«Muss ich denn alles zehnmal sagen?»

«Zähneputzen!», «Ufzgi machen!», «Abräumen!»: Eltern drohen zu Kommandanten zu werden. Foto: iStock
«Bitte halten Sie sich gut fest und stehen Sie nicht zu früh auf, damit sie nicht umfallen, wenn das Tram hält.» Wenn ich zurzeit den ÖV benutze, freue ich mich jedesmal, wenn diese «Durchsage der Leitstelle» ertönt. Nicht nur spiegelt sie unser hohes Sicherheitslevel wider, sondern mindestens so stark mich selbst, die zu Hause oft als Tonband der Leitstelle waltet. «Zähneputzen!», «Jacke anziehen!», «Ufzgi machen!», «Abräumen!».
Denn im Gegensatz zum auf den Moment fokussierten Kinderhirn ist unsere gute alte Denkzentrale schon immer drei bis zehn Zacken voraus. Bei der Aufforderung zum Zähneputzen gehts um die Verhinderung von Löchern, bei der Jacke um die Gesundheit eines nassen Kindes. Wir kalkulieren, berechnen, nehmen die Anforderungen im Aussen auf und setzen sie um, ohne dass uns bewusst wäre, wie viel Denkarbeit eigentlich vorausgeht, bevor daraus eine Durchsage entsteht.
Die kommt bei mir allerdings, ich gebs zu, nicht immer ganz so neutral daher wie beim ZVV. Vor allem, wenn auch die x-te Wiederholung ins Leere schiesst und mir der blöde Satz «Muss ich dir denn alles zehnmal sagen?» aus dem Munde fällt. Oft trifft mich dann ein völlig überraschter Kinderblick und ein «Was ist, Mama?», die mir klar machen, dass ich gerade erst jetzt gehört worden bin.
Kinderhirne sind eingehüllt
Warum ist das so? Wollen die mich einfach nur ärgern? Nein. Wollen sie nicht. Der Grund ist, dass Kinder sogenannte Hüllenwesen sind. Davon weiss ich, seit ich den Film «Wege aus der Brüllfalle» gesehen habe. Auf zauberhafte und überzeugende Art zeigt er, warum «Schokolade!» mit geringer, «Socken aufräumen!» aber mit grosser Wahrscheinlichkeit reaktionsfrei im Raum verpufft. Nicht etwa weil unsere Kinder verzogene, faule Bälger sind, sondern weil das Kinderhirn mit einer Hülle umgeben ist, die in erster Linie Informationen durchlässt, die Spass versprechen. Mit diesem Trick der Natur wird das freie Spiel geschützt, weil Kinder nichts anderes als das effektiv lernen lässt.
Nun leben wir aber in einer Gesellschaft, in der Kinder ihr Leben nicht frei lernend im Wald verbringen, sondern in einer durchstrukturierten Welt, durch die wir, die Leitstelle, sie durchzuschleusen und deren Anforderungen wir ihnen nahe zu bringen haben.
Ich habe bei mir schon oft eine sich anschleichende schlechte Laune beobachtet, an Tagen, an denen sowohl meine Leitstelle als auch der Spassmodus der Kinder auf Hochtouren läuft und mein vorausdenkendes Pflichtbewusstsein und das kindliche Im-Moment-Leben aufeinanderprallen.
Oder sind wir einfach neidisch?
Doch ist es wirklich nur die Anstrengung der Leitstelle, die mich grummlig stimmt? Oder stellt der Drang von Kindern, ihr Vergnügen über alles zu stellen, nicht auch eine Provokation für unsere oft gegenteilige Art dar, durchs Leben zu gehen? Konfrontiert uns die Freiheit der Kinder vielleicht mit einer verlorenen Welt, um die wir sie im Innersten beneiden?
Ich habe für mich drei Wege aus meiner persönlichen Brüllfalle gefunden. Wenn ich wirklich etwas von den Kindern will, rufe ich nicht mehr einfach quer durch den Raum, sondern gehe zu ihnen hin und begleite meine Durchsage mit einer Berührung. Das nämlich ist der Zauberweg durch die Schützhülle und verschafft tatsächlich Gehör.
