Kinder sollten lügen dürfen

Ein Rehabilitierungsversuch für ein zu Unrecht verpöntes Verhalten.

Astrid Lindgrens Figur Lotta aus der Krachmacherstrasse, hier in der Verfilmung von 1992, verkörpert die eher harmlose Angeberlüge. Foto: PD

Lügen geniessen nicht gerade den besten Ruf. Obwohl Erwachsene durchschnittlich 25-mal am Tag lügen, wie die NZZ schreibt, und sie ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Sozialkompetenz sind, gilt das Lügen als verwerfliche und vermeidbare Charakterschwäche.

Insbesondere bei Kindern wird sehr darauf geachtet, dass sie möglichst bei der Wahrheit bleiben und den Unwert von Lügen vermittelt bekommen. «Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dann die Wahrheit spricht.» Ausserdem kommt einem niemand mehr zu Hilfe, wenn man zum fünften Mal «Feuer!» oder «ein Wolf!» schreit und es nicht stimmt.

Tatsächlich glauben wir Menschen, die uns belügen, immer wieder. Wie gesagt: 25-mal am Tag. Es ist vielmehr die Enttäuschung, die uns dazu veranlasst, unser Vertrauen in andere Menschen von diesen abzuziehen. Und damit auch das Vertrauen in den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen. Ich halte das Lügen für wichtig und für unterschätzt.

Das hat schon seinen Sinn

Deshalb möchte ich an dieser Stelle einen Rehabilitierungsversuch wagen. Sicher, niemand wird gern angelogen – auch ich nicht. Schon gar nicht von Menschen, die man liebt. Aber nach 14 Jahren als Vater und mit vier Kindern unter einem Dach stelle ich immer wieder fest, dass all die Lügen und Flunkereien schon ihren Sinn haben.

Sie sind vielleicht nicht besonders nett oder hübsch anzuschauen, und manche tun auch richtig weh. Aber die Gründe für Lügen sind deutlich komplexer und tiefer in uns verankert, als sich mit einem einfachen «Lügen ist falsch!» ausdrücken lässt.

  • Da wäre zum Beispiel die Angeberlüge, die so wunderbar von der berühmte Lotta aus der Krachmacherstrasse verkörpert wird – mit all den Dingen, die sie «im Geheimen» genauso macht und besitzt wie ihre beiden Geschwister Jonas und Mia-Maria im realen Leben.
  • Die Vermeidungslüge, mit der Kinder erzählen, dass sie irgendetwas nicht gewesen sind, um dafür nicht die Verantwortung übernehmen zu müssen: Der Becher ist von allein heruntergefallen, die Wand über dem Bett wurde von der imaginären Freundin vollgekritzelt, und wenn irgendjemand gehauen wurde, dann nur weil (hier bitte ein entsprechendes Ärgernis einfügen).
  • Die Höflichkeitslüge, die Kinder zumeist lange Zeit nicht beherrschen und dadurch immer wieder Situationen schaffen, für die das Sprichwort «Kindermund tut Wahrheit kund» geschaffen wurde: «Du hast doch gesagt, Omas Geschenk ist ganz furchtbar, Mama.» Oder: «Passt du als dicker Mann in so ein kleines Auto?»

Die Höflichkeitslüge wird also in den ersten Jahren weniger benutzt als in ihrer Existenz und Verkörperung durch Erwachsene blossgestellt. Bis sie anfangen, selbst aus Höflichkeit zu lügen, weil sie als Übernachtungsgast nicht am Abendessen mäkeln oder als Geburtstagskind gute Miene zum für sie eher miesen Geschenk machen wollen.

Lügen für Fortgeschrittene

Mit zunehmendem Alter entwickeln sie allerdings auch noch andere, komplexere Motivationen für ihre Lügen. Da ist zum Beispiel die Notlüge, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn die Gefahr besteht, dass die Wahrheit dem Kind schaden würde. Während die Höflichkeitslüge vor allem die Gesichtswahrung des anderen im Blick hat, kümmert man sich mit der Notlüge um sich selbst. Sie setzt voraus, dass ein Kind sich wegen einer gefühlten oder tatsächlichen Sanktionierungsmassnahme sorgt. Darum, was die Eltern von ihm denken könnten, wie sie in naher Zukunft mit ihm umgehen oder es gar strafen werden.

