Mama, bleib doch mal stehen!

Aufs Tram rennen, in die Kita hasten – wir stehen ständig unter Strom. Was bedeutet das für unsere Kinder?

Wow, was war das? Unsere Alltagshektik wird der Wahrnehmung von Kindern nicht gerecht. Foto: iStock

Da ist die Tramhaltestelle. Ich setze mich auf die Bank und warte. Auf der anderen Seite der Strasse zwei Kleinkinderzieherinnen, die zügig je einen Kinderwagen schieben. Zwischen ihnen versucht ein etwa dreijähriges Kind, fast rennend, mitzukommen. Kurze Zeit später auf dem Trottoir vor mir, ein jüngerer Mann zu Fuss in raschem Tempo. Neben ihm auf einem winzigen Trottinett ein kleiner Bub mit einem grossen Helm auf dem Kopf, angestrengt tretend.

Das Tram hält. Ich finde einen Sitzplatz und habe Zeit, über das Gesehene nachzudenken. Was geschieht, wenn schon kleine Kinder häufig pressieren, immer wieder schnell sein müssen?

Ihre Art, die Welt wahrzunehmen, wird übergangen. Kleine Kinder haben eine andere Wahrnehmung als wir Erwachsenen. Sie interessieren sich für Details, für kleine, von Erwachsenen nicht wahrgenommene Dinge. Winzige Veränderungen an vertrauten Gegenständen fallen ihnen sofort auf. Kleine Kinder nehmen mit allen Sinnen wahr und brauchen Erwachsene, um ihre Beobachtungen verarbeiten zu können. So wachsen sie in die Welt ausserhalb der Familie hinein und fangen an, Ursachen und Zusammenhänge zu verstehen. Wenn die Hinweise und Fragen von den Kindern selber kommen, lernen sie am meisten, weil sie dann mit all ihren Gefühlen und ihrer ganzen Aufmerksamkeit bei der Sache sind.

Was wir leider immer wieder vergessen

Eine Ameise auf dem Trottoir vor einem Imbissstand, ein vergoldeter Türgriff in Form eines Drachens, ein Handwerker, der in einer kleinen Gasse das Kopfsteinpflaster ausbessert, der übergrosse Schnauz eines Mannes auf einem Filmplakat … Kleine Kinder wollen die Ameise beobachten, den Türgriff berühren und betasten, dem Handwerker zuschauen, auf den grossen Schnauz zeigen, ihre Verblüffung mitteilen.

Das bedeutet, sich zu bücken, um die Ameise genau sehen zu können und dabei zu entdecken, dass es da eine kleine Prozession von Ameisen gibt. Das bedeutet, stehen zu bleiben, das Kind zum Türgriff hochzuheben, damit es den Türgriff spüren und den Drachen streicheln kann. Das bedeutet, zu beobachten, wie der Handwerker einen Stein von einem Haufen nimmt, hin und her dreht, bis er ganz genau in die Lücke passt, vielleicht sogar einen Stein in die Hand nehmen zu dürfen. Das bedeutet, über den weissgelben Schnauz des Nachbarn reden, den Schnauz, der aussieht wie eine Bürste …

Wenn wir uns auf das Tempo und die Wahrnehmung kleiner Kinder einlassen, öffnet sich die Tür zu einer neuen Sicht auf die Welt. Kleine Kinder wissen etwas, was wir immer wieder vergessen: Das Leben ist da, wo wir sind, und nicht dort, wo wir hinwollen.

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27 Kommentare zu «Mama, bleib doch mal stehen!»

  • Mutter von zwei Zwerglis sagt:

    Ich nehme mir an meinen freien Tagen sehr viel Zeit für die Erlebniswelt der Kinder. Aber hin und wieder muss es auch etwas zügiger gehen. Zum Beispiel, wenn die Kinder Hunger haben oder noch eine Maschine Wäsche gewaschen werden muss. Die Kids müssen auch lernen, wenn sie für die Familie mal etwas zurückstecken müssen. Schliesslich sind sie die ersten, die schreien, wenn wegen einer längeren Schneckenbetrachtung leider noch kein Essen verfügbar ist. Und so darf es aus dem gleichen Grund auch mal zügiger zugehen auf dem Weg nach Hause.

