-Langeweile, Marathon laufen auf dem Balkon, aberwitzige Backkreationen (für irgendwas muss ja das ganze gehortete Mehl und die Hefe gut sein) und dergleichen mehr.
Die Corona-Krise fühlt sich gerade so richtig beschissen an.
Ich bin aber noch bei «Corona macht mich ganz schön fertig, die Kinder hassen es, ihre Freunde nicht zu sehen, mir fliegen die Aufträge weg, wollen die eigentlich den ganzen Tag essen, Ferien absagen, was machen die alle hier, ich mag nicht mehr». Mich motiviert Corona gerade zu gar nichts. Durchhalten schaffe ich gerade mal so.
Ich gebe gern zu, dass ich die gezeigte Geschäftigkeit auch irgendwie beeindruckend finde und womöglich ermutigt sie mich ja in den nächsten Tagen und Wochen, selbst aktiv zu werden. Aber jetzt noch nicht. Die Corona-Krise fühlt sich gerade so richtig beschissen an. Und ich werde sie noch eine ganze Weile richtig beschissen finden, bis ich selbst zur Gitarre greife. Vielleicht ist Malte dann so weit, dass er mir per Videocall ein paar Akkorde zeigen kann.
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19 Kommentare zu «Nutzen Sie die Zeit sinnvoll – oder auch nicht»
Gute Sache; und wer ein bisschen grün sein eigen nennt, kann dort auch viel Freude haben: https://www.gbvsissach.ch/willkommen/engagement
Ein schöner Text. Beschissen geht es mir jedoch eigentlich nicht, trotzdem amüsiert mich diese Geschäftigkeit mehr als dass sie mich inspiriert. Offensichtlich sind sehr viele der Ansicht, dass es einem langweilig wird, wenn man nicht ständig in irgendwelchen Onlinekursen steckt oder die Zeit besonders gut nützt. Ein grosser Teil der Bevölkerung arbeitet ja und versucht Fernunterricht da drunter zu bringen. Und wer zu Hause bleiben muss, der darf das auch einmal schlicht geniessen. Was ist eigentlich aus dem guten alten dolce far niente geworden? Wobei ich mich auch etwas ertappt fühle, weil meine Gitarre am Wochenende neue Saiten bekam….
Lieber Nils Pickert
Beschissene Gefühle haben wir alle in dieser schwierigen Zeit und die Krise mit tollen Beschäftigungsmöglichkeiten schönzufärben, gelingt mir persönlich auch nicht.
Dennoch hilft eine zuversichtliche und positiv auch Neues anpackende Haltung Familien sicher besser, die Krise mehr oder weniger unbeschadet zu überstehen, als Hängenzubleiben im Lamento.
Herr Pickert, seien Sie dankbar über Ihre Fähigkeit, die Krise und was sie mit uns macht, zu analysieren und sich das Ganze auf einer breit gelesenen Plattform von der Seele zu schreiben. Die grosse Mehrheit von uns muss ungehört und ohne Publikum kämpfen und hat wahrscheinlich noch ganz andere Sorgen. Packen Sie Ihre Gitarre aus, erfreuen Sie Malte mit Ihren Fortschritten und sprechen Sie Ihrem Publikum Mut zu.
So isses….einfach nur grossartig! DANKE!!!
Haha! Danke, fühle mich grad sehr viel besser 🙂
Frohes Oster-Gebastle allerseits!
Vielen Dank für diesen Text. Ich fühle mich sehr verstanden.
Ja, so isch es. Nur dass bei mir einiges aufgewogen wird durch die Tatsache, dass ich seit zwei Wochen nicht mehr vier Mal die Woche drei Stunden pendle. Das ist Stress anderer Art, aber, wie ich merke, auch Stress. Die drei Stunden habe ich jetzt zwar nicht zum Arbeiten (und Lesen, Dösen, Musik hören), aber dafür für ein Mittagsschläfchen, Velo aufpumpen, Wäsche regelmässig waschen, Französisch abfragen, ordentlich kochen, Dehnübungen nach sechs Stunden Online-Sitzung machen und, tatsächlich: ich habe kürzlich Knöpfe angenäht (ich hoffe, Sie merken, dass ich letzteres mit einem riesigen, altmodischen Ausrufungszeichen schreibe).