Im Bereich der Notlüge ist es wichtig, Kindern zu vermitteln, dass das, was sie auf dem Kerbholz haben, sie bei einer möglichen Offenbarung nicht unmittelbar und existenziell bedroht. Viel wichtiger als die angebliche Unerhörtheit der Notlüge ist die oft zugrunde liegende tatsächliche Unerhörtheit der Not. Wenn Kinder schulische Misserfolge verheimlichen oder die Zerstörung eines Gegenstands verleugnen, dann ist ihre Motivation oftmals nicht in der kindlichen Unfähigkeit begründet, Verantwortung zu übernehmen, sondern schlicht und ergreifend durch Angst. Und dieser Angst sollte man mit Grossherzigkeit und Liebe begegnen.

Jetzt wirds interessant

Der für mich momentan interessantesten Art der Lüge bedienen sich vor allem Teenager. Die Verschleierungslüge wird zwar auch eingesetzt, um Fehlverhalten zu verdecken und den Eltern nicht gerade auf die Nase zu binden, dass man sich mit den Freunden schon mal Alkohol organisiert oder die Nachbarn mit Klingelstreichen in den Wahnsinn getrieben hat. Sie ist aber vor allem dazu gedacht, die sich immer weiter ausbildende Privatsphäre vor den neugierigen Blicken und dem Zugriff der Eltern zu schützen.

Wen man neulich geküsst hat, obwohl man womöglich für jemand anderen schwärmt, bei welchen Leuten man sich heute Abend aufhält und was genau da passieren wird – im Grunde geht Eltern das alles gar nichts an. In der berechtigten Sorge um die Sicherheit unserer Kinder dringen wir aber ein ums andere Mal deutlich zu weit in den persönlichen Bereich des pubertierenden Nachwuchses ein, in dem wir nichts zu suchen haben, wenn man uns nicht einlädt. Auch wenn uns das schwerfällt.

Rufschädigende Lügen

Noch schwerer ist allerdings der Umgang mit dem ganzen Bereich dessen, was ich die dunklen Lügen nenne. Das sind Verdrehungen der Wahrheit, die eingesetzt werden, um sich selbst in den Vorteil zu setzen oder andere bewusst zu verletzen und ihnen zu schaden: Gier, Gehässigkeit, Häme, Boshaftigkeit, Schadenfreude. Lauter Eigenschaften, die wir weder in uns noch in anderen sehen wollen.

Sie sind der eigentliche Grund, warum Lügen einen miesen Ruf haben. Ich plädiere dafür, unseren Kindern zu vermitteln, dass und warum das schlechte Eigenschaften sind, und ihnen darüber hinaus so weit wie möglich zu vertrauen – auch in ihren Lügen.

31 Kommentare zu «Kinder sollten lügen dürfen»

  • Hans Minder sagt:

    Lügen als „salonfähig“ zu erklären ist sehr gefährlich, besonders für Jugendliche, die oft unreife Entscheidungen treffen. Z.B. ist eine Bekannte meiner Frau seit 2 Jahren im Gefängnis, weil sie unter Alkohol einen Autounfall verursachte, der für ihre Insassen tödlich ausging. Diese Teenagerin fuhr nicht zum ersten Mal in angetrunkenem Zustand, allerdings bestätigte sie zu Hause immer: „Wenn ich fahre, dann trinke ich nicht!“ Irgendwann ging es schief und dies mit dem Auto der Eltern.
    Auch bewusst Unwahrheiten zu verbreiten ist falsch, weil diese Art von Manipulation immer jemanden im Umfeld Schaden zufügt.
    Allerdings darf man die Wahrheit verschweigen, wenn sie allen Beteiligten nichts bringt, wie: „Dein Kleid steht dir wirklich schlecht..“ oder „dein Geschenk gefällt mir nicht“

  • Mira sagt:

    Oh wie schlimm das immer war, wenn unsere Mutter uns beim Lügen erwischt hat! Bis heute habe ich Mühe zu lügen, und es ist ein Chrampf. Die meisten wollen die ungeschminkte Wahrheit gar nicht hören! Schön verpackt erzielt man die besseren Ergebnisse. Ich musste das Lügen später lernen und meine Kinder schelte ich ganz sicher nie bei einer erwischten Lüge. Wie der Autor geschrieben hat, lügen die Kinder meist als Selbstschutz. Gerade wenn etwas kaputt geht, erkläre ich ihnen, dass so etwas passieren kann und man sich nicht dafür schämen muss. Man muss sich nur schämen, wenn man sich nicht bemüht, den Schaden bestmöglich zu beheben. Und ich erkläre ihnen, warum wir das Grosi anlügen, wenn es um ihre Kochkünste geht. Lügen gehört zu unserem Leben, töricht die Kinder es nicht zu lehren.

