Wenn Kinder sterben wollen

Trauer und Schuldgefühle: Viele Eltern haben keine Ahnung von den Suizidgedanken ihrer Kinder. Foto: iStock
In den ersten Wochen des neuen Jahres werden noch so manche Vorsätze in die Tat umgesetzt. Was ich hierbei erschreckend finde: Die meisten Suizide in meinem Umfeld haben sich im Januar ereignet. Warum nehmen sich Menschen das Leben? Gibt es Persönlichkeitseigenschaften, die einen Suizid begünstigen? Nach meiner Erfahrung sind es eher die sensiblen, in sich gekehrten, angepasst-unauffälligen Personen, die gefährdet sind; Menschen, die hohe Ansprüche an sich selbst stellen und ein geringes Selbstwertgefühl haben. Bei Jugendlichen kommt die Pubertät und die damit verbundenen Veränderungen im Gehirn als Risikofaktor hinzu.
Vor zwei Jahren nahm sich ein 16-Jähriger aus meinem Bekanntenkreis das Leben. Es erschütterte mich zutiefst – dieser Junge hätte auch mein Sohn sein können. Die 200 Sitzplätze in der Abdankungshalle genügten nicht, einige Besucher mussten stehen. So viele Leute, die zur Trauerfeier kamen. Ich fragte mich, warum unter den vielen Menschen nicht einer dabei war, der wusste, wie es dem Jungen wirklich ging und der ihm noch hätte helfen können. Nun war es zu spät und zurück blieb ein Saal voller fassungs- und sprachloser Leute.
Nicht nur die Trauer ist qualvoll
Die Trauerfeier war vorbei, und viele der Mitmenschen kehrten nach kurzer Zeit in den Alltag zurück. Nicht so die Angehörigen. Während sie in den ersten Wochen noch in einer Art Schockzustand verharrten, einem durch körpereigene Drogen verursachten emotionalen Shutdown, drängte sich nun immer mehr die Erkenntnis ins Bewusstsein, dass es aus diesem schrecklichen Albtraum kein Erwachen gibt … Was folgt, ist nicht nur der tiefe, in Wellen wiederkehrende Schmerz um den Verlust eines geliebten Menschen, sondern weitere, fast nicht auszuhaltende Gefühle der Schuld sowie Scham und Isolation.
Suizidbetroffene Angehörige erleben es immer wieder, dass Mitmenschen ihnen auf der Strasse ausweichen. Tod und Trauer haben keinen Platz in unserem Alltag – und ein Suizid schon gar nicht. Die Sprachlosigkeit macht hilflos, dem gehen viele lieber aus dem Weg. Klar, dass dieses Verhalten weitere, tiefe Schrammen im ohnehin schon stark angekratzten Selbstwertgefühl der Angehörigen hinterlässt.
Der Freundeskreis verändert sich: Statt Small Talk in grosser Runde gibt es nun Deep Talk im Dialog. Jetzt sind diejenigen Mitmenschen hilfreich, die den quälenden Gedanken und Gefühlen Raum geben und die Trost spenden, nicht, indem sie ebendas krampfhaft versuchen, sondern indem sie einfach da sind, zuhören und versuchen, den Schmerz mit auszuhalten.
Leiden, das stark macht
Ein Schicksalsschlag ist wie ein schwerer Rucksack, den man vor die Füsse geknallt bekommt. Anfangs denkt man, dass man diesen niemals wird tragen können. Irgendwann gelingt es doch, wenn auch langsam. Die Last wird kaum leichter, aber man selbst wird stärker und lernt Strategien, damit umzugehen. Manche Leute entwickeln aus ihrem Schicksal eine einzigartige
Stärke. Dadurch können sie später Menschen in ähnlichen Situationen helfen, so wie die Zürcher Theologin Sabrina Müller. 2006 verlor sie ihre beste Freundin durch Suizid – ihr wurde der Boden unter den Füssen weggerissen. Zehn Jahre später verarbeitet sie ihre schmerzhaften Erfahrungen in einem 28-teiligen Blog respektive dem Buch «Totsächlich». Mit ihrer offenen und einfühlsamen Art der Sensibilisierung und Aufklärung hilft sie Betroffenen und Unterstützern darin, Worte zu
finden für ein Thema, das so viele sprachlos macht.