Auch von mir ein dickes Danke für den ehrlichen Artikel.
Ich wünsche starke Nerven und gute Gesundheit!
Danke! Für! Diesen! Artikel!
Mein Stress hat definitiv zugenommen. Keine Vormittage mehr, an welchen ich in Ruhe arbeiten kann. Kein Plätzchen ohne Lärm um mich zu konzentrieren. Dafür weil nun alle Zuhause sind noch mehr Unordnung, noch mehr Wäsche (paradox irgendwie), noch mehr kochen. Allen da draußen denen es ähnlich geht: stay strong! Und bliibed xund.
Danke!
Es tut gut zu wissen, nicht alleine zu sein.
Sehr guter Artikel, schreibt mir ebenfalls aus der Seele! Alles Gute!
Hi Nils
Ich kann dir nachfühlen. Kauf dir B-Vitamine, ist gut für starke Nerven. Musste ich auch machen….hat mir geholfen für den Familienalltag ( auch ohne Basteln und Onlinekursen)
Viel Energie und Geduld! C.
Danke für den Artikel! Geht mir genau so! Hatte schon Selbstzweifel…
Ich esse mehr, trinke mehr Alkohol als sonst, bewege mich kaum, ….
Tut gut zu hören, dass es auch anderen so geht!
Danke
Man könnte meinen, jeder zweite Schweizer arbeite im Detailhandel oder in der Gastrobranche…
Ich konnte bis her keine Minute weniger arbeiten… meine Wohnung ist noch genauso unaufgeräumt wie im Januar 2020 A.C. (ante Corona), nur muss ich jetzt den ganzen Tag das Puff anschauen 😉
Geht mir genau so
Meine Worte! Geht mir genau gleich, obwohl ich weder WhatsApp, Facebook, etc. benutze. Der tägliche Blick in die Tageszeitungen genügt mir völlig, all die Artikel zu: Sind Ihre Schränke schon nach Marie Kondo ausgemistet? Spielen Sie wieder Brettspiele! 23 Rezepte für ein wohliges Bauchgefühl in der Corona-Krise, usw. Bei uns sind weder die Fenster geputzt, noch wird das Bettzeugs jeden Tag an die frische Luft gehängt. Mir reicht das Ein- und Ausräumen der GWM, das Essen herbeischaffen und verwerten, den Tag ohne „sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen“, zu überstehen – oh und distance learning inkl. all die Sportübungen, die im Excel festgehalten werden sollen, nicht zu vergessen…
Schwierig, das alles und ja, total beschissen (obwohl auch ich meine Gitarre wieder hervorgeholt habe).
Ah, Sie sprechen mir fast deckungsgleich aus der Seele 😉
irgendwie hab ich das Gefühl, wenn ich mich dann mal so richtig vollumfänglich mit dem Notstand versöhnt habe, es vor allem toll finde und so viele unerwartete postitive Seiten dran entdeckt habe…, dann wird der Normalzustand ausgerufen und ich bleibe leicht enttäuscht zurück… .
Wir werden uns nur noch wundern darüber, wieviele unangenehme Wahrheiten uns auf den Tisch fliegen…, schon nur bez Kindergarten/Schule wo schon jetzt Kinder aus bildungsfernen und/oder nicht deutschsprechenden Familien, welche mit Arbeitsmaterialen/Aufträgen keine Unterstützung haben/nichts anfangen können, und alle Unterstützungsprogramme ja ebenfalls auf Eis liegen, schon jetzt im Rückstand sind.
2/
Und diejenigen, welche unter seelischer bis körperlicher Gewalt zu leiden haben, oder von der eigenen Struktur her/vorhandener Beeinträchtigungen bis körperlicher Behinderungen nun über die Grenzen gefordert/belastet sind, denen ist mit Maskenbasteln oder lustige Bilder ausmalen ebenfalls nicht geholfen- ihren Eltern auch nicht.
Ich habe gelesen, man solle das Wort „Schutz“ in der Bezeichnung nicht verwenden, da das selbsgenähte Produkt nicht geprüft wäre. „Schutz“ wäre nur bei zertifizierten Produkten erlaubt. Also eher Mundmaske oder Gesichtsmaske.