    • Tamar von Siebenthal sagt:

      Da stimme ich Ihnen zu, aber die Wahrheit durfte man als Kind ja auch nicht sagen, denn dann war man frech und wurde ebenfalls bestraft.

  • Hermann sagt:

    Ich habe meinen zwei Kinder folgendes beigebracht und sie haben das gut kapiert: Eine Lüge ist nicht primär ein moralisches Unding sondern etwas, das zwei ganz andere Aspekte hat: Erstens darf eine Lüge nicht dumm sein, sonst steht man dumm da und zeigt tiefen IQ. Und zweitens ist das Problem beim Belogen werden das, dass der Lügner einen für dumm genug hält, dass man auf seien Lüge herein fällt, was eine Beleidigung ist. Oben werden die verschiedenen Formen von Lügen beschrieben, aber die wichtigste fehlt: die Zwecklüge. Die Nummer eins bei Erwachsenen. Meine Kinder werden also gut auf unsere Erwachsenenwelt vorbereitet, Bestimmt besser als wenn man naiv Lügen verbietet.

  • Lori Ott sagt:

    Ja, Kinder sollen lügen dürfen, denn nur so haben sie eine Chance später Staatspräsident zu werden…

  • Christina sagt:

    Schade. Ich empfinde die Ehrlichkeit in unserer Familie als das Fundament unserer Beziehung. Darauf lässt sich bauen. Es enttäuscht mich immer sehr, wenn ich unsere Kinder beim Lügen erwische, denn ich erwarte – oder erhoffe – dass wir unseren Kindern klar gemacht haben, dass wir sie lieb haben, auch, wenn es mal nicht so läuft. Jede Lüge ist schlimmer als das was sie gemacht haben.

  • Karim sagt:

    Entgegen landläufiger Auffassung traumatisert, wer lügt, das eigene Seelchen und dasjenige anderer. Je nach Lügentype stärker oder schwächer. Lügner und Lügnerinnen überschätzen generell die Macht der Lüge. Situative Täuschungen gelingen in vielen Fällen wohl, jedoch bleibt bei den allermeisten Belogenen ein schaler Nachgeschmack zurück. Der Autor vermixt analytisch wenig erhellend mehrere Themen. Zu unterscheiden ist zwischen der pädgogisch vorausschauenden Reaktion auf die Lüge und der entpersönlichenden Lüge selbst. Von der Lüge zu unterscheiden ist ferner die Zurückhaltung von Informationen aus Gründen des Selbstschutzes.

  • Brunhild Steiner sagt:

    „bei welchen Leuten man sich heute Abend aufhält und was genau da passieren wird – im Grunde geht Eltern das alles gar nichts an.“

    Nicht einverstanden.

    Und ich vermute bei einem grösseren Teil der Jugendlichen die auf diesem Gebiet, resp durch diese Gebiet „abgerutscht“ sind, sind die Eltern aus allen Wolken gefallen als die diversen „Wahrheiten“ ans Licht kamen.
    Und Einiges davon liess sich nicht mehr so einfach wie ein Ruder rumreissen.

    Solange meine Fürsorgepflicht besteht geht mich das sehr wohl etwas an. Die Frage ist eher wie funktioniert der generelle Austausch innerhalb der Familie, was weiss man voneinander, und auf welche „Infobasics“ hat man sich verständigt. Gut wenn das von Beginn weg natürlich aufgebaut wird und wächst.

  • 13 sagt:

    25 Mal wird wohl eher wenig sein, wenn man wirklich alle kleinesten Flunkereien einbezieht. V.a. Kindern gegenüber sind viele Erwachsene überhaupt nicht der Wahrheit verpflichtet, sondern wollen in erster Linie ihr Gesicht wahren. Aber ansonsten hat der Text sehr viele richtige Aspekte. Bereits die beiden Erwartungen an die Kindern gleichzeitig höflich und ehrlich zu sein, ist schwer zu verstehen. Und dazu kommt, dass die Kindheit halt auch die Zeit des Ausprobierens ist: Komme ich damit durch? Glaubt mir Mami/Papi? etc. Herauszufinden was geht, vielleicht sogar erwünscht ist und wo die Grenze ist, gehört schlicht dazu. Das darf auch jederzeit Platz haben. Und damit wird kein Kind zum notorischen Lügner. Nicht mehr und nicht weniger als wir Erwachsene.