Darüber zu reden, hilft. Foto: S. Schild
Kennen Sie jemanden, von dem Sie glauben, er oder sie denkt an Suizid? Sprechen Sie die Person darauf an. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Menschen sich dann erst recht etwas antun würden. Im Gegenteil: Betroffene berichten, dass ihre Suizidgedanken abnahmen, nachdem sie mit jemandem darüber sprechen konnten.
Ich freue mich darauf, wenn ich eines Tages meinen Grosskindern erzählen kann, wie wir es in den 2020er-Jahren geschafft haben, mehr Empathie, Achtsamkeit und psychologisches Know-how in die Schulen zu bringen, wodurch Mobbing keine Chance mehr hatte. Psychische Probleme wurden viel rascher erkannt und wirkungsvoller behandelt, die Stigmatisierung und Tabuisierung nahm ab. So ist es uns gelungen, die Suizidrate bei jungen Menschen massiv zu senken, werde ich dann berichten.
Ruht in Frieden, Andrea, Angelika, Dario, Fritz, Heike, Matthias, Mirco, Oskar, Peter und Simon.
Hilfreiche Links:
http://www.reden-kann-retten.ch / https://www.147.ch/de/suizidpraevention/ / https://www.wie-gehts-dir.ch/de/ /https://www.promentesana.ch/de/startseite.html / https://www.fideo.de
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44 Kommentare zu «Wenn Kinder sterben wollen»
Kinder und Jugendliche sind ein Thema für sich. Bei Erwachsenen halte ich den Freitod aber für ein wesentliches Menschenrecht. Da niemand gefragt wurde, ob er das Leben mit allen Übeln, die es mit sich bringt, überhaupt möchte, sollte er es zumindest wieder verlassen können, wenn es ihm nicht (mehr) gefällt.
Angehörige von Suizidenten würden vermutlich weniger leiden, wenn der Freitod als Recht gesellschaftlich besser anerkannt wäre, und wenn sie sich vor Augen halten würde, dass Nichtexistenz für den Toten kein Übel ist.
Wenn mir als Vater von vier Kindern und Ehemann das Leben nicht mehr gefällt, dürfte ich dieses sofort verlassen? Wer würde sich im Anschluss an meinen Freitod um meine Angehörigen kümmern?
Jeder Mensch hat zumindest Eltern und somit die Aufgabe, sich um diese zu kümmern. Da kommt es nicht darauf an, ob man es will oder nicht: es ist eine Pflicht, genauso wie es eine Pflicht ist, nachhaltig zu leben. Andererseits könnte ich ja auch sagen: Ich darf jede Woche um die Welt fliegen, Klima hin oder her… es ist mein Menschenrecht!
Wir leben nicht in einem Vakuum und die Mitmenschen zählen auf unseren Beitrag an der Schaffung einer humanistischen und nachhaltigen Welt. Wenn ich diese Mithilfe verweigere, leiden zwanglsäufig andere darunter.
Also Selbstmord als Pflichtverletzung. Humanistisch ist das aber nicht.
Eine Pflicht, sich um seine (alten) Eltern zu kümmern, liegt nur in manchen Köpfen vor – sonst nirgends im ganzen Universum. Es gibt zudem nicht wenige Eltern, die ihre Kinder drangsaliert haben ein Leben lang mit schwerwiegenden Folgen: Dass diese sich nun noch um ihre alten Peiniger kümmern müssen, die Peiniger selbst so was fordern, ist reine Zumutung. Ich weiss, die Vorstellung, dass es solche Eltern gibt, missfällt den meisten. Davon hat es aber sehr viele, ja allzu viele (man lese dazu auch die Werke von Alice Miller).
@Anh Toan
Humanistisch heisst, dem Menschen die bestmögliche Persönlichkeitsentfaltung zu ermöglichen. „Bestmöglich“ unterscheidet sich von „ideal“ und bezieht auch das Leiden ein. Ein toter Mensch kann sich nicht mehr entfalten.
