«Wir sollten unsere Ansprüche runterschrauben!»
Herr Grolimund, seit einer Woche sind wir Eltern damit konfrontiert, unseren Kindern in Sachen Fernunterricht beiseitezustehen. Was werden in den kommenden Wochen die grössten Herausforderungen sein?
Die Vereinbarkeit mit der eigenen Arbeit und dem Fernunterricht der Kinder. Das spüre ich gerade auch selber bei mir Zuhause: Ständig fragen mich meine zwei Kinder (5 und 7), wie lange ich denn noch am Compi sitzen werde und ob wir denn nicht endlich etwas zusammen spielen können.
Man könnte sich die ganze Sache ja auch romantisch vorstellen: Alle versammeln sich morgens am grossen Esstisch, klappen ihre Laptops und Schulbücher auf und arbeiten gemeinsam in dieser neuen Co-Working-Situation.
Zeitweilen kann das vielleicht sogar gelingen. Jedoch gestaltet sich dieses Vorgehen gerade mit jüngeren Schulkindern eher schwierig. Ich möchte in dieser Anfangsphase aber vor allem eines betonen: Wir sollten jetzt dringend unsere Ansprüche runterschrauben! Sollten uns bewusst machen, dass wir Erwachsenen in dieser speziellen Homeoffice-Situation nie und nimmer so viel hinbekommen werden wie sonst. Und das gleiche gilt natürlich auch für unsere Kinder: Sie werden nicht so gut lernen können wie in der Schule. Für uns alle ist das eine komplett neue Situation, die nicht von Anfang an gelingen kann. Je weniger wir also die Vorstellung haben, dass jetzt alles reibungslos funktioniert, desto weniger frustriert werden wir reagieren. Es wird leichter, wenn wir das Ganze als Experiment betrachten, in dem es mitunter darum gehen wird, füreinander Verständnis aufzubringen.
Selbst im geregelten Alltag können sich Kinder nicht immer so leicht auf ihre Aufgaben konzentrieren. Wie bekommen wir es also hin, dass unsere Schulkinder konzentriert beim Fernunterricht mitmachen?
Eines muss man wissen: Kinder haben eine relativ kurze Konzentrationsspanne. Diese wird oft überschätzt. Die Konzentrationsspanne entspricht in der Regel dem Lebensalter eines Kindes mal zwei gerechnet. Ein Zehnjähriger kann also am Stück rund zwanzig Minuten konzentriert arbeiten. Hinzu kommt, dass das Lernen zu Hause, also das Ausfüllen von Lernblättern, sich ganz anders gestaltet als das Lernen im Unterricht. Denn dieser wird von Lehrpersonen rhythmisiert. Im Unterricht erklärt die Lehrperson abwechslungsweise etwas, worauf das Erlernte in Gruppen besprochen und vielleicht noch in Form eines Arbeitsblattes vertieft wird. Ich rate deshalb dazu, nach der altersentsprechenden Konzentrationsphase immer wieder eine kurze Pause einzulegen. Etwas zu trinken, ein kleines Spiel zu machen, auf dem Trampolin zu hüpfen. Lieber ein paar kurze Lerneinheiten aneinanderreihen, als am Stück zu lernen. Und ja: Die zusammengerechneten Lerneinheiten werden deutlich unter dem täglichen Schulpensum liegen.
Wie steht es um die Motivation? Braucht es Struktur, einen geregelten Tagesablauf, um unsere Kinder zu motivieren?
Ein bisschen Struktur ist immer hilfreich. Ich muss aber nicht zu stur an die Sache herangehen. Bei uns zu Hause brauchen unsere Kinder morgens zum Beispiel erst eine «gemütliche» Anwärmphase. Also etwas Zeit, in der sie noch ein wenig spielen, malen oder vielleicht auch mal fernsehen. Dann, um 9 oder 10 Uhr, fangen wir mit den Aufgabenblättern an. Natürlich gibt es aber auch Kinder, die einen grösseren Bedarf an Struktur haben beziehungsweise einfach wissen wollen, was auf sie zukommt. In solchen Fällen lohnt es sich, morgens kurz gemeinsam hinzusitzen, den Tag durchzugehen und einen kleinen Stundenplan aufzusetzen. Auch die Eltern könnten ihre Stunden im Plan eintragen, damit die Kinder sehen, wann welcher Elternteil im Homeoffice beschäftigt oder Ansprechperson ist.