  • marianne pomeroy sagt:

    Ich habe schon sehr früh meiner Tochter dargelegt dass es verschieden Arten von Lügen gibt. Es gibt diejenigen welche jemanden verletzen können, und jene (Flunkern) wo man eben versucht eine Person nicht zu verletzen.

    • Reincarnation of XY sagt:

      Wir sollten lernen, andere nicht zu verletzen, richtig. Aber vielmehr müssen wir auch den Mut haben, anderen die Wahrheit zu sagen, selbst wenn sie schmerzt, selbst wenn es für uns unangenehm wird.
      Unzählige Menschen zerstören ihr Leben, weil ihr gesamtes Umfeld sie stets schonen will. Und in Wahrheit sind wir einfach zu feige und wollen uns selbst schonen.
      Natürlich, Menschen, welche die Wahrheit partout nicht hören wollen, müssen wir sie nicht auf die Nase binden, aber dann ist es besser zu schweigen, anstatt „verständnisvoll“ ihre Lügen zu bestärken.

      • Maike sagt:

        Wow – das hier in der Schweiz zu lesen – anderen die Wahrheit sagen, auch wenn es schmerzt.
        Da schafft es die Schweiz eher in die EU als das ein Schweizer jemanden – ohne Rücksicht auf Verluste – die Wahrheit über unangenehme Dinge sagt.

      • Peter S. Grat sagt:

        Jemanden „ohne Rücksicht auf Verluste“ die Wahrheit zu sagen finde ich nicht unbedingt positiv oder gar eine Stärke – solches Verhalten lässt mich eher an frontale Enthemmung denken.

  • Lina Peeterbach sagt:

    Vergessen geht in diesem interessanten Plädoyer, dass bei kleinen Kindern die Fähigkeit zur Lüge ein wichtiger intellektueller Entwicklungsschritt ist. Über die allerersten Lügen sollte man sich also erst einmal freuen, bevor man in die Komplexität des Themas eintaucht und in akzeptable und inakzeptable Lügen zu unterscheiden beginnt.
    Ich finde Herr Pickert nähert sich dem Thema auf interessante Weise. Lügen sind Teil unserer Realität, sie dienen auch als Schutz und sozialer Kitt. Daher finde ich es vernünftig, dem komplexen Thema mit einer vernünftigen Reflexion anstatt einer reflexartigen Ablehnung zu begegnen. Wer um Glashaus sitzt, sollte ohnehin nicht mit Steinen werfen. Und in diesem Glashaus sitzen wir nun tatsächlich alle, ohne Ausnahme!

  • Reincarnation of XY sagt:

    Einerseits ist es richtig, von Kindern nicht höhere Standards zu erwarten, als man selbst hat. Es ist auch richtig ihnen eine gewisse Autonomie zuzugestehen und somit auch die Freiheit zu lügen/flunkern.
    Andererseits finde ich es falsch, wenn wir die verlogene Gesellschaft gemeinhin als Vorbild darstellen (25mal täglich….).
    Unsere Welt leidet unter der Verlogenheit der Menschen. Unter Betrügern, unter Wegschauern (auch eine Form von Lüge akzeptieren), und und und….
    Der einzelne leidet oft selbst unter seinen Lügen, seiner Unfähigkeit sich mit der Realität/Wahrheit zu konfrontieren.

    Wir sollten versuchen bessere Lebensmodelle zu finden/vermitteln als die althergebrachten.

    • tststs sagt:

      Total bei Ihnen! Auch ML hat recht, man sollte zwischen Unwahrheiten und Lügen unterscheiden; wenn dann aber klar ist, dass es sich um eine Lüge handelt, dann sollte man IMHO nach folgendem Grundsatz handeln (und dies auch seinen Kindern beibringen):
      Die Wahrheit kommt immer ans Tageslicht, IMMER (ist zumindest meine Erfahrung)! Dementsprechend gilt es abzuwägen, was schlimmer ist: die zu verleugnende Tat oder später als Lügner entlarvt zu werden.

