Best of: Wutanfälle sind so … gesund

Schreiende Kinder sind anstrengend. Die Geschichte eines Kekses zeigt, warum es dennoch wichtig ist, das Weinen auszuhalten.

In dieser Woche publizieren wir Texte, die im vergangenen Jahr besonders zu reden gaben. Dieser Beitrag erschien erstmals am 14. November 2019. Wir wünschen einen guten Rutsch, die Redaktion.

Ob nun wegen eines falschen Bechers oder Pullis: Der Stress muss raus! Foto: iStock

Ich bin Anna. Ich bin sechs Jahre alt. Mein kleiner Bruder hielt meine Mama die ganze Nacht wach. Entsprechend ist die Stimmung zu Hause heute früh etwas gekippt. Meine Mama ist müde und gereizt. Doof. Ich soll mich für den Kindergarten anziehen, aber mein Lieblingsshirt ist in der Wäsche. Wie blöd ist das denn! Muss ich mir halt was anderes anziehen. Als ich mitten im Spiel bin, werde ich unterbrochen, weil meine Mama noch einen Arzttermin hat und heute alles etwas schneller gehen muss.

Ich komme als eine der Ersten im Kindergarten an, doch meine beste Freundin, Sophie, ist noch gar nicht da. Warten ist mühsam. Endlich! Hallo, Sophie! Aber was ist denn los, Sophie mag heute gar nicht mit mir spielen. Wieder mühsam. Irgendwann spielen wir dann doch zusammen, da zieht mich Sophie plötzlich an den Haaren. Und ich zieh natürlich zurück. Just da kommt die Erzieherin rein, und ich kriege richtig Ärger. Dabei hat Sophie doch mit allem begonnen! Wie unfair ist das denn! Jetzt packt noch Noah seine tolle Milchschnitte aus. Und ich? Ich hab nur so ein langweiliges Vollkornbrötchen dabei. Oh, Mann … Irgendwann werden alle Kinder abgeholt, nur mein Papa ist noch nicht da. Ich muss warten. Und warten. Wo ist er denn? Ich bin diejenige, die am längsten warten muss. Endlich! Papa ist da!

Nach dem Zmittag darf ich noch einen Keks essen. Da freu ich mich richtig drauf! Ich öffne die Keksdose. Es hat noch genau einen Keks drin. Und! Der! Ist! Zerbrochen!

Ich fange an zu weinen. Werfe mich zu Boden. Trommle mit meinen Ärmchen gegen das Parkett. Das Ganze dauert vielleicht 15 Minuten. Mein Papa steht fassungslos da und fragt sich: «All das nur wegen des zerbrochenen Kekses?»

Neue Kekspackung? Keine gute Idee!

In meiner vierjährigen Karriere als Mutter stand ich schon mehrfach in den Schuhen von Annas Vater. Leider waren in solchen Momenten oft Leute dabei, die mit mir ihre Beobachtungen wie z. B. «Na, die tanzt dir aber ganz schön auf der Nase rum» oder «Was für ein Drama wegen eines Kekses!» teilten. Was meinen Schweissperlen jeweils einen noch heftigeren Schub verpasste. Denn damals kannte ich Annas Keks-Gleichnis nicht und zweifelte an mir als Mutter. Seid bitte schlauer und lest weiter.

Das Keks-Gleichnis stammt aus «Auch kleine Kinder haben grossen Kummer» von Dr. Aletha J. Solter, der schweizerisch-amerikanischen Entwicklungspsychologin und Gründerin des Aware-Parenting-Instituts in Kalifornien. Solter untersuchte über 30 Jahre lang das kindliche Weinen und kam zum folgenden Schluss: Kinder weinen, um ihren Stress abzubauen. Tränen und Wutausbrüche sind Zeichen einer gesunden Entwicklung des Kindes. Weinen ist wichtig und heilsam, und wir Eltern sollten es auf keinen Fall unterbinden.

Annas Vater könnte sich zwar auf die Suche nach einer neuen Kekspackung machen. Das würde aber kaum helfen, denn sehr wahrscheinlich geht es Anna gar nicht um den Keks, sondern um den angesammelten Stress. Und dieser will raus. Der zerbrochene Keks ist die gepunktete Hose, ist der blaue Becher, ist das falsch geschnittene Brot. Es ist der berühmte Tropfen, der gelegentlich auch das Fass von uns Erwachsenen zum Überlaufen bringt.

Weinen ist vollkommen in Ordnung

Was tun als Eltern in einer Zerbrochener-Keks-Situation? Anke Eyrich, Familientherapeutin und Aware-Parenting-Beraterin, schlägt vor, Kinder in ihrer Wut zu begleiten: «Den Wutanfall möglichst nicht stoppen wollen. Sondern dem Kind zeigen, dass es in Ordnung ist, wenn es weint, und dass es in seiner Wut und Not genauso geliebt wird.» Und es sei wichtig, dass Eltern dabei auch ihre eigenen Gefühle wahrnehmen. So würden Kinder und ihre Eltern gleichzeitig lernen, mit Stress umzugehen.

