Wo aus Wohnen Leben wird

Eine Ahnung von Gemeinschaft: Kinder spielen in der Wohnsiedlung Heiligfeld in Zürich-Albisrieden. Foto: TA-Bildarchiv
«Hoi!», rief eine Frau mir zu, als ich das Küchenfenster schliessen wollte. Sie stand in etwa zehn Meter Entfernung auf dem Trottoir vor dem Haus, in das wir vor wenigen Tagen eingezogen waren. «Gell, ihr seid die aus Zürich?», fragte sie. «Äh, ja», sagte ich, die Stirn voller Fragezeichen. «Weisch», holte sie aus und erzählte, dass sie unsere Vormieter kenne, und die anderen Nachbarn in unserem Haus, und überhaupt das halbe Quartier in dieser kleineren Stadt, wie mir schien.
Aha, dachte ich, murmelte ein paar freundliche Worte und machte das Küchenfenster zu. Wir kannten hier noch niemanden. Was sich offenbar umgekehrt nicht gleich verhielt. Ein Gefühl der Enge befiel mich, eine Vision glühender Buschtelefondrähte und Heimweh nach unserer alten Adresse an einer Zürcher Durchgangsstrasse, wo mich beim Fensterschliessen nie mir unbekannte Passantinnen auf meine, ihnen schon bekannte, Herkunft ansprachen. (Nun ja, wie auch? Im vierten Stock und mit einem Verkehr vor dem Gebäude, der einen schon zum Fensteröffnen nicht ermutigte.)
Das ist nun über zehn Jahre her. Wir wohnen noch immer im selben Quartier, wenn auch nicht mehr in der gleichen Wohnung. Gehe ich heute von aussen an besagtem Küchenfenster vorbei, winke nun ich unserer Nachmieterin munter zu. Und wenn ich Zeit habe, bleibe ich zum Quatschen stehen.
Und dann kam das Baby
Früher, in der Zeit vor Kindern, da fuhr man doch meist morgens direkt von der Wohnung in Quartier A ins Büro in B. Abends traf man vielleicht Freunde in den Gegenden C oder D. Und am Wochenende war man eh unterwegs. In A kannte man daher knapp den Nachbarn auf dem gleichen Stock. Vielleicht noch die Supermarkt-Kassiererin, die einen aber auch beim x-ten Einkauf noch nicht zu erkennen vorgab.
Letzteres fand ich lustig – und gestört hat mich alles nie. Natürlich nicht. Ich suchte ja keinen Quartier-Groove. Ein solcher ist doch eher bünzlig. So hätte ich wohl gedacht – hätte ich es mir denn überhaupt überlegt!
Man wohnte halt irgendwo. Doch dann kam das Baby. Und wir lernten Parkbänke, Brunnen und Schaukeln im Umkreis von zweihundert Metern kennen, deren Existenz uns bisher völlig verborgen geblieben war. In der unweit entfernten Krabbelgruppe entstanden Freundschaften zu anderen Eltern, die nur ums Eck wohnten. Die Kinderarztpraxis zwei Strassen weiter wurde zum zentralen Bezugspunkt.
Und auch im eigenen Haus kannten wir bald die ganze Mieterschaft. Weil man sich halt öfters mal im Treppenhaus sah – und weil sich dann alle freuten: die Leute sich über das Baby. Und das Baby sich bald ebenso über die Leute.
Ja, der Radius mit Kind wurde kleiner. Doch innen drin taten sich neue Welten auf. Und selbst an unserer Durchgangsstrasse stellte sich bald eine Ahnung von Gemeinschaft ein. (Gar die Kassiererin, so glaubte ich, schaute nun eine Spur freundlicher.)
Nachbarn sind plötzlich Bekannte
Diese Ahnung, die fand ich schon damals schön. Als daraus beim Umzug in unser heutiges Familienquartier von fast null auf hundert eine spürbare Gewissheit wurde, war das aber doch ein Sprung ins Eiswasser. Für mich. Nicht für unser Baby, das jetzt ein Kleinkind geworden war und sofort freudig eintauchte ins Quartierleben.
Lange bevor wir hier selbst neue Leute kennen gelernt hatten, rief es Gleichaltrige auf der Strasse lachend beim Namen, weil es sie von Kita, Spielplatz oder Quartierfasnacht kannte. Es waren solcherlei Szenen enthusiastisch ausgetauschter «Hois» und «Hallos», bei denen mir jeweils warm wurde. Weil sie zeigten: Das Kind will dazugehören, gehört dazu – und freut sich darüber.

