Ab auf die Bäume, Kinder!

Unser Beschützerinstinkt kann auch kontraproduktiv sein: Es ist letztlich sicherer, den Kindern Freiheiten zu lassen. Fotos: iStock
Als ich ein Kind war, verbrachte ich viel Zeit allein im Wald. Ich weiss nicht, ob ich mich dafür jeweils zu Hause abgemeldet habe. Ich glaube, ich zog einfach los, und glücklicherweise kam es keinem in den Sinn, diese Freiheit mit Worten wie «gefährliche Vernachlässigung» in Verbindung zu bringen, was heute durchaus passieren könnte. Was diese einsamen Waldstunden bei mir bewirkten, würden heutige Psychologen wohl als Stärkung von Selbstvertrauen und Resilienz bezeichnen. Pädagogen sähen darin wohl eine wachsende Autonomie, und Anthroposophen sprächen von einem spirituellen Austausch zwischen Mensch und Natur.
Ich glaube, sie hätten alle recht. Für mich jedenfalls waren die einsamen Stunden im Wald ein Schatz, der mich weit über meine Kindheit hinaus für mein Leben stärkte. Meine eigenen Kinder allerdings waren noch nie allein im Wald. Kein einziges Mal. Mit Erwachsenen, klar. Aber allein und unkontrolliert in die Wildnis loszuziehen, kennen sie so wenig wie die meisten ihrer Altersgenossen.
Minimaler Bewegungsradius
Der Weg dorthin wäre ja auch viel zu weit und zu gefährlich. Der durchschnittliche Bewegungsradius von Kindern hat sich nämlich seit den Sechzigerjahren von mehreren Kilometern pro Tag auf etwa 500 Meter reduziert, und dies, obwohl die Risiken eines Unfalls oder Gewaltverbrechens seit den 70er-Jahren um ein Vielfaches gesunken sind. Doch dem entgegen ist das Bewusstsein für diese Gefahren eben deutlich gestiegen. Die Sache mit dem Wald soll an dieser Stelle aber auf keinen Fall zu einem weiteren Schlechtes-Gewissen-Punkt auf der elterlichen To-do-Liste werden. So war das nicht gemeint! Es gibt zahlreiche andere Möglichkeiten von Freiheit als eine wilde Ansammlung von Bäumen und Käfern. Der Park oder die Quartierstrasse kann es genauso sein. Es geht einzig um das unbeaufsichtigte, programmfreie Sich-Aufhalten an einem Ort, an dem kein Erwachsener das Sagen hat.
Doch leider gibt es nicht mehr viel Brachland, welches Kinder zu ihrer Welt machen können. Zu viel Dichte, zu viel Verkehr, zu viel Absicht. Sind solche Orte also in der Umgebung nicht zu finden, hilft es schon, wenn Eltern einfach einmal mehr wegschauen, wenn die Brut gerade halsbrecherisch den Baum vor dem Haus beklettert. Dafür braucht es von uns den Mut, unseren Kindern etwas zuzutrauen. Was sich lohnt. Denn wenn Kinder Risiken eingehen, tun sie dies meist überlegter, als wir glauben. Vorausgesetzt, sie können sie einschätzen. Aber nicht zu fallen, lernt eben nur, wer auch mal fällt. Wenn wir das zulassen und unseren Beschützerinstinkt zwischendurch in die Schranken weisen, ist das die nachhaltigste Sicherheit, die wir unseren Kindern mit auf den Weg geben können.
Mut zum Kontrollverlust
Unseren Kindern Freiraum zu schenken, ist umso nötiger, da es noch nie eine Zeit gegeben hat, in der Kinder so stark unter
Aufsicht und Kontrolle standen, wie heute. Nicht zuletzt auch darum, weil sie viele Stunden in betreuten Tagesstrukturen verbringen und immer mehr zu Projekten Erwachsener werden – in der Schule sowie zu Hause. So wird auch die Freizeit mehr und mehr von Erwachsenen organisiert und durch wohlmeinende Angebote gefüllt.