    • Martin Frey sagt:

      Dem möchte ich mich anschliessen RoXy.
      Ich glaube, dieser Versuch der Reinwaschung von Lügen bleibt auch etwas akademisch. Denn wie kann man dem Nachwuchs vermitteln, dass gewisse Lügen ok sind (sprich „meine“), und gewisse Lügen zu den schlechten, hier „dunkel“ genannt, gehören?
      Wir leben in einer Welt, wo Staatsoberhäupter dem eigenen Volk jeden Tag in die Tasche lügen, und breite Kreise nichts dabei finden. Wir leben in einer Zeit, in der Werte, Anstand und Prinzipien bestenfalls belächelt, und immer mehr erodiert werden.
      Klar, es ist primär auch unsere Aufgabe, unsere Kinder auf die Welt „da draussen“ vorzubereiten, wo Tricksen und Durchmauscheln ein Stück weit dazu gehören. Wir sollten dabei aber nicht vergessen zu werten, und klar zu vermitteln was wo geht und was nicht.

    • Muttis Liebling sagt:

      ‚Der einzelne leidet oft selbst unter seinen Lügen, seiner Unfähigkeit sich mit der Realität/Wahrheit zu konfrontieren.‘

      Die extreme Form der Lüge, welche Sie beschreiben, dürfte sehr selten sein. Das Gros aller sind solche, die weder der Sprecher, noch der Hörer in Echtzeit bemerkt.

      Der Standard sind Floskeln, wie ‚Es geht mir gut‘, ‚Ich lese nur seriöse Zeitungen‘, ‚Meine Frau ist glücklich mit mir‘. Von 100 Sätzen, die ein Mensch von sich gibt, erlauben 90 keine Wahrheitswertzuweisung.

      • Reincarnation of XY sagt:

        Stimme euch allen zu.
        ML – wir leiden nicht nur unter „extremen Formen“ der Lüge, sondern eben auch unter dem Lügenmantel unter dem die ganze Gesellschaft lebt. Wie z.B. „meine Frau ist glücklich mit mir“. Wir glauben es selbst, obwohl es nicht stimmt und über Jahre leben wir in Lügen, die uns und andere Unglücklich machen.
        Anstatt auf das „alle machen das ja ständig“ zu verweisen, wie das P. tut, sollten wir vielmehr eine Kultur der Wahrheit und Offenheit entwickeln, wenigstens in der Familie.
        Gleichzeitig den Kindern vermitteln, dass es in der Gesellschaft Taktgefühl braucht. Taktgefühl einfach lapidar mit Lügen gleichzustellen, ist m.E. völlig unreif, gelinde gesagt.

      • tststs sagt:

        Gerade diese Standardfloskeln zähle ich zu den „Halb- und Unwahrheiten“ zuordnen; es ist nicht wirklich gelogen, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Dementsprechend gäbe es schon eine Wahrheitswertzuweisung, sie ist einfach in den meisten Fällen unnötig.

        Interessant finde ich auch den Punkt der Selbstwahrnehmung: Ja, notorische Lügner belügen sich oft selbst. Aber nicht nur das, ein Teil (unterbewusst?) ist sich dessen sehr wohl bewusst und sabotiert sich manchmal sogar selbst! Sprich: man will erwischt werden (damit die Lüge endlich auffliegt, man vom Geheimnis entbunden ist und erleichtert weiterleben kann). Ganz allgemein ist es interessant, dass Kinder/Jugendliche manchmal so schwindeln, dass sie zwangsläufig erwischt werden!

    • Maru sagt:

      @RoXY: Vor allem Ihrem zweitletzten Satz stimme ich vollends zu. Es gäbe weniger sogenannte Burnouts und Depressionen, würde man sich selber eingestehen, wie man wirklich ist und dass es durchaus auch Zeiten gibt und geben darf, in denen man weder sich selber noch anderen genügt, anstatt ein Leben lang zu verdrängen, und den Deckel auf die brodelnde Pfanne zu halten, nur damit man seinem Umfeld dauernd den tollen Hecht oder die Superfrau vorführen kann, so lange, bis schlussendlich Körper und Seele kollabieren.

