Dem Kind ist langweilig? Grossartig!
Eine Bekannte aus dem Nachbarhaus ruft an. Ob ich für etwa eine Stunde die fünfjährige Isabel hüten könne, sie müsse mit dem älteren Sohn zum Kinderarzt, eine Platzwunde.
Kaum hat die Mutter die Wohnungstüre hinter sich zugemacht, lässt Isabel die Mundwinkel sinken. Mir isch langwiilig, sagt sie mit tonloser Stimme und schaut in die Weite. Wunderbar, sage ich, du bist nicht müde, hast keinen Hunger, nichts tut dir weh. Es ist dir einfach langweilig. Jetzt kann alles Mögliche passieren, wir wissen nicht, was du in ein paar Minuten machst. Das ist doch spannend! Isabel sagt immer noch nichts.
Aus Langeweile wird weisse Watte
Hat sie denn eine Farbe, deine Langeweile, frage ich. Eine Farbe?, fragt Isabel zurück, dann überlegt sie. Weiss, einfach nur weiss, sagt sie schliesslich. Woraus ist sie denn gemacht, deine Langeweile, frage ich weiter. Aus nichts, antwortet Isabel spontan. Aber nach einigem Nachdenken meint sie, nein, aus Watte, aus ganz viel Watte.
Ihr habt sicher Watte im Badezimmer. Meinst du, wir können etwas davon nehmen? Zuerst blasen wir einander über den Tisch einen Wattebausch zu. Dann braucht Emily, Isabels Puppe, einen Verband um den Kopf. Als Nächstes entsteht auf einem Zeichnungsblatt ein Wattegespenst mit grossen roten Knopfaugen …
Ein Plädoyer für die Langeweile
Langeweile ist ein Luxusphänomen. Sie meldet sich, wenn ein Kind sich sicher und geborgen fühlt, wenn es weder Hunger noch Durst noch Müdigkeit verspürt. Kurz – wenn seine Grundbedürfnisse befriedigt sind.
Langeweile ist eine Wundertüte. Wird Langeweile von den Bezugspersonen des Kindes akzeptiert und mit ihm gemeinsam ausgehalten, so kann sie in einen Raum des Neuen, des Unerwarteten führen.
Langeweile ist eine Türöffnerin zu Kreativität und Selbsterfahrung. Jedem kreativen Prozess bei Erwachsenen – dem Schreiben eines Textes, dem Malen eines Bildes – geht eine kürzere oder längere Phase der Unruhe und Unzufriedenheit voraus. Die kindliche Langeweile kann als Vorstufe davon gesehen werden.
Freuen wir uns also, wenn es einem Kind langweilig ist, und begleiten wir es dabei, sich von sich selber überraschen zu lassen.
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30 Kommentare zu «Dem Kind ist langweilig? Grossartig!»
Das hört sich für mich sehr nach Rechtfertigungen von Couchpotatoes an. Kinder, die viel rumhängen, sich keiner Herausforderung stellen können und deshalb natürlich ständig krank sind, kenne ich aus meinem Umfeld gut. Das kommt mir nicht wie eine sinnvolle Lebensgestaltung vor
Ich glaube, Sie sind etwas am Inhalt des Beitrags vorbei geschrammt. Seine Kinder nicht dauerbespassen und Couchpotatoes heranziehen ist ja nicht dasselbe.
„…. und deshalb natürlich ständig krank….“ Tönt natürlich gut, aber dafür gibt es Null Evidenz.
@Chrysaetos: nicht ganz Genau von den Couchpotatoes kommen üblicherweise die Sprüche dass Langeweile so wichtig sei! Und das mit der Evidenz meinen Sie nicht ernst, oder? Praktisch alle relevanten Studien zeigen, dass körperliche Aktivität der wichtigste Faktor für ein starkes Immunsystem ist Viel wichtiger zB als Ernährung.