  • Alam sagt:

    …und in der Schule geht das Gehetze im noch massiveren Stil weiter. Die Schultage beginnnen immer früher und sind vollständig durchgetaktet. Danach folgen sinnentleerte Hausaufgaben ohne Ende, zig Bücher, Hefte, Scripts, Blätter, die alle immer zur rechten Zeit an den rechten Ort geschleppt sein müssen. Lehrpläne müssen eingehalten werden und die Selektion drückt ständig im Nacken…

  • Béatrice und Carlos sagt:

    Welch einfühlsame Beobachtungen! Diese kleinen Wesen, die die Welt sehen, die wir Erwachsene ignorieren, übergehen oder nicht (mehr) sehen wollen oder vergessen haben, sind die Menschheit der Zukunft. Geben wir ihnen die Chance, durch ihre Beobachtungen die Welt anders zu gestalten.

  • Roger Pellaton sagt:

    Wow, was für ein wunderschöner Artikel! Nach einem Scheiss-Tag, wo ich viel zu wenig für meine 2 Mädchen da sein konnte, lese ich diese einfühlsamen Zeilen. Ein bisschen schlechtes Gewissen, weil ich mich ertappt fühle. Aber auch ganz viel Verständnis für diese Gedanken. Vielen Dank für den Schubs in die richtige Richtung.

  • Esther sagt:

    Tag für Tag sehe ich es im Bus und im Zug : Mütter sind auf dem Handy und das Kleinkind ist alleine, so viel weniger wichtig als das Handy.

    • N. O. sagt:

      Das habe ich mir auch immer gedacht, bis ich nun selbst Mutter wurde. Häufig schläft mein Baby gerade wenn wir draussen sind: dann habe ich Zeit, einen Anruf zu tätigen oder Nachrichten (endlich!) zu beantworten. Ich gebe mir Mühe, das Handy möglichst nur ‚hinter dem Rücken‘ des Babys zu benutzen oder halt eben, wenn es schläft. Da wir aber das Handy auch zum Fotografieren benutzen, hat das Baby bereits jetzt erkannt, dass an diesem schwarzen Kästchen etwas interessantes dran sein muss. Kindererziehung mit den verfügaren Smartphones und Tablets ist nicht einfach, vor allem, weil es noch zu wenig Wissen über Langzeitfolgen gibt. Das Wichtigste für mich: für das Kind da sein, auf sein Gebrabbel eingehen, Handy weg am Tisch, und Aufmerksamkeit braucht. Und:Telefone gabs schon früher..

  • ksimmen sagt:

    Sehr schöner Artikel.
    Auch wenn es im Alltag oft schwer fällt, das Tempo zu reduzieren, sollte man sich dessen immer wieder vergegenwärtigen. Denn es lohnt sich doppelt: für einem selbst, die Welt mit Kinderaugen wieder wahr zu nehmen und für die Kinder, die sich entdeckend und entspannt durch die Welt bewegen.

  • cyan jaeger sagt:

    Das Gleiche ist mir auch schon aufgefallen – daher gilt die Maxime: Einem Bus, Tram oder Termin rennt man nicht hinterher, das/der Nächste kommt bestimmt. Es wird immer wieder von „Quality Time“ mit den Kindern gesprochen aber gerade auf dem Weg zur KITA, beim Einkaufen etc. vergessen viele Eltern, dass diese Dinge auch als „Quality Time“ organisiert werden können. Es macht zudem deutlich mehr Spass und ist viel entspannter.
    An die Nörgler, die nun glauben, dass dies nicht so einfach ist – es ist nicht einfach aber einfach mal ausprobieren.