@Sonusfaber
Wer arbeitet und Steuern/AHV zahlt, der kümmert sich (indirekt) um seine (alten) Eltern. Dies ist ebenfalls eine Form der Hilfe, die ein Selbstmord beendet.
Es gibt sehr viele Eltern mit Persönlichkeitsstörungen etc. die ihre Kinder traumatisiert haben. Wichtig ist jedoch, dass die nächste Generation den ersten Schritt tut, um eine humanistischere Welt zu erschaffen. (Alte) Eltern hatten oft nicht den Zugang zu Psychologen/Psychiartern, um ihre Persönlickeitsstörung zu bekämpfen. Wir haben diese Möglichkeit heute, speziell auch in der Bewältigung von PTSD.
Trost für die Hinterbliebenen spenden ist eine verspätete Reaktion. Wichtiger ist die Nachricht an die Jugend, dass „Leiden eine Chance ist“ und „das Leben einen Inhalt hat.“ Besagte Theologin hat z.B. DANK ihrem LEIDEN ein Buch geschrieben, das vielleicht Tausende vor dem Suizid bewahrt. Unsere Wohlfühlgesellschaft betrachtet jedoch jegliches Leiden als Hindernis auf dem Weg zum eigenen Glück, welches mit grösster Gewalt bekämpft werden muss. Ungewollte Kinder werden abgetrieben, assistierter Suizid soll das Leiden im Alter beenden, Klimaanlagen und Autos garantieren Schutz vor Natureinflüssen etc. Wenn dann die Kinder auf den Zug der Wohlfühlgesellschaft aufspringen und während ihres Leidens auch aus dem Leben scheiden wollen, dann fallen die Erwachsenen plötzlich aus allen Wolken
„…warum unter den vielen Menschen nicht einer dabei war, der wusste, wie es dem Jungen wirklich ging und der ihm noch hätte helfen können.“ Nietzsche fasste die Ansicht der alten Griechen so zusammen: „Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben.“ Es ist die Freiheit eines jeden, dann zu gehen, wann er es für richtig hält. Falls er es wagt. Falsch ist es aber nie, nur endgültig. Gerade hierzulande gibt es ja fast nur Religionen, welche das irdische Dasein ohnehin als Jammertal betrachten und das Paradies erst für’s Jenseits versprechen.
@Jesses Naiau: „Falsch ist es aber nie, nur endgültig. “
Die Vernunft sagt etwas anderes:
Falsch ist es immer, denn es ist immer besser, eine Option zu haben.
(Tot ist, wie Sie sagen endgültig, man hat keine Option mehr, nur so lange man lebt, kann man sich noch umbringen.)
Teil 2:
Ich wollte die Menschen, die ich liebte nicht mehr belasten mit meiner ewigen Traurigkeit. Ich konnte die Dunkelheit nicht mehr ertragen und hatte alle Hoffnung verloren, dass es jemals besser werden könnte.
Niemand wusste von meinen Gedanken – und ich selbst habe sie so hingenommen, ich war nicht mal erschrocken darüber. Dass, obwohl ich mir so etwas früher niemals hätte vorstellen können. Und ich habe schon darüver nachgedacht, wie ich es am besten machen.
Nun, ich hatte Glück und kam in die Hände einer sehr guten Therapeutin, seither geht es stetig aufwärts.
Ich denke, ich habe es endlich geschafft.
Ich mache aber niemandem Vorwürfe, der so etwas nicht merkt, spürt, sieht…. Das ist wirklich kaum möglich. Selbst merkt man es wohl erst, wenn man kurz davor ist.
Ich möchte aus meiner Erfahrung berichten – meine Tochter wurde schwer gemobbt in der 3. und 4. Klasse. Im Alter von 9 Jahren hielt sie den Schmerz fast nicht mehr aus und wollte sich mit einem Messer das Leben nehmen. Später hat sie mir davon erzählt. Was sie davon abhielt war der Gedanke daran, dass sie von uns geliebt wird.