Doch gerade weil wenig Raum für freies Spiel bleibt und heutige Kinder in einer Zeit ständiger Bewertung und Optimierung gross werden, brauchen sie Freiräume, wo sie auch mal komplett «daneben» sein können. Wo sie sich streiten, Quatsch machen und sich durch scheinbar sinnloses Spiel selbst erfahren können. Ohne dass sie dabei jemand anleitet und erzieht.
Lassen wir die Kinder also mehr unkontrolliert herumstreunen und auf Bäume klettern. So wird Selbstverantwortung gelernt, und Kinder werden zu Erwachsenen, die nicht nur auf die Fernbedienung anderer reagieren, sondern aus sich selbst
heraus.
Weitere interessante Postings:
22 Kommentare zu «Ab auf die Bäume, Kinder!»
Unkontrolliert im Wald herumstreifen ist gut, aber ja nicht unkontrolliert im Internet surfen!
Diverse Kommentatoren erzählen von schlechten Erfahrungen in ihrer Kindheit. Die gibt es sicherlich auch heute noch. Was es früher aber sicher nicht gab war dieses Einpacken der Kindli in Luftfolie, damit ihnen auch ja gar nichts passiert. Damit sage ich nicht, man soll einfach freien Lauf lassen, aber die Reaktionen wenn ein Kind von oben bis unten mit Lehm verschmiert ist oder es gar wagt, auf einen Baum zu klettern, sind heute einfach komplett übertrieben. Viele Kinder wissen ausser mit dem Tablet zu spielen herzlich wenig von der Welt und ehrlich gesagt finde ich das schade, trotz zwei Schlüsselbeinbrüchen und diversen Schrammen und Narben.
Das Glorifizieren von Risikosituationen für Kinder (und Erwachsene), welche angeblich den Charakter zum Positiven formen sollen, wird in sämtlichen Ländern der germanischen Sprachfamilie praktiziert, weil die Menschen hier schon lange nicht mehr arm sind und viele irgendwie darunter leiden. Wenn man Risiko-suchend ist, dann Bitte sehr, aber lasst mich damit in Ruhe. Ich habe während meiner Kindheit immer unter diesem Druck von aussen gelitten. Ich konnte/kann mich mit normaler Bewegung draussen und einem guten Buch genügend glücklich und sinnerfüllt halten.
Neulich sah ich auf SRF, dass der Waldkult schon von den alten Germanen gepflegt wurde. Heutzutage ist der Wald doch nirgends so öde wie hier. In Italien, Spanien, Osteuropa, am Atlantik oder Pazifik hingegen spektakulär schön.
Als Kind in den 60er-Jahren habe ich keinerlei Druck gespürt und trotzdem extrem gerne „gefährliche“ Spiele gespielt zusammen mit meinen damaligen Freunden – niemand hat mich dazu ermutigt, so was zu tun: weder direkt noch indirekt. Glorifiziert hat man so gut wie nichts. Ich weiss echt nicht, wovon Sie reden
Natürlich komme ich auch ins Schwelgen wenn ich mich an meine Kindheit erinnere… wir hatten im Wald sogar einige Höhlen und einen Bach zum stauen. Aber es gab auch Dinge, um die ich sehr froh bin, dass sie heute anders sind. Und wenn ich an die Erzählungen meiner Grosseltern denke, die um 1900 rum aufgewachsen sind – die hatten so gut wie keine Kindheit und sind auch was geworden. Jede Zeit bildet ihre eigene Gemeinschaft und die entwickelt sich fortlaufend weiter. Die heutigen Kinder werden genauso ihren Weg gehen wie die Kinder all der Jahrhunderte vorher. Womöglich besser – auch ohne Walderfahrung.
Wenn sie wissen wollen wie es ist wenn ihr Kind mit anderen Kindern und einer scharfen Axt in den Wald geht: Am Samstag 14.3. ist Pfadi-Schnuppertag.