  • Stefan W. sagt:

    Tja und da war ich mit drei Kindern mit überschäumender Energie geschlagen, die so ca. zwischen 1 und 6 Jahren niemals innehalten wollten, sondern in jeder wachen Minute vor Aktivitätsdrang fast platzten. Meine Frau und Ich wären in dieser Zeit gern mal irgendwo ein Weilchen stehen geblieben 🙂

  • working mum sagt:

    mit einem kleinen kind an der hand kann man ganz vieles lernen…
    selber würde man sich ja gar nicht getrauen, einfach einem handwerker zuzuschauen, mit dem fragenden und staunenden kind aber bleibt man stehen; das kind stellt fragen und oft haben die handwerker sogar freude, zu erklären und zeigen, was sie da machen – das war auch für mich immer wieder interessant!
    natürlich hat man nicht immer zeit, aber man sollte sich diese wenn immer möglich nehmen…

  • Niklas Meier sagt:

    Ja, es gibt die stressigen Zeiten und Termine usw..
    Es gibt aber leider auch viele Eltern die dann, wenn sie nicht im Stress sind, „abschalten“ und „auch mal Zeit für sich“ haben wollen.
    Da werden die Kinder dann auch nicht berücksichtigt und dann wird sich gewundert, wenn die Kinder schon mit 3 oder 4 nur nach dem Handy der Eltern verlangen.

  • Papperlapapi sagt:

    Das eine Tun und das andere nicht lassen!
    Natürlich sollen die Kinder Zeit haben in Ruhe Käfer zu beobachten, Blätter zu sammeln, stundenlang zu spielen. Dazu eignet sich bspw. ein gemütlicher Brätelausflug am Sonntag wunderbar.
    Sie sollen aber auch lernen, dass nicht immer Zeit ist, jeder Fliege nachzuschauen, dass Pünktlichkeit und Verpflichtungen wichtig sind und man für diese Ablenkungen zurückstellen und das Ziel verfolgen muss.
    Ich plane, bin ich mit den Kindern unterwegs wenn immer möglich deutlich mehr Zeit ein, das gibt eine gewisse Entspannung. Habe ich 20 Minuten Zeit den Bahnhof zu erreichen statt der (alleine) notwendigen 10 Minuten, so liegt ein etwas gemütlicherer Schritt drin und ich kann gemeinsam mit dem Kind dem Handwerker noch einen Moment zuschauen.

  • Boris Laplace sagt:

    Beim flüchtigen Hinsehen mag die Nervosität, durch die das Leben immer mehr an Weite (die ihm Dauer verleihen würde) verliert, den Eindruck erwecken, dass sich alles beschleunigt. In Wirklichkeit handelt es sich aber nicht um eine wirkliche Beschleunigung des Lebens, denn dieses ist nur hektischer, unübersichtlicher und richtungsloser geworden. Und wegen ihrer Zerstreuung entfaltet die Zeit keine ordnende Kraft mehr, so dass keine prägenden oder entscheidenden Einschnitte im Leben entstehen, die es einem erlauben würden, sich immer wieder sinnvoll abzuschliessen. Die Lebenszeit wird nicht mehr durch Abschnitte, Abschlüsse und Übergänge gegliedert: Vielmehr eilt man von einer Gegenwart zur anderen – und altert so, ohne alt zu werden. Tipp: Michael Endes „Momo“ wieder einmal lesen 😉

  • Peter Vogel sagt:

    Danke an die Arbeitgeber, die nur auf die Renditen und Kaderlöhne achten. Danke auch an die 60+ Generation welche Jahrzehnte auf Pump lebte und sich nun die Pension durch die nachfolgenden Generationen querfinanzieren lässt.
    Viel zu tiefe Löhne bei viel zu hohen Lebenskosten sind das Resultat.
    Ich glaube kaum, dass die Leute freiwillig derart gestresst sind.

    • Gabriela sagt:

      doch doch, ich glaube es gibt viele die das freiwillig mitmachen, nicht alle aber viele.. ich kenne auf jeden Fall einige.

      • ri kauf sagt:

        Ja, das denke ich auch. Es gibt viele Leute, die meinen, sie wären nur wichtig, wenn sie gestresst sind un mindestens 100 Email am Tag bekommen. Ich kenne solche.

  • Grosi sagt:

    Für das Zeitnehmen, Zeithaben, Stehenbleiben gibt es die Grosseltern. Der Zeitdruck dem die Eltern beruflich ausgesetzt sind, können die Grosseltern wunderbar auffangen. Sofern diese zur Verfügung stehen.
    Ich kenne dieses Allesundjedesanschauen von meinem Enkelkind und kalkuliere für einen Ausflug dreimal mehr Zeit ein, um jedes Büsi unterwegs, jedes heruntergefallene Blatt vom Baum genauestens zu betrachten und zu erklären.
    So lernt mein liebes Enkelkind das Leben auch von einer zeitlupenlangsamen Seite zu kennen. Und ich auch.

