So kommt Ruhe in die Stube

Dein Pausenplatz, mein Büro: Die aktuelle Ausnahmesituation stellt den Familienalltag auf den Kopf. Illustration: Benjamin Hermann
Liebes Mamablog-Team
Seit dem Lockdown herrscht bei uns in der Stube Tohuwabohu. Wie schaffe ich tagsüber Ruhezonen in der vollen Wohnung? Wie mache ich meinen Kindern klar, dass wir alle Pausen brauchen und ich mich ab und zu im Homeoffice auf andere Dinge konzentrieren muss? Pierre
Lieber Pierre
Herzlichen Dank für Ihre Fragen.
Die aktuelle Situation birgt für viele Familien neue Herausforderungen. Die Wohnung ist dauerbevölkert, und wir müssen neue Bedürfnisse miteinander koordinieren. Pausen sind dabei sehr wichtig.
Ein Kind braucht gewisse Fähigkeiten, um Ruhezonen respektieren zu können: Es muss zum Beispiel sich selbst kennen und steuern können, einen Umgang mit den eigenen Gefühlen finden, mit anderen Menschen umgehen können und in der Lage sein, für anstehende Probleme Lösungen zu finden. Diese Fähigkeiten bilden sich während der ganzen Kinder- und Jugendzeit aus. In neuen Situationen müssen die Kinder ihre erworbenen Fähigkeiten anpassen und verfeinern, weil im Miteinander neue Bedürfnisse entstehen können – wie gerade in der aktuellen Situation. Unsere Kinder leisten also eine ganze Menge!
Neue Bedürfnisse müssen miteinander koordiniert werden.
Ich möchte das «Miteinander» besonders hervorheben, denn das Ergebnis hängt nicht nur von den Fähigkeiten des Kindes ab, sondern auch vom gegenseitigen Vertrauen. Die Entwicklungspsychologen Bensel und Haug-Schnabel weisen darauf hin, dass die Verlässlichkeit der Umwelt – letztendlich die Beziehungs- und Bindungserfahrungen – ein wichtiger Faktor für die Entwicklung von Selbstkontrolle sein kann. Ein Beispiel: Ein Elternteil sagt: «Ich brauche nun 20 Minuten Ruhe, und danach machen wir ein Spiel miteinander.» Wenn es dann 45 Minuten werden und kein gemeinsames Spiel folgt, ist es für Kinder schwieriger, beim nächsten Mal die Selbstkontrolle aufrechtzuerhalten. Denn es fehlt das «Wozu».
Die Einführung von Regeln und deren Durchsetzung mittels Autorität ist in gefährlichen Situationen wichtig – zum Beispiel im Strassenverkehr. Für andere Regeln ist es hilfreich, die Kinder einzubeziehen, ihnen Mitspracherecht zu geben.
Bensel und Haug-Schnabel differenzieren hierbei verschiedene Stufen der Beteiligung:
1. Informiert werden: Die Eltern sagen, «was Sache ist».
2. Gehört werden: Die Eltern hören zu, was die Kinder zu sagen haben, bestimmen am Ende aber auch hier, «was Sache ist».
3. Mitbestimmen: Das Kind kann seine Meinung zum Thema sagen und mitdiskutieren.
4. Selbst bestimmen: Das Kind kann etwas in Eigenregie organisieren.
Partizipation bedeutet die Bereitschaft, die Meinung der Kinder ernst zu nehmen und nicht einseitig zu bestimmen. In Ihrem Fall kann das sinnvoll sein: Wenn Sie Ihre Kinder in die Gestaltung von Ruhezonen und Pausen einbeziehen, ermöglichen Sie den Dialog und die innere Beteiligung Ihrer Kinder am Thema. Das dürfte für Ihre Kinder sehr motivierend sein.
Ich möchte Sie daher zu folgenden Handlungen einladen:
- Vergegenwärtigen Sie sich den Entwicklungsstand Ihrer Kinder: Wie weit sind sie in der Lage, ihr Verhalten im Alltag zu regulieren und zu steuern? Fachpersonen sprechen hier von «Exekutiven Funktionen». Dazu finden Sie online viele Informationen (zum Beispiel hier). Sie können Ihnen bei der Einschätzung helfen und wertvolle Anregungen geben.
- Beantworten Sie für sich folgende Frage: Kann sich mein Kind auf das, was ich ansage, verlassen? Müssen Sie allenfalls etwas verändern? Seien Sie hier ganz ehrlich mit sich selbst.
- Sind Sie ein Vorbild darin, auch die Ruhezonen und Pausen Ihrer Kinder zu respektieren? Sprechen Sie mit Ihren Kindern darüber, wie es Ihnen selbst gelingt, Regeln einzuhalten, oder wo Sie selber Herausforderungen haben – Ihre Kinder können davon lernen.
- Überlegen Sie sich, wie Sie Ihre Kinder für die Regelbildung und -durchsetzung einbeziehen können. Auch das ist natürlich altersabhängig.
Es ist mir bewusst, dass es in vielen Momenten einfacher ist, Ruhezonen mit Autorität und vielleicht gar mit Schimpfen einzufordern. Eltern sind keine Übermenschen und sollen auch keine sein. Längerfristig lohnt sich die oben beschriebene Kopfarbeit aber – für Sie und Ihre Kinder.
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie alles Gute.
Daniela
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3 Kommentare zu «So kommt Ruhe in die Stube»
Im Prinzip sehr schöner Kommentar. Aber… „20 Minuten Ruhe“ reichen halt nicht wirklich weit, wenn ich eigentlich ein 8.4-Stundenpensum am Tag erledigen sollte.
Mein Vorschlag: Konzentriertes Arbeiten von 5-7, dann volle Konzentration auf die Kinder, den Haushalt, die Homeschooling-Hausaufgaben. Weitere 1.5 h am Nachmittag und währenddessen die Kinder vor einem Disney-Film parkieren, danach wieder Familie und Kochen. 20 Uhr: Kinder ins Bett und nochmals konzentriertes Arbeiten bis 23 Uhr. Macht in der Summe 6.5 Stunden. Geht aber auch nur, wenn man keine Videokonferenzen hat. Hier hilft dann eben nur wiederholtes Parkieren vor dem Fernseher…
Mache ich sehr ähnlich. Ich muss mir zu Randzeiten Platz zum arbeiten schaffen. Vor allem, weil meine Partnerin mein Homeoffice mit Freizeit gleichsetzt – und entsprechend Ansprüche stellt.
Dass die Kinder das noch nicht verstehen kann ich hingegen begreifen.
Ihre Worte berühren mich! So schön geschrieben und auf den Punkt gebracht-danke! Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wenn Eltern und Kinder einen Weg z.B. über den Familienrat gefunden haben um sich gegenseitig zuzuhören, das Familienleben entspannter wird und die Bedürfnisse aller öfters respektiert werden. Elternbildungskurse können da hilfreich sein um Wissen abzuholen und sich mit anderen Eltern wertschätzend auszutauschen.