      • Reincarnation of XY sagt:

        Wie wahr, Maru.
        Aber eben, manchmal ist es unmöglich es selbst zu durchschauen, weil diese Kultur des Wegschauens von der Lüge reflexartig greift, weil sie uns allen seit frühester Kindheit vorgelebt und antrainiert wurde. Verdrängen ist ja ein Vorgang der unbewusst geschieht. Erst wenn der Topf explodiert, merken wir, dass wir es eigentlich „schon immer gewusst“ haben.
        Deshalb empfinde ich solche Analysen zum ach so tollen Lügen, oberflächliche Quacksalberei welche völlig ausblendet, was diese Kultur für Konsequenzen hat.
        Unsere Kinder haben ein Bedürfnis für einen Ort der Offenheit, wo sie sein können wer sie sind, wo sie auch ihre Abgründe zeigen können, etc.
        Aber das geht natürlich nur, wenn wir selbst Offenheit vorleben.

      • Reincarnation of XY sagt:

        Wenn also unsere Kinder lügen, sollten wir nicht schimpfen, sondern uns fragen, warum sie das tun.
        Meine Kinder erzählen mir Sachen, die ich nie nie nie nie meinen Eltern erzählt hätte. Das ist möglich, aber das passiert nur, wenn wir die Kultur in der wir aufgewachsen sind hinterfragen und neue Wege gehen.
        Rebellion gegen Eltern/ Mobbing von Schwächeren/ mit Eltern nicht über Sex reden wollen/ verlogene Beziehungen leben…. ist kein Muss, ist nicht genetisch determiniert, sondern ist erlernte Kultur, die wir selbst erlernt haben und dann aktiv an die nächste Generation vermitteln.

      • tststs sagt:

        „… ist kein Muss, ist nicht genetisch determiniert, sondern ist erlernte Kultur, die wir selbst erlernt haben und dann aktiv an die nächste Generation vermitteln.“
        Treffer, versenkt!

      • Brunhild Steiner sagt:

        @Reincarnation of XY
        @tststs

        oder auch: diese angeblichen Naturgesetze sind nichts anderes als Lügen, welche uns in einer bestimmten Denkweise „so wird es sein/ so wars schon immer gewesen/ es kann gar nicht anders sein“ gefangen halten und uns von einer grossen Weite und Tiefe fernhalten.

  • Esther sagt:

    Ist erstmal die Lüge enttabuisiert, ist endlich auch die erfundene Anschuldigung von Mitmenschen salonfähig.

  • Muttis Liebling sagt:

    Es reicht fürs Erste, Lügen von Unwahrheit zu unterscheiden. Aber wie kommt man auf solche Zahlen?

    ‚Obwohl Erwachsene durchschnittlich 25-mal am Tag lügen…‘

    Meiner Meinung nach ist es völlig unmöglich, solche Zahlen auch nur grössenordnungsmässig zu bestimmen.

    • Maike sagt:

      Lügen und Unwahrheit kann man nicht trennen, es ist ein und das gleiche: eine Falschaussage !
      Es ist nur der Versuch, dieser wissentlich falsch getätigte Aussage ein anderes Gewicht zu geben: eine Unwahrheit ist (angeblich) weniger schlimm als eine Lüge.
      Analog wie die Software, die die Dieselabgase verfälscht hatte verharmlosend – Schummelsoftware – genannt wurde, um nicht von Betrug sprechen zu müssen.

  • tststs sagt:

    „__________( Name des Kindes), wie alle musst auch du lernen, dass manche Dinge von einem gewissen Standpunkt abhängig sind.“
    Auch die Wahrheit 😉

  • Oberländer sagt:

    Man kann Fragen auch so formulieren, dass man dem anderen die Lüge erspart.

    • Stefan W. sagt:

      @Oberländer: Absolut Ihrer Meinung. Wer inquisitorische Fragen stellt, und dann womöglich auch noch ausrastet, wenn ihm die Antwort nicht passt, der hat es nicht anders verdient, als angelogen zu werden.
      Bei kleinen Kindern spielt es eh keine Rolle, ob sie absichtlich lügen (vielleicht ist ja auch ihre Fantasie mit ihnen durchgegangen?), und bei grösseren Jugendlichen geht uns das, was uns interessiert, oft im Grunde nichts an, weil es das Privatleben unserer Kinder betrifft. Und wenn jemand glaubt, mit Fragen verhindern zu können, dass Jugendliche Dummheiten begehen könnten dann hat er viel früher in der Erziehung etwas verpasst.

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