Mit Kindern wird der Radius kleiner, und doch tun sich neue Welten auf: Familie am Zürichsee. Foto: Alessandro Della Bella (Keystone)
So scheinen mir Kinder wahre Meister des Quartierlebens zu sein, ob an Durchgangsstrassen oder in Familienquartieren – auch wenn sie in Letzteren vielleicht aus dem Volleren schöpfen –, und immer, ohne es auf potenzielle Bünzligkeit zu überprüfen. Und dank unseren Kindern bin unterdessen auch ich nicht nur mit allen Abflussdeckeln, Astlöchern und Katzen in der Gegend per Du, sondern, nun meinerseits, mit gefühlt der Hälfte der Menschen, die hier wohnen. So treffe auch ich jetzt, wie unser Kleinkind schon damals, hier, da und dort erfreut auf Bekannte, inzwischen zudem auf Freunde, und bleibe immer mal wieder gerne, ja, vor einem Küchenfenster stehen.
Der Radius wurde kleiner. Aus Weite wurden Dichte und ein Gefühl von Zugehörigkeit, das ich nicht mehr nur für unsere Kinder, sondern – durch sie – ebenso für mich schätzen gelernt habe. Es ist das wohlige Gefühl, nicht nur vor Ort zu wohnen, sondern hier auch zu leben.
21 Kommentare zu «Wo aus Wohnen Leben wird»
Das ging mir ähnlich, mit dem Schätzenlernen der Quartiergemeinschaft, als die Kinder klein waren. Bis unser eines Kind der Kleinkindphase entwuchs und sich langsam offenbarte, dass es „anders“ ist. Nämlich autistisch. Wir zogen dann um in ein eigenes Haus mit mehr Platz, mehr Ruhe, mehr Rückzugsmöglichkeiten, mehr Privatsphäre und mehr Platz. Und ich bin dafür sehr dankbar, möchte nicht mehr zurück. Dazugehören funktioniert wunderbar, wenn man so ziemlich normal ist. Sonst funktioniert es nur, wenn man andere Aussenseiter findet oder das seltene Glück hat, ernsthaft toleranten Mitmenschen zu begegnen.
Es kommt schon sehr darauf an, in welches „Familienquartier“ man zieht (oder ziehen muss). In einem Quartier von Eltern, die an der PH oder Uni waren, für eine Zeitung schreiben, „öppis im soziale Bereich“ machen, ihren exklusiven Hobbys frönen (man hat sich reich geerbt – so geht das heute!): Ja, da lebt es sich gut. Natürlich finden sich in jenen selbstverwalteten Genossenschaftsquartieren – rein zufällig – höchstens Ausländerfamilien aus gutem Haus („weisch, er isch us Eritrea, aber usere desertierte Diplomatefamilie“).
Was jedoch ist mit „Familienquartieren“, wo Kinder mit Migrationsvordergrund ungehindert andere Kinder zusammenschlagen, mit 10 dealen, mit 12 zustechen? Weil deren Väter mit IV zu Hause TV gucken, die Mütter im Aldi an der Kasse arbeiten?
Was mich viel mehr interessieren würde: Wie findet man ein gutes „Familienquartier“? Wer in der Umgebung wohnt, findet man ja meist erst heraus, wenn man bereits dort wohnt.
Es gibt da ein altes Sprichwort: Wie man in den Wald ruft, so tönt es zurück.
Und gut schauen: In Famlienquartieren hat es Spielsachen draussen, Umschwung mit Spielgelegenheiten und autofreie Strassen.
Und Einfamlienhausquartiere sind eigentlich nie gute Familienquartiere. Irgendwo nervt sich da immer ein Frustrierter über die Kinder
@ Andreas: Das hat es alles auch in unserem Einfamilienhaus-Quartier. Alles ist recht entspannt. Frustrierte habe ich vorallem in Mehrfamilienhäusern kennengelernt.
…einen Mittwoch-Nachmittag lang auf den Spielplatz sitzen und zuschauen was sich tut.
Nicht überall wo ein Spielplatz ist, will man sein Kind auch spielen sehen. Wenn es laut, lärmig, fröhlich und friedlich ist: Sofort hinziehen!
Menschen ticken wohl verschieden. Wir sind auch hinzugezogen, das vor inzwischen 10 Jahren. Meine Kinder sind da zu Hause, haben Freunde, gehen in die Schule etc. und auch wir kennen einige Menschen, haben Bekannte und es würde sich immer jemand finden zum Pflanzen giessen. Aber warum Menschen meine Freunde werden sollen, nur weil sie in der Nähe wohnen oder gleichalterige Kinder haben, erschliesst sich mir (als Stadtkind) nachwievor nicht. Ich habe Freunde, sehr gute sogar, diese teilen meine Interessen und teilweise verbindet uns eine lange Geschichte. Diese ändere ich doch nicht wegen eines Umzugs. Und damit treffe ich mich an den Wochenenden oder auch mal abends halt nicht im Quartier, sondern in der Stadt X 20 km entfernt. Wohnorte kommen und gehen, Freunde bleiben.
@13: Das ist eben der Unterschied, ob man an einem Ort nur wohnt, oder lebt.
Meistens sind ja auch die alten Freundschaften zufällig entstanden, weil man gerade in der gleichen Kindergartenklasse war, etc. Dann neue, zusätzliche (?) Freunde im Gymnasium, im Studium, usw. Einige bleiben hängen, andere nicht.