Da erst wurde mir klar, wie schlecht es ihr ging – sie hat mir ihren Schmerz in dieser Zeit nur teilweise mitgeteilt.
Augen auf – das ist nett gesprochen, aber schwer zu machen. Selbst Eltern können blind sein.
Ich selbst hatte später schwere Depressionen und sagte von mir selbst immer, dass ich mich niemals umbringen würde – genau darüber habe ich vor einem Jahr ernsthaft nachgedacht. Weil ich mich nur noch als Last für meine Familie empfand.
Gestern 8.1. ist es 12 Jahre her, dass mein Sohn Roger sich das Leben nahm. Danke für den einfühlsamen Bericht, der genau die Phasen und Schwierigkeiten beschreibt, die man als Angehörige durchlebt. Und nein, der Schmerz wird immer bleiben, auch wenn man weiterleben lernt und sogar wieder Freude empfinden kann. Die Liebe zum Kind geht über Dimensionen hinaus, ich fühle mich weiterhin in Liebe mit meinem Sohn verbunden, diese Erfahrung tröstet enorm.
Die meisten von uns sind zu sehr mit sich selbst, ihren eigenen Problemen beschäftigt, zu sehr auf Ablenkung aus, als dass sie von Zeit zu Zeit ihre ganze Aufmerksamkeit einem ihrer Bekannten schenken könnten, so dass sie vieles gar nicht wahrnehmen und schon gar nicht das, was ihnen zusätzliche Sorgen bereiten könnte. Wer will schon wahrhaben, dass der Nachbar Suizidgedanken hegt? Man verkehrt auch deshalb lieber mit glücklichen Menschen, weil man sich ja nicht um sie kümmern muss.
Ich werde es nie vergessen: 1985 hat sich eine ganz junge Arbeitskollegin das Leben genommen. Mich hat es damals sprachlos gemacht festzustellen, dass ihre Bekannten und Verwandten erstaunt waren. Denn es war mehr als nur offensichtlich, dass die mit sich selbst enorm haderte, zutiefst unglücklich war.
„Man verkehrt auch deshalb lieber mit glücklichen Menschen, weil man sich ja nicht um sie kümmern muss.“
Yup. Es gibt heute kaum ein gröseres Stigma, als traurig zu sein.
Genau dieses Unverständnis von (meistens) Aussenstehenden, die nicht verstehen können, dass man das Leid eines Menschen nicht mitbekommen hätte, ja sogar der implizierte Vorwurf, man hätte fahrlässig weggeschaut oder wäre unempathisch, erweitert die Scham- und Schuldgefühle der Zurückbleibenden und treibt sie noch mehr in die Einsamkeit. Jeder, der sich mit dem Thema befasst, als Betroffener, Seelsorger, oder Therapeut, weiss, dass in oft auch noch so einfühlsame Begleitung nichts genutzt hätte: sei es, weil der Selbstmordgefährdete grosse Energie darauf verwendete, seine Umgebung zu ’schonen‘, sei es, weil man niemandem ständig beobachten kann oder weil viele Suizide ’spontan‘ erfolgen. Schuldgefühle machen ’normale‘ Trauerarbeit oft unmöglich.
Also sind wir selber schuld, weil wir es nicht gemerkt haben…. und nicht das richtige unternommen haben.? Nein sorry, so einfach ist es nicht! Bitte keine solchen pauschalen Rezepte von Leuten, welche es nicht mit den eigenen Kindern erlebt haben.
Absolut! Es ist genau diese Verurteilung von seiten Aussenstehender, die diese unglaublich belastende Situation für die Zurückbleibenden noch belastender macht. Zur ’normalen‘ Trauer kommen auch noch Schuldgefühle hinzu und durch diese ziemlich ignorante Frage werden diese verstärkt und man fühlt sich noch isolierter als sowieso schon.
Ich wünschte, Menschen würden endlich lernen zu schweigen, wenn sie nicht empathisch sein können. Mittlerweile hat sich ja auch rumgesprochen, dass man nicht einem trauernden Elternpaar sagt, sie könnten ja noch Kinder haben…… Das ist exakt dasselbe Niveau.