Wenn ich auf die Karriere meiner Kinder zurückschaue: Es wäre für die etwas schwieriger gewesen, sich die Freiheit zu nehmen, die ich als Kind hatte. (Dreckig werden in der Mergelgrube. Baustellen erkunden. Bretter den Bach herunterflössen. Und, ja im Wald auf Bäume klettern und Höhlen erkunden.)
Ich hatte aber nie den Eindruck, dass sie je das Bedürfnis dazu hatten. Aktive Ermunterung wurde als unerwünschte Einmischung zurückgewiesen.
Ich finde es zu einfach, immer zu sagen, früher war alles besser. Was soll dieser Vergleich denn letztlich bringen? Manches war früher sicherlich unkomplizierter (wie die Nachmittage im Wald), manches auch nicht. Früher wurden die Kinder auch nicht schon im Kindergarten „vermessen“ und mit Logopädie und Psychomotorik eingedeckt, da wurde vielleicht einfach mal abgewartet. Aber sicherlich hätte es früher Kinder gegeben, die genau davon profitiert hätten, und die auf der Strecke geblieben sind, weil man einfach nicht genau hingeschaut hat. Es gibt immer positive und negative Seiten. Und bei all der Kritik an Helikoptereltern vergisst man nämlich allzu oft, dass es auch das Gegenteil gibt: Eltern, die ihre Kinder bezüglich Aufsicht und Zuwendung schlicht vernachlässigen.
Ich glaube nicht, dass es darum geht, die Vergangenheit zu beschönigen. Es geht eher um die Frage, wieviel die Kinder wirklich ‚betreut‘ sein müssen und wielviel sie selber machen können sollten. Dabei sind die gesellschaftlichen Realitäten heute anderes als früher (erhöhtes Sicherheitsbedürfnis). Auch wenn viele Kinder heute vielleicht nicht mehr alleine im Wald herumstreifen dürfen/wollen/können, gibt es ja auch noch andere Bereiche, wo Kinder selbständig handeln könnten. ZB alleine öV fahren, einkaufen (auch zB für die alte Nachbarin), alleine z’Mittag kochen und essen, alleine ins Kino.. Meine Kinder lieben auch das Herumstrolchen im Wald, aber ich glaube, das ist wirklich nicht für alle gleich. Wichtig sind doch einfach Erfahrungen, die sie selber machen können, ohne Erwachsene.
Das stimme ich Ihnen absolut zu, sonic!
Ich kann mir diese Vergangenheit nicht schönreden. Bei uns hat sie eins von 5 nicht überlebt, und die ganze Familie leidet bis heute darunter. Heute würde man es zu Recht Vernachlässigung nennen. Man fand es auch ok, dass einige Kinder andere auf dem Schulweg abpassten und sie verprügelten, gerne auch grosse Jungs auf kleine Mädchen. Auch den Lehrpersonen widersprach man nicht, egal wie sehr Kinder litten. Nein, diese Zeiten wünsche ich keinem Kind zurück.
Spannend! In unserer Siedlung (in der Stadt) gab und gibt es diverse Spielmöglichkeiten für unsere Kinder – am beliebtesten waren jedoch die von den Eltern uneinsehbaren Ecken, voll von Gestrüpp und wilden Beeren – von den Kindern optimistisch „Wäldli“ genannt. Das war für ihre Entwicklung wohl wichtiger als jedes Freizeitprogramm…
Und dann kam die Pfadi. Auch das: Wichtige Erfahrungen für das ganze Leben, auch wenn wir Eltern dabei oftmals etwas zitterten. Es gibt eine so einfache Alternativen zur Shoppingfreizeit am Wochenende! Auf die Bäume!!
@Brigitte
„Spannend!“ ist Ihre Antwort auf die Schilderung dass Alam ein Geschwister (vermute ich mal) verloren hat? Verloren im Sinn von gestorben weil ungebremst in der freien Natur am spielen oder etwa in der Art.
Irgendwie passt Ihre Antwort/Schilderung so gar nicht zu dieser wichtigen Aussage, denn Alam ist nicht die/der Einzige mit schmerzvollem Verlust weil die Sicherheit/Aufsicht früher zu kurz gekommen sind.