Eigenverantwortung motiviert
Zudem gebe ich immer mehr Verantwortung ab. Als mein Sohn kürzlich seine Hausaufgaben mal wieder nicht machen wollte, sagte ich zu ihm: «Es ist letztlich deine Entscheidung, ob du die Ufzgi machst. Tust du es nicht, musst du es morgen eben selbst deiner Lehrerin sagen. Ich schreibe nichts ins Kontaktheft!» Danach gönnte ich mir eine schöne Tasse Tee, statt wie so oft zu grossen Reden auszuholen. Es kam weder zum Streit noch zu Gebrüll. Und seit da erledigt mein Sohn die Ufzgi viel pflichtbewusster – wahrscheinlich war ihm die Beichte am nächsten Tag in der Schule doch ziemlich peinlich.
Und ich habe daraus gelernt: Weniger Durchsagen der Leitstelle liefern dem kindlichen Eigenmotor Benzin und mir schöne Teepausen, die mich wieder mehr in der Gegenwart leben lassen.
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26 Kommentare zu ««Muss ich denn alles zehnmal sagen?»»
Hat jemand einen Tipp, wie man Kinder früher ins Bett bringt? Berührung und Selbstverantwortung elfen da wenig bei uns.
Und was war der dritte Weg der Autorin schon wieder? Tee trinken?
Ein guter Artikel mit Substanz.
Solche sollte es noch vielmehr geben.
Ob es nun so eine „Schicht“ gibt….? Hört sich etwas sehr vereinfacht an.
Ein sehr empfehlenswertes Buch ist „die Meinung der anderen“ von der Neurowissenschaftlerin Tali Sharot.
Darin erfährt man viel Wissenswertes darüber, wie unser Gehirn funktioniert, warum es so funktioniert und weshalb unsere Kommunikation so oft scheitert, und auch warum wir so oft intuitiv genau die falsche Strategie wählen, um wichtige Botschaften zu vermitteln.
Ich hatte bei der Lektüre viele Aha-Erlebnisse und weil es so gut fundiert ist, löste es auch praktische Veränderungen aus. Tali Sharot „die Meinung der anderen“.
ich finde die Überlegungen im Artikel sehr gut, vor allem die Entwicklung, dass die Kids die Konsequenzen ihres Ignorierens selbst tragen sollen (Beispiel Ufzgi).
Leider geht das aber nicht in allen Fällen.
„…in der Kinder ihr Leben nicht frei lernend im Wald verbringen…“ – selbst wenn sie das täten, müssten sie sich aber trotzdem der Witterung entsprechend anziehen, um Krankheiten zu vermeiden, oder Zähne putzen, um kaputte Zähne zu vermeiden. Diese Konsequenzen sind aber so wenig absehbar, dass man das o.g. Prinzip nicht gut einsetzen kann.
„Zehnmal sagen“ sollte man gar nichts, wenn das Mittel nicht taugt zum Zweck, versucht man ein anderes Mittel. Verantwortung übertragen, hilft häufig auch bei Erwachsenen: Wird uns vertraut, haben wir die Ambition, das in uns gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. Die Sorge um unsere Kinder hindert uns, ihnen zu vertrauen: Es wird Besorgnis geäussert, wenn ich dem 3-Jährigen seinen Willen erfülle und ihn die steile, lange Treppe hinunter alleine voraus lasse. Ich antworte, ich habe auch Angst, aber wenn ich ihm nicht vertraue, wie soll er Selbstvertrauen entwickeln? Unsere Instinkte sind halt nicht immer richtig. Aber klar, sollten wir Kinder auch nicht überfordern, aber generell sage ich: Die Mehrheit Kinder kann mehr, als deren Eltern glauben.
Doch, genau darum geht es. Wenn man will, dass Kinder gewisse Dinge lernen, geht es nicht ohne dieses „10x sagen“ (gefühlt „Miox sagen“, in Tat und Wahrheit wahrscheinlich so „100x sagen“).
Es nennt sich schlicht und einfach: Üben!
10 mal sagen übt allenfalls sagen. Aber macht eher den Mund müde. So wird er trainiert und erst nach hundert mal sagen müde.
Vielen Dank für diesen sehr treffenden Artikel! Werde mir das Thema einmal mehr auf die Fahne schreiben.
Z.B. Kinder oder Ehemann aufwecken : bald haben sie begriffen dass man es einmal sagt und nicht dreimal ! Wenn sie nämlich zu spät bei der Arbeit oder in der Schule sind, begreifen sie schnell dass Mutti nicht 3x rufen wird morgens. Man sagt es einmal Freundlich, Basta !
Wie kommt man als Frau überhaupt auf die Idee, dass man den Ehemann aufwecken müsse? Meinen Sie ernsthaft, der kann das nicht selber?
Nein eben, schläft immer wieder ein !