Welche relevanten Studien? Es geht hier nur um Kinder die gerne zu Hause mal ihre Ruhe haben versus solche die dauernd von den Eltern rumgescheucht werden. Das erstere mehr krank sind bezweifle ich sehr und deckt sich null mit meinen Alltagsbeobachtungen.
Zudem geht es im Artikel ums „Dauerbespassen“, das dies einen positiven Einfluss aufs Immunsystem hat glaube ich schlicht nicht.
Positiv ist Impfen und das vermeiden von Mangelernährung.
patricia büchel
Die angeregte Diskussion zu meinem Text freut mich. Hier also die gewünschte Klärung. Ich schreibe „Langeweile mit dem Kind aushalten“, also eben nicht sofort etwas tun, sondern warten bis das Kind eine Idee hat. Die Ideen kamen von Isabel, beim Wattebausch braucht es zwei, so spiele ich halt mit. Dann gibt es eben wieder Momente der Unzufriedenheit oder Unruhem die auszuhalten sind, bis die nächste Idee des Kindes kommt.
Danke für die Klärung. Kam im Artikel anders rüber. Aber so – ja, so macht das mehr Sinn.
Danke für den gescheiten Beitrag, ich hoffe, dass sich das ein paar zusätzliche Erwachsene zu Herzen nehmen können. Nieder mit der Eventitis, her mit den unverplanten Sonn- und Ferientagen, in Ruhe zum Tramfenster rausschauen statt aufs Handy stieren, fertig mit dem Optimierungswahn, welchen man an den Kindern in Form von unzähligen Kursen und bezahlten Erlebnissen auslebt, etc, etc.
Was mich etwas irretiert: Dem Kind ist langweilig, und es wird von der Autorin an die Hand genommen (Watte im Bad usw.). Dazu auch: „Wird Langeweile von den Bezugspersonen des Kindes akzeptiert und mit ihm GEMEINSAM ausgehalten, …“. Also wird – überspitzt gesagt – das Kind doch wieder von aussen bespasst? Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich sagte „Mama, mir ist sooo langweilig“, und die Mama mir zwar ein paar Anregungen gab (Mal was, lies was…), ich das alles aber ebenso langweilig fand und wieder zurück ins Zimmer trottelte. Und mir dort dann selbst irgendwas einfiel, was ich machen könnte. Das heisst, ich musste selbst lernen, mit Langeweile umzugehen.
Ja, mit sich sich selbst zu sein muss ein Kind lernen.
Haha, endlich mal ein lehrreicher Beitrag. Wir hatten vor 2 Monaten eine Diskussion mit einem befreundeten Ehepaar, weil von denen die Tochter angerannt kam und jammerte, dass ihr langweilig ist. Schwups bekam es das Ipad mit einem Film zugeschoben. Ich war irritiert und fragte, warum man dem Kind aus der Langeweile nicht so helfe, indem man dem Kind eben dieser Langeweile überlasse und es dazu nötigt, sich von selber daraus zu befreien. Langeweile ist ein beneidenswerter Zustand, den ich schon lange nicht mehr genießen konnte. Unser Sohn hat nur im Urlaub oftmals Langeweile, weil das Umfeld fremd und er viele Spielsachen vermisst. Doch nach ein paar Tagen Vorort und mit einigen Bekanntschaften zu anderen Kids, ist es kein Problem mehr. Toller Bericht, mehr davon.
Danke für den interessanten Text, dem ich voll zustimme. Was ich nicht ganz mit dem Text in Verbindung bringen resp einordnen kann ist die Bildbeschriftung: Viele Eltern denken, gelangweilte Kinder gehören beschäftigt. Ist das nicht gerade das, was Sie, Frau Büchel, auch wenn auf sehr originelle und das Kind fördernde Art und Weise, machen? Das gelangweilte Kind beschäftigen? Es durch einen Anstoss von aussen aus der Langeweile „befreien“?