‚…mehr Empathie, Achtsamkeit und psychologisches Know-how in die Schulen‘
Mit Esoterik und Küchentischpsychologie begegnet man dem Phänomen Suizid im Jugendalter (und im Alter) nicht. Suizid ist allein psychologisch nicht erklär- und auch nicht präventierbar. Ausser gerührt zu sei, empfiehlt sich ein gelegentlicher Blick in die seit Jahrzehnten reichhaltige Literatur zum Thema.
Und den Quatsch mit Tabu können wir für alle Male sein lassen. Es gibt in unserer Gegend der Welt seit ebenfalls Jahrzehnten keine Tabus mehr.
„Ich fragte mich, warum unter den vielen Menschen nicht einer dabei war, der wusste, wie es dem Jungen wirklich ging und der ihm noch hätte helfen können“ – das wissen Sie, weil sie mit jeden einzelnen gesprochen haben?
Vielleicht waren einige auch so fassungslos, weil sie alles in ihrer Macht stehende getan haben und trotzdem nichts ändern konnten!
ich habe es oben schon gesagt, weil mich diese Frage einfach fassungslos macht. Jeder, der sich auch nur ein einziges Mal mit diesem Thema befasst hat (das gilt für den ganzen Komplex Tod und Trauer), weiss, dass eben in vielen Fällen gar nichts zu sehen war. Es gehört zu der Unfassbarkeit des Suizides eines geliebten Menschen, dass jeder Konjunktiv aufgehoben ist, dass man mit all diesen Zweifeln, Fragen, den Selbstvorwürfen, der Scham und ganzen Qual für immer allein bleibt und keine Antworten erhält. Das Allerletzte, was man in einer solchen Situation braucht, sind Besserwisser oder Unempathen, die sich etwas nicht vorstellen können (was jeden Tag geschieht). Da schweige man doch lieber!
Ganz ehrlich: Wenn die Person wirklich nicht mehr Leben will, hätte ich kein Problem damit. Klar ist es traurig und ich kann jeden verstehen, der das empörend findet. Mein Standpunkt ist allerdings etwas pragmatischer: Meine Meinung ist, dass Personen welche WIRKLICH nicht mehr leben wollen dies auch selbst beenden dürfen ohne dass jemand dazwischen funkt. Denn am Leben zu bleiben, obwohl man nicht mehr will muss für die Person wesentlich schlimmer sein als ein Todesfall des eigenen Kindes.
Wie gesagt, es ist tragisch ohne Frage. Aber man muss auch die andere Seite sehen. Alles andere wäre egoistisch!
@M.m.
vor allem sollte man die verschiedenen Seiten, resp Möglichkeiten&Zusammenhänge welche bei einem Kind/Jugendlichen zum Suizidwunsch führen, genauer ansehen.
Sich nur mit einem „will halt wirklich nicht mehr leben“ zufrieden geben ist bequem.
Es geht hier nicht um bewussten/begleiteten Suizid im Falle von schwerer Krankheit, sondern um die unumkehrbare Reaktion in einer existentiellen Krisensituation. Einer Krise/scheinbaren Ausweglosigkeit der sich die Betroffenen hilflos gegenübersehen, und als einziges Mittel den Suizid sehen.
Es ist sehr egoistisch sich keine Gedanken&Mühe zur Prävention und Bereitsstellung von Unterstützung zu machen!
Insbesondere viele Betroffene im Danach sehr froh sind noch am Leben zu sein, achten Sie das nicht gering!
Der Wille, zu leben oder seinem Leben ein Ende zu setzen, muss keine Konstante sein in der Biographie eines Menschen. Ich meine: Es gibt Menschen, die irgendwann nur noch sterben möchten, überhaupt keine Lust mehr haben zu leben. Ihre Todessehnsucht muss aber nicht von Dauer sein. Sie könnte wie eine schwarze Wolke sein, die alles beschattet, dennoch vorüberzieht. Der Wunsch zu sterben muss daher schon respektiert werden, es wäre aber schade – vor allem im Fall eines jungen Menschen – ihn zu erfüllen, ohne zuerst zu bedenken, dass die nun derart schwarz, hoffnungslos aussehende Zukunft durchaus schöner sein könnte als befürchtet, ja sogar unerwartet schön ab einem bestimmten Zeitpunkt.