«Wenn man merkt, dass eine Konfliktsituation entsteht, sollte man das Ganze unterbrechen.»
Also Transparenz schaffen?
Genau. Das würde ich übrigens derzeit auch gegenüber dem Arbeitgeber empfehlen. Wer im Homeoffice tätig ist, sollte unbedingt mitteilen, wann man etwa für Besprechungen verfügbar und wann ein ungünstiger Zeitpunkt ist, weil man sich um die Kinder kümmert.
Wie können wir verhindern, dass unter diesem enormen Druck die Sache komplett aus dem Ruder läuft?
Die Beziehung zu den Eltern ist unbedingt wichtiger einzustufen als das Lösen der Arbeitsblätter. Denn: Eltern sind nach wie vor in erster Linie Eltern und nicht Lehrpersonen. Wenn man sich diese Haltung verinnerlicht – und das ist wirklich spannend zu sehen –, werden die Kinder im Endeffekt mehr schaffen. Wenn man also merkt, dass eine Konfliktsituation entsteht, sollte man das Ganze unterbrechen.
Einfach resignieren?
Nicht resignieren, aber die Übung auf einen späteren Zeitpunkt verlegen. Denn bricht man in einer solchen Stimmung nicht ab, werden die Kinder in der Folge diese negativen Gefühle immer stärker mit Lernen verknüpfen. Dazu ein Beispiel: Wenn man als Paar einen Tanzkurs besucht und der eine Partner immer mault: «Jetzt lass dich mal führen!», oder «Du bist mal wieder nicht im Takt!» – wenn die Stimmung also angespannt ist –, dann wird nach dem ersten Salsa-Kurs wahrscheinlich Schluss sein. Die Beziehung, welche die Kinder zu ihren Eltern während des Lernens haben, ist also ausschlaggebend dafür, ob Widerstände entstehen. Letztlich gilt: Jeder Tag, der ohne Konflikte über die Bühne geht, wird das Lernen am folgenden Tag vereinfachen.
«Gerade diese aussergewöhnliche Situation ist eine gute Gelegenheit, um mit unseren Kindern Selbstständigkeit zu erarbeiten.»
Vielleicht wollen wir Eltern in dieser chaotischen Situation wenigstens zu Hause alles unter Kontrolle haben?
Und genau das ist der Punkt: Die grössten Konflikte entstehen nämlich meist, wenn Eltern zu kontrollierend vorgehen. Wenn sie das Kind beim Lernen dauernd beobachten und Kommentare abgeben wie «Jetzt schreib doch ein bisschen schöner!». Besser geht es meist, wenn das Kind im gleichen Raum sein darf, man dabei aber etwas anderes macht. Kochen zum Beispiel. Oder Bügeln.
Vielleicht würde es ja zusätzlich entspannen, wenn die Kinder ihre Aufgaben im Zimmer erledigen?
Das würde ich dem Kind überlassen. Viele mögen es sehr, am Esstisch zu lernen, wenn sich die Eltern im gleichen Raum aufhalten, aber jeder dennoch macht, was derzeit gerade seine Aufgabe ist.
Wie steht es denn um die Selbstständigkeit? Viele Kinder sind überhaupt nicht in der Lage, selbstständig zu arbeiten.
Das ist komplett normal. Selbstständigkeit muss auch gelernt werden. Aber gerade diese aussergewöhnliche Situation ist eine gute Gelegenheit, um mit unseren Kindern Selbstständigkeit zu erarbeiten. Hilfreich ist etwa, die Aufgaben zuerst kurz gemeinsam zu besprechen. Also: Was steht heute auf dem Plan, was willst du zuerst erledigen, verstehst du, was du machen musst, und wo brauchst du Hilfe? Ist das geklärt, vermeidet man in der Folge, dass das Kind ständig nachfragt und einen bei der Arbeit stört. Ganz wichtig bei der Förderung von Selbstständigkeit ist zudem, den Kindern Wertschätzung für die Selbstständigkeit zu zeigen. Also nicht zu sagen: «Das hast du gut gemacht», sondern «Wow, so viel hast du alleine geschafft» oder «Schön, wie selbstständig du arbeitest – so komme ich auch gut voran mit meinen Sachen». Wenn wir ihnen vermitteln, dass sie es alleine schaffen können und uns froh darüber zeigen, werden sie es auch vermehrt ausprobieren. Es geht also darum, ihre Probierhaltung zu fördern.