Menschen werden nicht Freunde, weil sie in der Nähe wohnen. Aber es ist vermutlich möglich, im nahen Umfeld Freunde zu finden, wenn man dafür offen ist. Und dass sie gerade gleichaltrige Kinder haben, und allenfalls auch sonst noch in ähnlicher Situation leben, hilft und ist angenehm.
@ Sp
Natürlich traf man alle Freunde irgendwann zufällig, es ist aber kein Zufall, wer hängen blieb und wer nicht. Und ja, neue Freunde finden ist möglich. Es ist jedoch wie immer so, dass Ressourcen nicht unbegrenzt sind. Zumindest ich habe keine Zeit 5x pro Woche mit andere ein Café oder meinetwegen ein Bier zu trinken. 2x liegt drin und da wählt man mit wem. Freundschaften muss man pflegen, alte wie neue. Und neue zu suchen, pflegen, heisst allzu oft alte zu vernachlässigen. Nur wozu? Freundschaften sind nicht immer für die Ewigkeit. Manche bleiben, manche gehen verloren, das ist auch gut, denn das Leben verändert sich. Ein Wohnortwechsel würde jedoch für mich als Grund nicht ausreichen.
@13: Eben, Zeit ist knapp. Also ist es sehr sinnvoll, Freunde da zu haben, wo man lebt, und möglichst gut mit den Leuten befreundet zu sein, mit denen man, z.B. wegen der Kinder, sowieso Zeit verbringt oder sinnvollerweise verbringen könnte.
Nicht Freundschaft, aber gute Nachbarschaft, wo man sich auch mal ein Ei ausleihen kann, anstatt anonym wie in der Stadt, wo man erst nach 6 Monaten merkt, dass der Nachbar in der Wohnung nebenan am verrotten ist.
@ TvS
Ich glaube nicht, dass das unbedingt ein Stadt-Land-Ding ist. In der Stadt lebt man noch enger zusammen, was einen noch näher zueinander zwingt. Offenheit, die es für gute Nachbarschaft ist eine Charaktersache und nicht vom Wohnort abhängig.
Es ist wirklich toll das Leben in solchen Gemeinschaften: Beisammen, miteinander, solidarisch. Wenn man einige wenige Regeln aufstellt und konsequent durchsetzt, geht es problemlos. Wir in unserer Siedlung z.B. haben die Nachbarn darauf angesprochen, als sie mit dem Auto in die Ferien fuhren, und haben andere Nachbarn ermutigt, das auch zu kritisieren. Auch ist dank diesen wachenden Blicken des Kollektivs schon lange nicht mehr vorgekommen, dass sich jemand erfrecht hätte, auf dem Grillplatz Fleisch zu braten. Jetzt sind sich alle einige, dass Zucchini und Peperoni sowieso viel feiner sind. Selbstverständlich gingen bei uns auch Aktivisten von Tür zu Tür und haben alle höflich, aber bestimmt dazu aufgefordert, am Klimastreik teilzunehmen.
Komisch, aber beim Lesen dieses Kommentars kommen mir wechselweise Satire oder die chinesische Kulturrevolution in den Sinn.
Sie machen mir Angst…
Der Klimawandel sollte ihnen Angst machen! Sowie, dass in Afrika, von uns weissen Europäern ausgebeutet, immer noch hunderte Millionen Menschen leben, anstatt wir diese hier bei uns aufnehmen und ihnen ein würdiges Leben finanzieren! Das wäre nämlich das mindeste, was wir schuldig sind.
Ihr Kommentar zeigt, dass Sie sich von Leuten bedroht fühlen, welche etwas für die Umwelt tun, aber mit dem heutigen Beitrag hat Ihre Schreibe nichts zu tun.
Entweder haben Sie keine Kinder, oder es interessiert Sie schlicht nicht, in was für einer Welt diese in Zukunft leben.
Frau Schaefer
Und Sie wollen hundert Millionen Menschen in der Schweiz aufnehmen? Wo? Bei Ihnen zuhause? Wovon sollen diese Menschen leben? Was sollen diese arbeiten?
Der einzige Weg diesen Menschen ihre Würde zu geben ist, dafür zu sorgen, dass diese in ihren Ländern Arbeit haben, für welche sie fair entlöhnt werden und Einhaltung von Menschen und Arbeitsrechten.
Der erste Schritt wäre dann die Konzerninitiative.
Und Frau Schaefer, wenn das das Mindeste ist, wie stellen sie sich denn die Maximalvariante vor?
Ein schöner Artikel, was Kinder unter anderem alles bewirken. Kann es gut nachvollziehen, zwar nicht mit der Wohnsitation, dafür bezüglich meines sozialen Verhaltens. Und für einmal schön zu lesen, dass man sich über die Gespräche und Kontakte mit anderen Menschen freut und nicht schon wieder einen überinterpretativen Motzartikel aufgrund einer einzelnen Äusserung.
Sie müssten sich mal mit Daniel Gerhardt austauschen. Dann könnte er vielleicht etwas entspannen.