Warum uns die Zeit davonrennt

«Hach, bist du aber gross geworden»: Als Kind kann man mit derlei Bemerkungen nicht viel anfangen. Foto: iStock
Der Regisseur und Autor Florian Opitz hatte nach der Geburt seiner Tochter das Gefühl, für alles zu wenig Zeit zu haben. Nein zu sagen, fiel ihm schwer. Deshalb machte er sich in seinem Dokumentarfilm «Speed» (2012) auf die Suche nach der verlorenen Zeit und begegnete dabei be- und entschleunigten Menschen aller Art.
Vor allem wenn man Mutter oder Vater wird, scheint sich für viele das Rad der Zeit schneller und schneller zu drehen. Wähnten wir uns alle erst noch in der Vorweihnachtszeit, stehen nun schon rosa Tulpen auf dem Tisch, und die Tage werden wieder länger. «Warte nur ab, sobald die Kleinen in der Schule sind, rast die Zeit noch schneller», wurde mir oft gesagt. Stimmt das? Und falls ja, wie schaffen wir es, die Zeit zu dehnen, sie bewusster und langsamer vergehen zu lassen?
Über diese Fragen und darüber, welche Faktoren unsere Zeitwahrnehmung beeinflussen, habe ich mich mit dem Zeitforscher Ivo Muri ausgetauscht. Der Gründer des Forschungsinstituts «Nomos der Zeit» unterstützt die Menschen auf der Suche nach ihrer verlorenen Zeit. In Form von Referaten, Seminaren und Publikationen vermittelt er sein Wissen über den Unterschied zwischen der Zeit und der Uhr.
Herr Muri, Psychologen haben in einer Studie 500 Teilnehmer zwischen 14 und 94 Jahren unter anderem gefragt, wie schnell die letzten zehn Jahre ihrem Empfinden nach vergangen waren. Für Teenager war diese Zeitspanne langsam verstrichen, für junge Erwachsene schneller, für ältere noch schneller. Wieso vergeht die Zeit für Kinder langsamer als für Erwachsene?
Ein Kind ist ständig neuen Eindrücken und Erlebnissen ausgesetzt. Es hat noch keine Lebenserfahrung und darf die Welt für sich von Grund auf neu entdecken. Laufen zu lernen ist zum Beispiel ein intensiver Prozess, bei dem die Hirnstrukturen massgeblich geformt werden. Erwachsene hingegen stecken oft in einem ziemlich vorgegebenen Tagesablauf, in dem nur wenig neu ist, so hat man das Gefühl, dass die Zeit wie im Flug vergeht.
Welche Faktoren beeinflussen die Zeitwahrnehmung?
Pflanzen und Tiere leben im Gegensatz zum Menschen nur in der Gegenwart. Dem Menschen ist es aber möglich, aufgrund von Erinnerungen seine Zukunft zu planen. Dieses ständige Hin-und-her-Schalten zwischen «Was war gestern?» und «Was ist morgen?» macht es uns so schwer, wirklich in der Gegenwart zu sein. George Orwell hat in seinem Zukunftsroman «1984» geschrieben: «Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.» Daraus dürfen wir folgern, dass jeder, der achtsam und gegenwärtig ist, aktiv seine Vergangenheit und seine Zukunft beeinflussen kann.
Das tönt eigentlich ganz simpel. Wieso sind aber viele – trotz aller technischen Errungenschaften, die uns das Leben eigentlich erleichtern sollen – offenbar ständig gestresst?
Ich habe das Gefühl, dass die Gesellschaft immer weniger Strukturen hat – daran hat auch die Globalisierung ihren Anteil geleistet. Im Zuge dieser hiess es: weniger Gesetze und Regulierung, weniger Staat und mehr Privatisierung. Jetzt merken wir, dass durch die Globalisierung alles, was wir selber beeinflussen wollen, weiter weggerückt ist. Wir können immer weniger in das Regelwerk der Wirtschaft eingreifen. Die Privatwirtschaft berücksichtigt per Definition ihre privaten Interessen, der Schnelle gewinnt vor dem Langsamen, der Billige vor dem Teuren. Es hat eine Entwertung der Waren stattgefunden – und dahinter steht auch immer die Entwertung der Menschen, welche diese Waren produzieren.