Was möchten Sie den Eltern unbedingt noch auf den Weg geben?
Bitte habt den Mut, Lehrpersonen um Hilfe zu bitten. Es kann enorm viel ausmachen, wenn beispielsweise eine Lehrerin sich kurz telefonisch mit dem Kind bespricht oder etwas erklärt.
Wie kommen unsere Kinder aus der «Corona-Sache» raus?
Wenn es gut läuft, ist es eine Chance, dass unsere Kinder jetzt eigene Lernstrategien entwickeln. Also herausfinden, wann, wo und wie sie am besten lernen. Zudem dürfen wir jetzt als Familie zusammenwachsen. Auf jeden Fall ist es eine Zeit, in der wir viel lernen können.

Fabian Grolimund leitet gemeinsam mit Stefanie Rietzler (r.) die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Foto: zvg
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15 Kommentare zu ««Wir sollten unsere Ansprüche runterschrauben!»»
Zur Zeit liest man ja ständig Aufforderungen wie diese. Sofern diese an die Gesellschaft gerichtet sind, ist das ja schön und gut, aber kann der Einzelne diese einfach so umsetzen? Kaum. Wenn der Arbeitgeber das anders sieht, kann der Arbeitnehmer nicht ins Homeoffice gehen und erst recht nicht sagen, dass man dort weniger leistet. Erst recht nicht, wenn der Arbeitgeber aufgrund Umsatzeinbussen mit Kündigungen droht.
Und was will man den Kindern sagen? Tut mir leid, Du kannst Dir deinen Berufswunsch nicht oder nur über Umwege erfüllen, weil weisst Du, ich habe die Anforderungen zurückgeschraubt, während sich die Welt weiterdrehte? Wohl eher nicht.
Für mein Verständnis gehen die Appelle von Fabian Grolimund zu sehr in Richtung Elternhaus. Längst nicht alle von uns haben das Privileg des Home Office. Die Frage nach den Ansprüchen stellt sich somit schon gar nicht. Viele grössere Kinder sind sich selbst überlassen mit dem Fernunterricht. Und nein, wir sind deshalb nicht bildungsfern. Wir halten nur den Karren am Laufen!
Mir und vielen anderen Eltern wäre es ein grosses Anliegen, dass Fachleute wie Herr Grolimund mit ihren Erfahrungen frühzeitig in der Politik Einfluss nehmen könnten. Immerhin müssen wir mit einer grossen Anzahl Schülern rechnen, die nun mehr als die regulären 9 Schuljahre brauchen werden. Wie auch immer man das anpackt, ein Semester mehr, Repetitionen oder was auch immer – es wird einiges kosten und braucht Ideen!
Gerade diese aussergewöhnliche Situation ist eine ideale Gelegenheit, verunsicherten Eltern die Kohle aus der Tasche zu ziehen.
Das ist wohl sehr kurz gegriffen und wird der Situation in keiner Weise gerecht!
Ich habe meiner Ansprüche so weit es gehtr ru7ntergeschraubt, also die an den Mamablog:
Schon wieder ein beitrag für die Kategorie „sponsered content“, mit meinen Recherchen liessen meine Zweifel betreffend Seriosität der hier beworbenen „Akademie für Lerncoaching“ nicht beseitigen, die gibt es nämlich gar nicht, also nicht im Handelsregister als Verein mit kaufmännischen Gewerbe, auch nicht als Genossenschaft oder Einzelfirma oder Kollektivgesellschaft: Gibt’s nicht, es gibt vielleicht den Herrn Grolimund, der wäre dann aber nicht „Leiter“ dieser Akademie, sondern Inhaber einer Einzelfirma, die er ab 100’000 Umsatz (bei mindestens 2 aktiven Personen ist daran nicht zu zweifeln), im Handelsregister eingetragen müsste.
Das empfinde ich als unseriös!
Lieber Anh Toàn, Ich kann Ihnen versichern, dass es Herrn Grolimund mitsamt seinem Coaching Unternehmen gibt. Er hat bei uns an der Schule im Rahmen einer Elternweiterbildung einen Vortrag gehalten und schreibt regelmässig für Fritz und Fränzi. Viele Seiner Inhalte sind gratis und sehr hilfreich. https://www.mit-kindern-lernen.ch/team/125-fabian-grolimund
Ich finde es gerade jetzt sehr gut, dass er uns daran erinnert, unsere Ansprüche herunterzuschrauben. Das tut gut.