Mir gefällt beides, das Beispiel von Isabel und das Plädoyer, aber sie scheinen sich, in meinem Verständnis, fast eher zu widersprechen als zu ergänzen. Wie wurde z.B. im erwähnten Beispiel die Langeweile durch die Bezusperson des Kindes akzeptiert und mit ihm gemeinsam ausgehalten? Liebe Frau Büchel, ich freue mich, wenn Sie mir das erklären. Danke.
Ein schöner Text.
Auch wir versuchen, soweit das neben der Schule möglich ist, einfach Leerläufe zu ermöglichen. Und daraus entsteht dann so einiges. Spannend finde ich auch, wie wenig man ein gelangweiltes, maulendes Kind anstupsen muss, bevor es etwas gegen die Langeweile unternimmt. So oft reicht schon die Frage: „Was würdest Du denn gerne machen?“ und schon sprudeln Ideen.
Leerläufe gibts bei uns vor allem in der Schule 🙂 Zu Hause ist Action angesagt, als müssten sie die in der Schule vertrödelte Zeit aufholen (sorry, ich bin etwas böse). Aber die Action ist nicht von uns organisiert.. Wegen Langeweile maulende Kinder sind äusserst selten, aber das liegt sicher auch daran, dass es bei uns unzählige Kinder in der Nachbarschaft hat, wenn unsere mal selber keine Idee haben..
Hat was 😉
Hier gibt es sie, die Leerläufe, sie sind aber kurz. V.a. bei sehr schlechtem Wetter oder mal morgens früh, wenn weniger durcgs-Quartier-streifen angesagt ist. Zur Zeit muss ich eines der Kinder leider verletzungsbedingt ruhighalten. Action ist streng untersagt, draussen darf es nur spazieren gehen. Da kommt eher Langeweile auf, aber sie vergeht auch schnell.
@13: Stimmt, verletzungsbedingte Pausen sind hart das hatten wir auch grad.. aber wie du sagst die Kinder jammern (verständlicherweise) etwas und stellen dich dann auf die Situation ein. Action kann ja auch ein Bastelprojekt sein. Oder sich irgendein neues Thema vornehmen. Ich finde auch die Ideen müssen sie selber haben aber wir sorgen dafür (jedenfalls teilweise) dass sie die Ideen auch umsetzen können. Material, Werkzeug, Bücher, Platz Zeit. Und bei schwierigen Projekten Know-how.
Hmmm, „mir ist langweilig“ heisst soviel wie „ich will jetzt bespasst werden“. Wenn ich jetzt hingehe, und das Kind eben „bespasse“ (Wattebäusche pusten etc.), hat muss das Kind ja die Langeweile nicht selber über die Runde bringen sondern wird, einmal mehr, sofort unterhalten. Weshalb?
Ähm, Sorry, aber dieses Kind musste eben gerade keine Langeweile aushalten! Denn kaum hat sie eingesetzt, wurden auch schon Gegenmassnahmen ergriffen.
Bitte nicht falsch verstehen, ich bin mit der Grundidee total einverstanden; aber dann sollte man sie auch „richtig“ umsetzen… 😉
Eigentlich war ja das Beispiel etwas unglücklich. Ein Kind, dessen Mutter mit einem verletzten Geschwister notfallsmässig zum Arzt musste und darum unerwartet von der Nachbarin betreut wurde, sollte tatsächlich begleitet werden, so wie es beschrieben wurde. Meine Kinder wären da zumindest etwas durch den Wind.
Mit Langweile an sich, die man mal zu Hause selber aushalten und in etwas anderes umwandeln kann, hat das wenig zu tun. Diese darf in einer ruhigen, behüteten Umgebung gut ausgehalten werden. Die Aussage des Textes war aber schon richtig.
Hm. Ist jetzt aber nicht so, dass das Kind seine Langeweile allein aushalten musste, bzw. selber eine Idee entwickelte, sich zu beschäftigen.