Ivo Muri (60), Gründer des Forschungsinstituts «Nomos der Zeit». Foto: PD
In seinem Buch «Gefühlte Zeit» vergleicht der Psychologe Marc Wittmann das Leben mit Ferien: Anfangs entdeckt man den unbekannten Ort, ungewohnte Düfte, Kulinarik und Landschaften – und die Zeit scheint sich weit zu dehnen. Doch nach ein paar Tagen wird das Neue zur Gewohnheit, man macht um dieselbe Zeit Siesta, kehrt nach dem abendlichen Strandbesuch nach Hause zurück, um nach der kalten Dusche in ein Restaurant an der immer selben Strandpromenade einzukehren. Und plötzlich ist die Ferienwoche viel zu früh vorbei. Wenn es offenbar auf wirtschaftlicher Ebene so schwierig ist, wie können wir die Zeit zumindest im Privaten als Freund und nicht als Feind betrachten? Und gibt es Strategien zur Verlangsamung der Zeit?
Als Erwachsener hat man Gewohnheiten entwickelt. Vor allem für Eltern besteht das Leben aus vielen festgesetzten Routinen. Die Betreuung der Kinder, der Job, aber auch die Freizeit: Oftmals ist alles bis ins kleinste Detail durchgeplant und somit auch vorhersehbar. Das Rad der Zeit beginnt langsamer zu drehen, sobald wir die geordneten Bahnen verlassen und wieder zum Entdecker werden. Aus dieser Entdeckerfreude entsteht die Empfindung, wieder voll im Leben zu stehen. Lernen Sie Neues, und schaffen Sie sich mit ihrer Familie immer wieder kleine Zeitinseln – Auszeiten, während derer sie zum Beispiel mal für ein Wochenende verreisen.
Der Autor Fjodor Dostojewski war einst zum Tode verurteilt, und erst kurz vor der Vollstreckung des Urteils wurde seine Strafe schliesslich umgewandelt. Seine vermeintlich letzten Minuten seien ihm wie eine unendlich lange Zeit vorgekommen, wie ein unermesslicher Reichtum. «Jeder Moment wird intensiv gelebt, die Zeit dehnt sich, typische Anzeichen eines aussergewöhnlichen Bewusstseinszustands», schrieb er. Eine Erfahrung, die man sich unter anderen Umständen eigentlich wünschen würde. Im Alltag zwischen Arbeit, Kinderbetreuung und Haushalt ist es aber für einige nicht immer einfach, sich einer Sache wirklich bewusst hinzugeben, ohne von inneren und äusseren Impulsen abgelenkt zu werden. Wie schafft man es, mehr im Moment zu leben?
Ich habe das als Unternehmer selber erlebt, das dauernde Getriebensein, dass man immer drei Jahre vorausdenken muss. Dabei spürt man vor allem Unsicherheit und Stress. Wenn wir dauernd grübeln und nachdenken, nutzen wir unser Gehirn falsch. Es ist nicht dazu da, um permanent nach der nächsten Gefahr Ausschau zu halten. Wir müssen mehr im Jetzt leben. Gegenwärtig sein. Ich verstehe, dass man sich als Familie derzeit nicht nur um die finanzielle, sondern im Zuge der Klimaerwärmung auch um die existenzielle Zukunft Sorgen macht. Doch wer jeden Moment als Musse annehmen, bewusst hören, riechen, berühren kann, der hat schon viel geschafft. Singen Sie in einem Chor mit, treiben Sie Sport – egal was. Aber widmen Sie sich der Musse. Und sehen Sie Ihr Kind als Musse und nicht als Arbeit an.
Genau das versuchen ja derzeit viele. Was halten Sie vom Achtsamkeitstrend, bei dem das Gewahrwerden des eigenen Ichs im Zentrum steht?
Dieser Boom hat viel damit zu tun, dass unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten in die komplett entgegengesetzte Richtung unterwegs war. Immer mehr Flexibilität erforderte immer mehr Planung und brachte trotzdem immer mehr Unsicherheit, es musste immer mehr koordiniert und mental gearbeitet werden. Doch der Mensch ist mehr als nur sein Denken. Der Mensch ist Körper, Geist und Seele. Nehmen wir zum Beispiel Yoga, das sich derzeit auch in der westlichen Welt grosser Beliebtheit erfreut. Yoga wurde erfunden, um den Menschen in die Gegenwart zu bringen, quasi ein körperliches Einmitten. In der Welt, in der wir heute leben, sind wir aber enorm vom ganzheitlichen Leben weggedriftet. Der derzeit herrschende Trend geht wieder zurück zu den Wurzeln von Letzterem. Ich erachte diese Entwicklung als wichtig und wertvoll. Bleibt zu hoffen, dass sie Bestand hat und wir auch unseren Kindern mitgeben, wie wichtig es ist, gegenwärtig zu sein. Alle Gefühle zu spüren und sie als gut zu erachten. So auch Angst, Trauer und Freude nicht zu verdrängen, sondern wirklich zu leben.