@Sylvia: Ich würde wetten, wenn der Mann keine Frau hätte die ihn zuverlässig weckt, würde er es auch schaffen aufzustehen.
Und so ist das auch mit Kindern.
Da ich nicht die Mutter meines Ehemannes bin, ist es auch nicht meine Aufgabe zu verhindern, dass mein Mann zu spät zur Arbeit erscheint.
Ich würde meinen Mann auch nie ermahnen, seine Wäsche (ausser Stallkleidung) in den Wäschekorb zu legen. Gewaschen wird einfach nur, was im Wäschekorb ist.
Das Leben in meinem Hort Alltag läuft genauso. 28 Kinder stürmen hungrig über Mittag in den Hort. Vor dem Essen Versammlung in der Garderobe. Nicht das es sehr wichtig wäre aber dort kommt die Durchsage an. Nur bis zu diesem Zeitpunkt braucht es die erste Durchsage, wie jeden Tag, „alle in die Garderobe“. Einige hören mich, die zweite Durchsage geht an Gruppen die sich bereits auf gemeinsames irgendwas eingelassen haben. Wenn ich Glück habe werde ich gehört. Und die dritte, ist die von Kind zu Kind gehend mit Berührung unterstreichende Durchsage. Und wenn ich Glück habe sind alle in der Garderobe vereint.
Oft wünsche ich mir, dass auch ich all die Durchsagen, die von den oberen Etagen, die auf mich niederprasseln, nicht durchdringen. Mein Hortalltag wäre um einiges entspannter.
Sehr guter Artikel. Jetzt muss man sich noch vorstellen, dass die Kinder in der Schule Dauerdurchsagen ausgeliefert sind. Ganz ohne Berührung!
Wir leben in einer Zeit, da Kreativität und Selbstverantwortung statt Normierung und Klassifizierung Trumpf sind. Diese Veränderung beginnt im eigenen Kopf, geht weiter im familiären Umgang mit Kindern und verändert irgendwann auch mal die überholte Vorstellung an Schulen, man müsse Kindern etwas beibringen, ihnen jeden Schritt vorschreiben, selbst das Tempo und die Richtung. Kinder sind von Natur aus neugierig und hochgradig kooperativ, nur erkennen das viele Erwachsene nicht, weil sie nie aufhören mit ihren kontrollierenden Durchsagen und sich ärgern, wenn Kinder nicht zuhören.
Immer wieder interessant zu lesen, wie Autoren scheinbar ihre eigene Kindheit komplett vergessen haben. Das sie genau selber einmal in der Situation eines Kindes gewesen sind, das sie selber genau mit den gleichen Dingen ihre Eltern zur Weissglut getrieben haben, wie sie es jetzt über ihre eigenen Kinder berichten.
Ich empfinde das immer nur als späte Rache der Elterngeneration.
Ich vermute mal, es gibt keine „Hülle“ um das Gehirn von Kindern, sonst wäre die schon längst anatomisch beschrieben worden. Die unreflektierte Gleichsetzung von „Geist“ und „Gehirn“ treibt lustige Blüten. Auch die Interpretation, Kinder liessen nur ins Bewusstsein, was Spaß verspreche, wage ich zu bezweifeln. Vor noch nicht allzu langer Zeit sah Kindheit noch ganz anders aus als heute. Man geht immer davon aus, in früheren Jahrhunderten oder -tausenden sei alles gleich gewesen. Das ist si nicht haltbar.
Tatsächlich passieren natürlich auch negative Eindrücke wie Hunger, Durst und Schmerz die kindliche Geisteshülle. Nur hat unsere Kultur diese fast völlig ausgemerzt, und sie wieder zwecks Erziehung einzuführen, ist gegenwärtig verpönt und verboten.
Im Übrigen sieht Kindheit nur wenige Flugstunden von hier, in türkischen Textilfabriken, afrikanischen Minen und Kaffeeplantagen, und für einige auf Europas Strassen immer noch deutlich anders aus.
Das probiere ich gleich aus! DANKE!
So, und jetzt extrapolieren wir das Ganze noch, ersetzen den Begriff Kind im Beitrag mit Ehemann, und schon ist die Menschheit ein Stück weiter…. 🙂
Ui, Martin – mit dem falschen Fuss aufgestanden? 😉 So schlimm sind wir Frauen doch auch wieder nicht!
Aber mehr Berührungen, mehr Ruhe im Gespräch, einen Gang zurückschalten und ein sanfterer Umgangston ganz allgemein würde sicher all unseren Beziehungen gut tun, nicht nur mit den Kindern!