  • werner boss sagt:

    Die Folgen werden nicht auf sich warten lassen und sich in der unterschiedlichsten Art zum Ausdruck bringen. Nur eines werden sie gemeinsam haben. Sie werde Kosten verursachen! Möglicherweise weit höhere Kosten als durch den zweiten Elternteil erwirtschaftet wurde. Weise Anzeichen dazu gibt es ja jetzt schon, nur werden sie unter dem Deckel gehalten.

    • Tamar von Siebenthal sagt:

      Ihr subtiler Vorwurf an Familien, in denen beide Elternteile arbeiten, ändert nichts an der Tatsache, dass in den meisten Zweiverdienerfamilien BEIDE Eltern arbeiten MÜSSEN. Die Kosten dafür tragen auch nicht die Arbeitgeber, welche sich mit unterbezahlten Arbeitnehmern eine goldene Nase verdienen, sondern die Allgemeinheit.

      • Simon sagt:

        Und nicht zuletzt bekommt man vom Bänkli der Haltestelle nur einen munzigen Einblick in das Leben dieser Kinder. Es kommt schon vor, dass man ab und zu etwas rennen muss. Auch bei uns. Aber bei uns bleibt daneben noch sehr viel Zeit zum Staunen, Anfassen und Diskutieren. Trotzdem ist es wohl oft ein Problem und der Beitrag sehr lesenswert!

      • Manfred Stierli sagt:

        Wenn man über seine Verhältnisse lebt, ja, dann müssen halt beide Elternteile arbeiten.

      • Tamar von Siebenthal sagt:

        @ Manfred Stierli

        Dann machen Sie es doch vor, mit einem Büezerlohn eine Familie zu ernähren.

      • Leonhard Fritze sagt:

        Lieber Manfred Stierli. Denken Sie, gibt es noch andere Ursachen, warum beide Elternteile arbeiten müssen?

  • Maura Hanley sagt:

    Danke für Ihren Blog. Seit langem beobachte ich genau dasselbe. Lebte über Jahre im Ausland; die gestressten Väter, weinende Kleinkinder um 7 Uhr morgens in die Creche bringen, Autotüren offen, dann Mütter mit High Heels stöckelnd und das kleine Kind noch im Pijama hinter sich herziehend. Zurück in Basel genau das gleiche Bild. Lebe zwischen 2 Altersheimen und 3 Kitas – schon eindrücklich, wie die Erwachsenenwelt die Kinderwelt immer mehr verdrängt, um dann den hektischen Kinderalltag mit einer ‚überdimensionalen‘ Geburtstagsparty wettmachen zu wollen. Ich sehe allerdings und gottseidank auch andere Beispiele. Ja, durch meine wachen Grosskinder entdecke ich durch deren Augen Wunderbares. Bin froh, das Leben durch Kinder bewusster und ruhiger angehen zu können.

  • Nicole Vaute sagt:

    Liebe Frau Büchel, Sie haben recht! Zum Glück sieht man aber immer nur Momentaufnahmen- auch ich bin/war oft gestresst mit Tochter unterwegs. Ich habe ihr dann aber jeweils erklärt, warum wir heute pressieren müssen, bzw dass die Kitafrau, Ärztin jetzt eben genau auf uns wartet und wir das nächste Mal wieder mehr Zeit haben. Und die haben wir uns dann auch immer wieder genommen. Es ist ab und zu schön, 30 Minuten in 100 Meter zu investieren, manchmal nervig.. mir ist wichtig ein Gleichgewicht zu vermitteln: es gibt Termine die wichtig sind und aus Kleinkindersicht halt unverständlich, es gibt aber auch viele Tage an denen Kinderanliegen vorgehen.

  • Doris sagt:

    Ein Ausgleich, eine Möglichkeit zur vertieften, temporeduzierten Wahrnehmung bieten vielfach die pensionierten Grosseltern, welche einen weniger getakteten Stundenplan haben, sofern sie nicht stets auf Reisen sind. Ich freue mich,dereinst die Rolle einzunehmen und zusammen mit den zukünftigen Enkeln das langsame Wahrnehmen zu realisieren.

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