@Sonusfaber
schliesse mich an, trefflich formuliert.
Man muss das differenziert betrachten:
Warum will sich jemand suizidieren? Da kann man ansetzten.
Sich aber dann Vorwürfe zu machen, wenn jemand sich umbringt, ist falsch. Geschieht die Selbsttötung aus freien Stücken, so liegt die Verantwortung bei der ausführenden Person. Geschieht der Entscheid aufgrund einer Krankheit, trifft auch nicht die Angehörigen die Schuld (oder wer macht sich Selbstvorwürfe weil jemand an Krebs stirbt?).
Die heutige Gesellschaft stellt aberwitzige Forderungen an den Einzelnen (wenn man alles allen recht machen und alles können und haben will), DA muss man ansetzen. Mobbing ist eine Sache, dass heutige Kinder auch sonst unter extremem Druck stehen wird in dem Artikel vernachlässigt.
Und Organisationen wie FFF schüren dann noch Panik und Stress…
Als damals (vor 22 Jahren) von meinem besten Freund seine Schwester verstarb, hatte er auch so eine Phase. Als er irgendwann im Ausgang halb betrunken meinte, dass er seiner Schwester folgen sollte, gab es eine gehörige Ohrfeige und eine tränenreiche Moralpredigt, was ihm in den Sinn kommt. Reichte es nicht dass seine Schwester sie alle mit Leid, Trauer und Ratlosigkeit zurück gelassen hat, warum wollte er den gleichen Weg beschreiten? Nach einem heftigen und emotionalen Streit und Diskussion hatte sich die Wut in ihm gelöst: Eigentlich fühlte er sich einfach alleine gelassen aber erkannte dann, dass er eben nicht alleine war. Jetzt sind wir beide 40 und noch immer die besten Freunde.
Wunderbare, richtungsweisende, aufrüttelnde und feinfühlige Zeilen, besser lässt sich dieses sensible Thema nicht in Worte fassen.Vielen Dank, auch ich werde künftig (noch) achtsam(er) dieser Thematik gegenüber sein und entsprechend handeln…denn jeder von uns spürt im Grunde die Not eines Mitmenschen. Schweigen, daran vorbeigehen und stehen lassen darf nicht sein. Als Mutter von zwei Söhnen, 14 bzw. 17 Jahre alt, weiss ich,wie bewegt diese Zeit für Jugendliche ist, wie verletzlich und verunsichert sie sein können und wie subtil deren Gleichgewicht aufgrund ihrer Entwicklung ist.
‚…… den jeder von uns spürt im Grunde die Not eines Mitmenschen……‘. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich schon von Hinterbliebenen eines Suizides gehört habe, dass nichts, aber auch gar nichts auf diese Tat hingewiesen hätte. Als ich jung war, zweifelte ich das auch an. Mit zunehmender (auch persönlicher) Erfahrung musste ich feststellen, dass die Hinterbliebenen oft ohne Antwort zurückbleiben: es ist auch im nachhinein nicht feststellbar, wie der Betroffene eine Situation als so lebenskritisch und dramatisch einstufen konnte. Ich kenne den Fall eines Arztes, der selber in der Suizidprävention tätig war, ein hochempathischer Mann. Sein Sohn begang Suizid und für den Vater war und ist die Tatsache, dass er keinerlei Anzeichen bemerken konnte (!), bis heute unerträglich.
Danke, und kann nur unterstreichen dass man keine Angst haben soll das Thema anzusprechen. Auch die Meinung „solange die Person davon redet wird sie es nicht tun“ hat sich inzwischen als grundfalsch herausgestellt.
Sicher ist gar nichts, und es steht nicht in unserer Macht einen Suizid zu verhindern, aber auf die Wahrscheinlichkeit und unterstützende Faktoren haben wir, gerade auch als Gesellschaft und ihre verinnerlichten Werte, einen grossen Einfluss.
Suizid wird IMHO nicht mehr tabuisiert.