Ausserdem: weniger auf Senden, mehr auf Empfangen schalten würde auch manches Missverständnis vermeiden.
Nein, Lina, alles ok… 😉
Aber ich wollte damit nicht einfach eine Breitseite loswerden, auch wenn gewisse Stereotypen natürlich damit mit bedient werden.
Aber im Ernst, der Beitrag handelt zumindest in meiner Wahrnehmung weniger von Kindern sondern von dysfunktionalem menschlichen Kommunikationsverhalten. Du (ist es ok, wenn wir uns duzen, nebenbei?) sagst es selber: „Aber mehr Berührungen, mehr Ruhe im Gespräch, einen Gang zurückschalten und ein sanfterer Umgangston…“
Das Ggt., sprich andere Leute mit Vorwürfen zu hämmern, vor sich her zu treiben, und wenn man irgendwann nicht mehr gehört wird mit doppelter Vehemenz das anzuwenden was schon nicht funktioniert hat, ist in meinen Augen nicht zielführend, zementiert Gefälle und ist das Ggt. von „Selbstverantwortung fördern“.
Ganz bei dir, Martin. Leider beobachte ich mich selbst auch viel zu häufig dabei, daher fand ich den Artikel heute wirklich inspirierend. Und eben, anwendbar auf alle zwischenmenschlichen Beziehungen. Ich würde noch ein weiteres Stichwort in den Pott werfen: Analog – Im Zeitalter digitaler (und dadurch verkürzter) Kommunikation und ständigem Abgelenktsein braucht es manchmal den bewussten Schritt ins Analoge. Und analog bedeutet eben vielschichtig (Blickkontakt, Mimik&Gestik, angemessene Sprache, evtl. Berührung, einander ausreden lassen, den richtigen Zeitpunkt wählen, das richtige Sprechtempo etc. etc.) – dann funktioniert Kommunikation auch wieder. Ich bin gerne online, aber es geht doch nichts über eine reale Begegnung.
PS Es wird definitiv langsam mal Zeit fürs Du 😉
Dazu kommt, dass man als „Sender“ oft genug etwas sagt und gar nicht bemerkt, dass das Gegenüber nicht auf Empfang geschaltet ist – aber die Erwartungshaltung hat, dass man gehört wird. Heute wieder im Büro erlebt – ich frage die Kollegin etwas und bemerke nicht, dass sie gedanklich einfach woanders ist und mich schlicht nicht gehört hat. Hier hilft es, erst einmal den Namen zu nennen und eine Reaktion abzuwarten. Übertragbar für zuhause 😉
@Lisa
„Dazu kommt, dass man als „Sender“ oft genug etwas sagt und gar nicht bemerkt, dass das Gegenüber nicht auf Empfang geschaltet ist – aber die Erwartungshaltung hat, dass man gehört wird.“
Das ist das Grundproblem, wenn man sich selber als „Leitstelle“ zu verstehen scheint die meint, immer den Tarif durchgeben zu müssen: Man setzt sich gar nicht mehr mit dem Gegenüber auseinander, man geht auch nicht aufeinander ein, hat aber doch implizit den Anspruch, dass das Umfeld auf jede Aeusserung anspringt („wieviele Male muss ich…“) und an den Lippen hängt.
Zudem ist erwiesenermassen das Auffassungsvermögen des Menschen beschränkt. Pauschal formuliert: umso unpersönlicher, dafür umso gebetsmühlenartiger sich etwas über uns ergiesst, umso weniger können wir damit anfangen.
@Lina
Unsere Interaktionsfähigkeit, und damit letztendlich irgendwann auch unsere sozialen Kompetenzen, werden im Rahmen der Digitalisierung unserer Kommunikation zunehmend verstümmelt, und irgendwann retardiert sein im Vergleich zu heute. Viele Leute kommunizieren nur noch per Kurztext und (dafür umso mehr) Emojis, bei Telefonaten oder im direkten Kontakt fühlen sie sich nicht selten sichtbar unwohl. Dabei ist Kommunikation bedeutend mehr als nur Wörter. Gestik, Haltung, Ausdruck, Zuwendung bleiben auf der Strecke.
Apropos Klischees: Da eine oder andere Körnchen Wahrheit ist halt immer darin enthalten, ansonsten würden Stereotypen alle irgendwann aussterben. Man lese nur den Beitrag von Leitstelle Silvia um 09:07… 😉