19 Kommentare zu «Warum uns die Zeit davonrennt»
Ich denke gewisse Tiere haben sehr wohl ein Begriff von Vergangenheit und Zukunft. Viele Tiere planen für die Zukunft (Rabenvögel verstecken Nüsse), schätzen die Auswirkungen ihrer Handlungen ab, Trauern um Artgenossen (Elefanten) was auch auf eine Art bedeutet, dass sie einen Begriff von Zeit haben. Auch ist es von der Evolution her schwer vorstellbar, dass die Anlagen für eine Art Zeitverständnis bei unseren nächsten Verwandten nicht schon da waren.
Nicht dass das Zeitverständnis von Tieren gleich ausgeprägt ist wie beim Menschen, da gibt es sicher erhebliche Unterschiede, aber so klar ist die Abgrenzung nicht.
Ich glaube, das haben wir früher auch gesagt. Das hängt schlicht und einfach damit zusammen, dass die Zeit im Rückblick immer kürzer wirkt als beim Blick nach vorne. Das liegt wohl auch daran, dass man vieles vergisst und sich hinterher nur an die schönen oder speziellen Momente erinnert. Alles Langweilige ist vergessen und damit auch die Zeit, die man damit verbracht hat.
Nun, in unserer Jugend drehte sich das Hamsterrad ja auch nicht so schnell. Aber das hat stetig zugenommen. Gestern war Instagram noch angesagt, heute ist das Tiktakto o.ä. beispielsweise. Gestern Turnschuhe mit weissen Socken, heute Flanking ohne Socken.
Oder wenn Sie sich erinnern, wie lange hielt sich eine Band in den Charts ?? Das waren Jahre ! Aber wer kann heute noch die Top Ten von vor 2 Jahren aufsagen ?
Und wie schnell gibt es ein neues IPhone ?
Mindfulness (Achtsamkeit) zu praktizieren ist in der Tat der Schlüssel, um aus einem als schnell drehenden Hamsterrad auszusteigen. Wer das in einer business-tauglichen Form erleben will kommt am 26/27! März zu SEARCH INSIDE YOURSELF in Zürich. Ein tolles Programm ! Mehr unter www. Mindleader.org
Das Beste, was man für seine Psyche tun kann, ist seine Sprache zu kultivieren, was auch heisst, keine Anglizismen zu benutzen. Wer nicht mal richtig sprechen und schreiben kann, kann auch nicht richtig denken, nicht richtig leben.
Achtsamkeit ist esoterischer Kitsch, keine Strategie weder für Leben, noch für Denken.
Da bohrst Du aber ein ganz dickes Brett mein lieber ML. Wer nicht richtig spricht etc. lebt nicht richtig ? Also leben Stumme und Stotterer nicht richtig ?
Und wenn Du mit dem Begriff Achtsamkeit nicht umgehen kannst, ist es einzig und allein Dein Problem. Zumal auch Achtsamkeit rein garnichts mit Esoterik zu tun hat. Vielleicht solltest Du mal Dein Wissenstand kultivieren, bevor Du hier losbollerst.
ML: Sie haben völlig recht. Ein Land, deren Bürger eine fremde Sprache ihrer eigenen vorziehen, indem sie diese ständig mit fremden Wörtern durchsetzen, als ob sie sich ihrer Sprache schämen würden und sich keine Mühe geben, sie richtig zu lesen und zu schreiben, sind im Begriff, einen wesentlichen Teil ihrer Kultur und mit ihr einen ebenso wesentlichen Teil von sich selber nach und nach abzuschaffen. Wenn ich an gewisse Unmöglichkeiten denke, die sich mir in dieser Beziehung zunehmend offenbaren, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, wonach das nicht mehr allzu lange dauern kann.
Zeitforscher Ivo Muri? Seit wann beforschen Psychologen Zeit und seit wann sind Befragungen Forschung? Zeit ist ein Thema nur der Physik und da sieht man auch, was Forschung ist. Das Ergründen von Objektivität, nicht die von menschlicher Subjektivität. Resultate von Befragungen kann man sich an die Hutkrempe nageln und rot anmalen. Mit Wissenschaft hat das nichts zu tun.
Nun, die ganzen Naturgesetze sind durch Befragungen, Versuche entstanden lieber ML. Oder glaubst, die sind einfach so vom Himmel gefallen ?
Zudem, Dinge, die pysikalisch nicht messbar sind – heiss, kalt, wohlbefinden, traurig – die ermittelt man per Befragungen. Da kannst Du Dir Deine Physik an die Hutkrempe nageln und rot anmalen.