Lieber Regina, ich habe nicht bezweifelt, dass es Herrn Grolimund gibt, aber es gibt keine „Akademie für Lerncoaching“, welche er angeblich leitet.
Oder anders: Herr Grolimund ist selber diese „Akademie für Lerncoaching“ allenfalls zusammen mit der Frau Rietzler, als einfache Gesellschaft, also die nennen sich selber einfach so.
Ich leite jetzt auch eine Akademie für Buchhaltungswissenschaften, das tönt viel besser als selbständiger Buchhalter.
Auf Stufe Sek/Gymi will ich keine Prognose wagen; ich vermute mal, es wird einfach „geschenkt“.
Wenn Sie also einen Sekler zuhause haben: Bewerbungen schreiben.
Eine grosse Chance sehe ich aber bei der Lesekompetenz! Wenn Sie kein Zeit für die Kinder haben, sollen sie ein Buch lesen.
Ich kann eigentlich nur einen Tipp geben: Gelassenheit und ja nicht in Aktionismus zu verfallen!
Sind Sie Eltern von Primarschülern? Dann ist es wirklich ok, wenn Ihr Kind das absolute Minimum macht. Und bevor man sich in die Haare kriegt wegen ein paar Aufgaben, lieber gleich bleiben lassen. Denn es wird mit 99% Wahrscheinlichkeit einer der beiden folgenden Fälle eintreten:
1) Schule nimmt am 19.4. (resp. nach den Frühlingsferien) Betrieb wieder auf: Der Stoff, der vergangenen Wochen wird grösstenteils im Unterricht nochmals angeschaut.
2) Schulstopp bis zu den Sommerferien: Das gesamte Semester (nicht das ganze Schuljahr, wie manche schon schreiben) muss wiederholt werden; also wird der gesamt Stoff nochmals wiederholt.
alles quatsch. soviel wie bei mir in der letzten woche haben die kinder im bisherigen schuljahr nicht geübt: mathe, rechtschreibung, lesen, basteln, sport im garten und in der wohnung. statt wasihrwott und lehrplan 21 üben als solide basis, die den kindern zeigt, wozu sie taugen. bleibt gesund!
Schauen Sies von der positiven Seite an. In Zeiten, wo jede*r seine Aufgaben an das Ganze abgeben will, können Sie ganz im Sinne der BV für und anstelle der Schwächsten Ihre Stärke einsetzen für die Kinder.
Dabei erhalten diese auch ein taugliches Vorbild. Das sagt mehr wie die tausend Worte und ist für die Kinder erst noch nachhaltig ( die kommenden schulfreien Zeiten lassen grüssen).
Ich weiss nicht vom wem Ihre Kinder Aufgaben für Mathe, Rechtschreiben, Lesen und Basteln erhalten haben.
Bei uns – sehr gut organisiert – von ihren Lernpersonen, basierend auf dem Lernplan 21, welcher in unserem Kanton gilt.
Schon vor der Covid-19-Pandemie gab es bei uns kein wasihrwott.
Der Lernplan 21 ist nach der Bologna-Reform die grosse Bildungs-Errungenschaft der letzten 50 Jahre. Endlich überwinden wir diese Kantönli-Flickwerk-Gedöns.
„Wir sollten jetzt dringend unsere Ansprüche runterschrauben! Sollten uns bewusst machen, dass wir Erwachsenen in dieser speziellen Homeoffice-Situation nie und nimmer so viel hinbekommen werden wie sonst.“
Man kann die Ansprüche an sich herunterschrauben, oder die an Andere: Warum sollten wir mit Homeoffice nicht so viel hinbekommen, wie sonst? Immerhin sparen wir Arbeitsweg, den Weg kleine Kinder in den Kindergarten zu bringen. Die Manger sitzen nicht mehr tagelang in der Business Class und VIP Lounges: Der Verzicht wird uns bewusst machen, wie sehr der uns nützt, was wir alles gar nicht brauchen, was uns das Leben erschwert, nicht vereinfacht, wie wir glauben.
Danke für den guten und sinnvollen Beitrag.