Das Weinen eines Kindes auszuhalten, ist nicht immer einfach. Unsere Impulse, das Kind abzulenken oder möglichst schnell «stillzukriegen», sind oft sehr stark. Vielleicht, weil viele von uns selbst als Kind vom Weinen abgelenkt wurden und Sätze wie «Nichts passiert!» oder «Indianer kennen keinen Schmerz» intus haben. Deshalb kommen hier ein paar Ideen in Bulletpoints, für Eltern mit wenig Zeit (gern geschehen!):

  • Tief in den Bauch atmen und die eigenen Gefühle wahrnehmen.
  • Unseren negativen Impulsen widerstehen. Z.B. oft gehörte Sprüche wie «Nichts passiert!» oder «Was für ein Drama» verkneifen.
  • Körperliche Nähe anbieten, sofern das Kind diese auch braucht.
  • Aufmerksamkeit und Präsenz zeigen, das Kind nicht alleine in seiner Not lassen.
  • Wenn es passt, empathisch auf das Kind einreden: «Ich verstehe dich. Das ist gut, dass du so weinen kannst. Ich bin bei dir. Ich höre dich. Deine Gefühle sind richtig. Und wichtig.»
  • Strafen und Belohnungen unterlassen.
  • Nach dem Wutanfall: Über unseren eigenen Umgang mit Wut und Stress reflektieren. Und zusammen mit unseren Kindern wachsen.

Dieser Text erschien zuerst auf Instagram bei @chezmamapoule

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8 Kommentare zu «Best of: Wutanfälle sind so … gesund»

  • Christian Rochat sagt:

    Sie sollten ihre gesammelten Weisheiten in einem Buch veröffentlichen. Ich hätte schon einen Vorschlag für einen Buchtitel:
    Wie man am effizientesten unausstehliche Narzissten ohne jegliche Selbstkontrolle heranzüchtet, mit denen später niemand etwas zu tun haben will.

    • Tamar von Siebenthal sagt:

      Beitrag lesen wäre von Vorteil, aber manche tummeln sich ja nur hier, um nach ansichtig werden des Titels ihren Frust rauszulassen und ihrem Kinderhass zu fröhnen.

  • Marina Blau sagt:

    Schön geschriebener Artikel. Bin gleicher Meinung, dass Schreien gesund ist und kann mich lebhaft daran erinnern, dass es teilweise sogar recht lustvoll war, einfach alles blöd zu finden und so richtig laut und jämmerlich zu schreien. Allerdings brauchte ich dabei keine Erwachsenen, die mich verstehen, sondern wollte ALLE und ALLES doof finden.
    Einem Kind das Weinen, Schreien, Täubele zu erlauben ist toll. Es mit Esswaren und Anderem davon abzubringen ist kontraproduktiv und generiert verwöhnte und egozentrische Menschen wie sie MK beschrieben hat.

  • markus kohler sagt:

    Kleines Beispiel hierzu: Auf einer Notfallstation verlangt eine sehr junge Frau, dass sie sofort diverse Abklärungen erhalten soll. Man erklärt ihr das sei unnötig, sie sei von wenigen Tagen schon abgeklärt worden. Schliesslich, nach diversen Drohungen ihrerseits, werden neue Abklärungen organisiert. Sie sagt aber, sie habe nun gerade keine Zeit sie wolle noch nach Hause, man habe für sie das Essen bereitgestellt, sie komme in ca. 3 Stunden wieder, dann müssten aber alle sofort für sie zur Verfügung stehen.
    Ich könnte unzählige solcher Episoden berichten. Es sind zum grössten Teil superverwöhnte junge Frauen, welche die Aussenwelt als ihre Lakaien erleben und keine Beziehungen pflegen, sondern manipulieren und instrumentalisieren.
    Viel Spass mit Anna, wenn sie grösser ist.

    • Michelle sagt:

      Der Autorin geht es darum, dass den Gefühlen des Kindes (Wut, Entäuschung) Raum gegeben wird. „Anna“ darf ihre negative Gefühle zeigen und erfährt trotzdem Akzeptanz & Liebe von ihrer Bezugsperson.
      Ihr Beispiel zeigt eher eine „Anna“ die sogleich eine neue Kekspackung in die Hand gedrückt bekommen hat. Die negativen Emotionen werden sogleich erstickt und das Kind wirkt erst mal zufrieden. Es lernt dabei aber nicht den Umgang mit der Gefühlslage, sondern nur, dass es mit seinem Verhalten andere zu seinen Gunsten beeinflussen kann und bekommt, was es will.

    • Maru sagt:

      @MK: Besser und tatsachengetreuer hätten Sie es gar nicht beschreiben können, denn auch ich kenne ein paar solcher „Müsterchen“ . Endlich einmal jemand, der nicht glaubt, gewisse kleine und grosse Pappenheimer der neuen Zeit (beider Geschlechter übrigens) nicht kritisieren zu dürfen, wo Kritik mehr als angebracht ist und es sowieso endlich einmal an der Zeit wäre, sich die mannigfaltigen Fisimatenten des einen oder andern ungezogenen Kindes sowie seiner ebensolchen Eltern mit allem Nachdruck zu verbitten und ohne lange Diskussion darauf hinzuweisen, wo der Zimmermann das Loch gemacht hat.

    • Muttis Liebling sagt:

      Zu Ihrer Geschichte gehören zwei. Die das machen und die das tolerieren. Die Dame kann ich verstehen, die Reaktion nicht.

      Am Thema geht Ihr Beitrag vorbei. Ich habe in den letzten Jahren wenig Substantielles über Gesundheit gelesen oder gehört. Aber das Wutausbrüche im Gegensatz z.B. zu Ernährung oder Sport gesund sind, würde ich unterstreichen.

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