@maike
Also „einfach vom Himmel gefallen“ geht zumindest grob in die richtige Richtung. Versuche und Befragungen als Ursprung von Naturgesetzen? Nöh, wirklich nicht, die gelten schon eine ganze Weile länger als irgendjemand etwas fragt oder versucht. Und die werden noch eine ganze Weile länger gelten, und darum ärgert mich Ihr Kommentar so sehr: Die Naturgesetze gelten, ob wir es wollen oder nicht, und die sagen, wir vernichten unsere Lebensgrundlage als Menschheit wenn wir so weiter machen, und sterben aus. Die Naturgesetze gelten dann immer noch. Wir machen die nicht und wir können keine neuen besseren erfinden. Das versucht Greta uns klar zu machen, und anscheinend verstehen das viele nicht, darum reden die auch von Innovation als Lösung. Wir erfinden neue Naturgesetze, hurra!
Naturgesetze sind durch Befragungen und Versuche entstanden? Echt?
Hitze und Kälte wird durch Befragungen ermittelt? MeteoSchweiz macht eine Umfrage bevor sie die Tagestemperaturen veröffentlichen?
Manchmal glaube ich auch, die Menschheit ist dem Untergang geweiht…..
„Bleibt zu hoffen, dass sie Bestand hat und wir auch unseren Kindern mitgeben, wie wichtig es ist, gegenwärtig zu sein. “ Kinder sind so gegenwärtig, wie es nur geht, von sich aus sind die im hier und jetzt. Wir versuchen denen beizubringen, etwas weniger gegenwärtig zu sein.
Wären wir gegenwärtig, würde niemand einen Wecker stellen, um zu einer Arbeit zu fahren, solange der Tiefkühler voll ist. Man kann durchaus „arbeiten“ aus Interesse, aber dazu braucht man keinen Wecker.
Es gibt keine Zeit: Die Vergangenheit gibt es nicht mehr, die Zukunft noch nicht, es gibt also nur Gegenwart, aber logischerweise gibt es dann keine Zeit.
Es gibt 3 Zeiten. Die kosmologische, sichtbar in der Expansion des Alls. Die thermodynamische, täglich sichtbar beim Kochen und beim nachherigen Abkühlen des Gekochten. Schliesslich die biografische Zeit, sichtbar im Spiegel.
Leben gibt es nur, weil in unserer Welt alle 3 Zeiten die gleiche Richtung haben. Wenn die kosmologische Zeit sich einmal umkehrt, das All kollabiert, dann kocht Wasser von selbst und muss aktiv gekühlt werden. Leben ist dann nicht möglich.
Aber Zeit ist keine apriori- Kategorie, wie noch Kant und Newton das annahmen. Zeit existiert nicht vor der Erfahrung, nicht aus sich und nicht für sich. Zeit entsteht wie der Raum erst durch Wechselwirkungen von Gravitationsquanten. Zeit und Raum sind Aposteriori.
Na wenn das man nicht ein esoterischer Quark ist ! Zeit hat eine Richtung… Ein Auto fährt in eine Richtung, aber Zeit ??? Und es gibt Quantengravitation – aber Gravitationsquanten ???
Was mich immer wieder erstaunt ist, dass ich heute auch von jungen Menschen häufig höre: „Das Jahr ist so schnell vergangen“. Das scheint mir eine klare Veränderung zu sein. Vor einigen Jahrzehnten waren sich doch fast alle jungen Menschen einig, dass die Zeit „dahinkriecht“, während die Älteren meinten, sie rase dahin. Oder erinnere ich mich da falsch?
Das hat mir meine Tochter diese Woche auch gesagt und ich habe mich da auch gefragt, ob ich das in ihrem Alter je gesagt habe.
Ich vermute, das liegt an der fehlenden Musse. So viel Gelegenheit wie heute schon in früher Jugend Zeit totzuschlagen mit variationsarmen Gewohnheiten wie Surfen, Youtuben, Gamen, online Kommunizieren etc., alles fokussiert auf einen kleinen immer gleich aussehenden Bildschirm hatten wir zum Glück noch nicht. Wir hatten noch lange Weile. Ein kreativitätssteigerndes Luxusgut welches ich mir mehr wünsche und mit meinen Kindern versuche zu kultivieren.
Auch meine Kinder sagen das, und auch ich erinnere mich, dass mir ein Jahr immer sehr lang vor kam. Frage mich, ob das auch damit zu tun hat, dass die Jahreszeiten nicht mehr so klar wahrgenommen werden können?