Ausser man meint mit Tabu eine Form der Nichtakzeptanz im Sinne von: ist auf jeden Fall zu verhindern.
„ist auf jeden Fall zu verhindern“,
bei Kindern und Jugendlichen? Was spricht dagegen dass es „auf jeden Fall zu verhindern sein sollte“?
Bei jungen Erwachsenen?
Warum sollten wir nicht für lebensbejahendere Bedingungen sorgen, uns selbst aufmerksam machen?
Bei Menschen „mitten im Leben“, warum sollten wir unser Wert/Leistungsdefinition in/oder ohne Kombination mit Kranheiten welche zusätzlich erschweren nicht hinterfragen?
Und bei (zunehmend übrigens) Suizid im Alter, warum uns nicht damit auseinandersetzen?
Und nein, alle angesprochenen Punkte finden sich bei Weitem nicht im Tagesgespräch!
Kindersuizid gibt es nicht. Nur Jugendliche suizidieren sich in abnehmender Häufigkeit ab Pubertät. D.h. 12- 13 Jährige machen häufiger Suizid als 14- 15 Jährige usw., bis das im jungen Erwachsenenalter fast völlig zum Erliegen kommt. Im Alter passiert das Umgekehrte. Mit jedem Lebensjahr ab 70 steigt die Suizidhäufigkeit.
Die Alterskurve des Suizides ist typisch U- förmig. Dazu noch ausgeprägte regionale Muster. Beides weist darauf hin, dass Suizid kein individualpsychologisches Phänomen ist.
@ML
einmal mehr, in einer Fachabteilung mag diese Definitionsreiterei vielleicht Sinn machen,
aber nicht hier.
Wenn sich mein Kind das Leben nimmt hilft mir das Wissen „es ist ja kein Kind mehr“, bloss weil es schon 12 ist, kein bisschen.
Und woher nehmen Sie die Sicherheit dass sich unter 12 Jahren noch nie jemand das Leben genommen hat?
„Was spricht dagegen dass es „auf jeden Fall zu verhindern sein sollte“?“
Selbstbestimmung.
Ich meine es so: Suizid ist wirklich kein Tabuthema, es wird seit Jahrtausenden darüber offen geredet und geschrieben.
Tabu im Sinne eines Verbotes (etwas, das verhindert werden MUSS, das man nicht zulassen darf) oder eben Nicht-Akzeptieren-Wollen, dass Menschen ihr Recht auf Suizid wahrnehmen, gibt es IMHO durchaus. Das ist halt unser christliches Erbe…
@tststs
ich finde bezüglich Kinder&Jugendlichen lässt sich schwer von „Selbstbestimmung“ reden, wenn unter Selbstbestimmung verstanden wird dass man in der Lage ist objektiv&sachlich zu entscheiden, unter Berücksichtigung aller entscheidender Faktoren und möglicher Hilfestellungen.
Diese Betroffenen handeln nicht SELBSTBESTIMMT sondern TUNNELBLICKBESTIMMT, sie wären dringend auf Hilfe/Unterstützung angewiesen.
Ich finde es fast schon höhnisch unter solchen Bedingungen von „lasst sie doch bitte selber bestimmen“ zu reden.
Und nein, über die dahinterliegenden Gründe wird gerade NICHT schon seit Jahrtausendenden offen geredet und geschrieben.
Verwechseln Sie nicht die Tat an sich mit allem was auch noch dazugehört!
Ich habe beruflich mit Suizid zu tun und betreue Angehörige in den ersten Stunden nach dem Ereignis. So ganz tabulos ist Suizid immer noch nicht. Da höre ich von den Angehörigen schon mal Fragen ob es möglich wäre den Verstorbenen so zu beerdigen, dass niemand es mitbekommt. Scham, Schuldgefühle, Schuldzuweisungen usw. gibt es auch in der tabulosen Gesellschaft von heute noch. Aber manchmal auch ein einfaches „nun hat er es endlich gemacht“ wenn der suizidale Teil des Paares nach jahrelangen Therapien, Klinikaufenthalen usw. den Suizid ausgeführt hat. Nicht nur die Suizidalen leiden. Manchmal auch die Partner und nicht selten über Jahrzehnte.