Die Welt ist keineswegs gefährlicher geworden für Kinder, ich selber habe mich in den 60er-Jahren als Kind in Situationen begeben, die mich das Leben hätten kosten können. Glücklicherweise haben mir meine Eltern diese Freiheit zugestanden. Ob sie dabei Angst verspürt haben, weiss ich nicht. Der Unterschied gegenüber früher ist jedenfalls, dass heutige Eltern ängstlicher sind – was sie natürlich abstreiten (die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind einem Unhold zum Opfer fällt, ist statistisch gesehen kaum der Rede wert, und doch verhalten sich moderne Eltern so, als gäbe es davon an jeder Strassenecke).
Ich bin 60 geworden und als Kind habe ich über sehr viel Freiheit verfügt: Die Behauptung, damals sei es weniger gefährlich als heute gewesen, ist aber Quatsch, eine Ausrede, um seine Kinder in ihrer Freiheit einzuschränken …
Wo lesen sie das im Artikel? Die Autorin sagt klar das Gegenteil.
In vielen Kommentaren ist es zu lesen und zum Teil auch im Artikel: Lesen Sie ihn nochmals …
Sie haben so recht ! In den 70ern sind wir als Zehnjährige alleine in den Wald, haben Hörnli gekocht, Hütten gebaut und sogar alleine übernachtet. Es war das Normalste auf der Welt. Heute: Undenkbar. Es gab schon damals komische Typen die rumschlichen. Als Gruppe von Kindern war das aber nie eine Gefahr, noch ist es heute eine im Normalfall. Ein Restrisiko gibt es immer. Das Leben ist nun mal lebensgefährlich.
Für eine professionelle Betreuungsperson ist ein Unfall worst case, den es unbedingt zu vermeiden gilt, weil mit Umtrieben, Vorwürfen und eventuellen rechtlichen Konsequenzen verbunden. Deswegen wird das gesamte Programm so gestaltet, dass den Kindern vor allem nichts zustösst, und sei es nur eine Verstauchung oder ein Wespenstich.
Tatsächlich waren wir früher ganze Nachmittage alleine draussen, mitten in der Stadt Zürich, in einem Revier, das vom Bucheggplatz zum Landesmuseum, von der Limmat zur Weinbergstrasse reichte. Zu Fuss, mit Rollschuhen, mit dem Trotti. Da gab es unzählige Hinterhöfe, Durchgänge, Parks und Spielplätzchen, aber auch alle paar Jahre einen unangenehmen Mann, den man abwehren musste. In den Ferien auf dem Lande viel manchmal selbst das Mittagessen aus.
Eben, wenn ein Unfall im Wald für eine „Betreuungsperson“ der „worst case“ ist, soll die „Betreuungsperson“ eben zuhause bleiben.
Sehr schön geschrieben. Woher kommt eigentlich die Idee, dass die Kinder den ganzen Tag „Betreuung“ brauchen?
Dass damit auch die „Arbeitszeit zu Hause“ der Eltern immer weiter angestiegen ist, kommt noch dazu. Schöner wäre es, die Kinder zu befähigen, nach Schulschluss ein paar Stunden allein verbringen zu können.
Ist bei mir genau gleich. Ich war sehr viel allein im Wald, unsere Kinder nie. Spannenderweise wollten sie das aber auch nie, Wir leben nicht allzu weit von einem Wald entfernt, und wir hätten nie Einwände gehabt, wenn sie losgezogen wären. Mit der Waldspielgruppe oder auf Schulausflügen gingen sie in den Wald, allein oder mit Freunden nie.
Mit anderen Worten: Die Interessen von Kindern und Jugendlichen sind eben anders geworden. Ob das gut oder schlecht ist, wird man erst in einigen Jahrzehnten sagen können. Sie lesen ja auch weniger, als wir damals. Unsere Kinder müssen und sollen sich ihr Leben selber aufbauen. Wir müssen sie weder mit unseren eigenen Interessen noch mit künstlichen antiken Idealvorstellungen gängeln.