Allen Betroffenen die sich hier outen. Lassen Sie sich keine Schuld einreden. Was geschehen ist, war keinesfalls Ihr Entscheid.
Danke, Herr Saxer. Ich sehe das genauso und auch ich habe beruflich mit den Hinterbliebenen zu tun – allerdings nicht, wie Sie, unmittelbar nach dem Ereignis. Meine Erfahrung – und die meiner Kollegen – ist, dass ein Suizid die Familie und die Hinterbliebenen nachhaltig und meistens für immer prägt, denn in vielen Fällen bleiben die Fragen nach dem Warum offen. In Fällen wie den von Ihnen geschilderten sieht das natürlich anders aus, allerdings kommen dann oft jahrelange Schuld- und Schamgefühle hinzu, die zu neuen Tabus innerhalb der Familie führen. Zu empfehlen, sich keine Schuld einreden zu lassen, ist wie einem Depressiven zu sagen, der solle sich zusammenreissen: da sind ganz andere emotionale Ebenen im Spiel, die durch den Verstand nicht erreicht werden.
Teil 2 folgt (hoffentlich)
/Teil 2
Was ganz sicher nicht hilft, sind implizite Vorwürfe an die Hinterbliebenen a la ‚warum habt Ihr nicht genau hingeschaut?‘
Da man niemanden, auch seine eigenen Kinder, ständig beobachten und befragen kann und sogar ‚Experten‘ berichten, dass sie im Vorfeld nichts bemerkt hätten, sollte man eher daran arbeiten, Hilfsangebote für Gespräche auszubauen. Die Dargebotene Hand ist meines Wissens nach eine absolut segensreiche Einrichtung, denn oft ist es einfacher, anonym zu bleiben, damit die Familie nicht belastet wird. Woran es ein wenig hapert, ist eine Art Nachbetreuung, die den Anrufern die Möglichkeit bietet, über das Gespräch hinaus weitere Soforthilfe in Anspruch zu nehmen.
Mobbing in der Schule, auf dem Internet, oder zuhause sind meistens die Gründe. Auch das oberflächliche Leben das viele Familien führen, wo niemand mehr zuhause ist und zuhört und zeit hat für die kinder und jugendlichen ist schlimm. Dann diese ewige Handys auch bei den Eltern….
Die Suizidrate bei Jugendlichen hat sich seit 1990 mehr als halbiert, wie das Bundesamt für Statistik berichtet. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/sterblichkeit-todesursachen/spezifische.assetdetail.11348832.html
Früher war nicht alles besser und Handys und Internet wohl nicht Schuld….
Esther – Mobbing gab es schon vor 50 Jahren, man nannte es nur noch nicht so. Aber ich erinnere mir nur zu gut an einen Klassenkameraden, der gründlich gemobbt wurde. Und wenn er nicht aufpasste, wurde er auf dem Heimweg auch noch geschlagen. Das war Anfang der 70er. Auch was das zuhören betrifft: meine Mutter war zwar damals zuhause, so wie es in den 70ern „üblich“ war – aber zugehört und verstanden, wie es mir in meinem pupertären Elend ging, das hat sie nicht. Dieses ewiggestrige „früher war alles besser“ stimmt einfach nicht.
@Papperlapapi+Lisa: ich weiss, was Sie meinen, aber Sie tun IMHO Esther unrecht. Sie hat ja nicht gesagt, dass es früher keine Suizide oder Gründe für diesen gab. Sie zählt nur heutige Gründe auf (die man aber durchaus kritisch betrachten könnte!).
Ja, Augen auf! Kann Leben retten!
Damit die eigene Überforderung beim Helfen von Menschen in psychischen Notsituationen nicht zum Hindernis wird, gibts sogar einen 1. Hilfe-Kurs von ProMenteSana.
Empfehlenswert.
Herzlichen Dank für diesen berührenden Beitrag.
Werde mit offeneren Augen mit Bezug auf Suizidgefährdete durch den Alltag gehen.