Was machen eigentlich die Erwachsenen, wenn sie Langeweile haben? Den Fernseher an? Smartphone in die Hand?
@sportpapi : passiert mir nie ! In einer Stadt mit vielen kulturellen möglichkeiten und am See kann man sich unmöglich langweilen oder ? Und damit gibt es noch Internet !
Ausserdem kann man in der Bibliothek die Zeitungen lesen und Bücher leihen. Und sonst tut auch ein grosser Spaziergang gut an der frischen Luft.
Wie jetzt Langeweile als Erwachsener ? Mein Mann und ich kommen mit all dem garnicht mehr hinter her, was wir in der Freizeit tun können. Mein Mann schraubt an seinem Motorrad, kümmert sich um den Garten, liest ein Buch, spielt Gitarre. Ich kümmere mich um den Garten, stricke, lese, räume den Kleiderschrank aus und überlege, was zum Brocki kann. Gemeinsam überlegen wir, wohin der nächste Urlaub gehen soll und ob wir des Alterswegen mal eine Probefahrt mit einem Ural-Gespann versuchen sollen
Habe ich auch gedacht. Langeweile aushalten heisst nicht, dass sich eine erwachsene Person 1:1 um das gelangweilte Kind kümmert.. Das tönt mir mehr nach ‚Kreativität‘ nach Anleitung von Erwachsenen..
Bei Frauen heißt das Zauberwort shoppen.
Wir reduzieren das Freizeitprogramm unserer Kinder auf ein Minimum. Klar sollen sie in Sport und Musik nach ihren Talenten und Vorlieben gefördert werden, doch das ist mMn auch eine Frage des Alters. Bis so ca. 9-10 j. sollte mMn möglichst viel Freizeit vorhanden sein. Die Belastung in Kiga, Schule und Hort sind anstrengend genug. Meistens ist bei uns am Nachmittag „nichts los“, also spontan Spaziergang, zu Hause bleiben, Einkaufen, Spielen, Kinder treffen, etc… Meine Kinder können hervorragend aus „nichts“ ein tolles Spiel entwickeln, ohne mein Zutun. Andere Kinder mögen unsere Kinder „weil die so gut spielen können“ (!). Ich finde, das ist eines der besten Komplimente, die ich je über meine Kinder gehört habe!
Hm. Wenn die Kinder also im Hort betreut werden, dürfen sie zur Belohnung ihre Passionen in Sport und Musik nicht ausleben?
Stimmt! Das ist wirklich ein tolles Kompliment!
Bei uns gab es keine Sport, Musik, Joga usw, auch keine Nachhilfkurse ! Mein Einzelsohn hatte viel Zeit für sich, las viel und war glücklich heimzukommen um mit dem Hund zu spielen oder hinausgehen. Heute ist er in der Kunst tätig und hat viele Interessen. Langeweile hat er nie gehabt.Kinderhort hat er nur 2 Jahre gekannt und halbtags. Kinder sollen Zeit haben, das ist die Perle des Lebens !
Und wieso dürfen die Kinder keine Sport oder Musikkurse besuchen? Das sind doch einfach zwei verschiedene Paar Schuhe.. Kinder wollen etwas lernen und ihren Horizont erweitern. Das tun sie unter anderem in solchen Kursen. Danach braucht’s Zeit und Freiraum um mit dem Neuerworbenen zu experimentieren und kreativ zu sein.
Langweile ist wichtig und sollte von den Eltern ausgehalten werden – auch wenns nürzt und quengelt. Und genauso wichtig sind freie Nachmittage, an denen sich Kinder spontan entscheiden können, mit anderen Kindern abzumachen, auf dem Velo das Quartier unsicher zu machen oder eben – auch mal eine leere Zeit haben.
Ein toller Bericht, danke :)! Langeweile tut den Kindern gut, sie fördert die Kreativität und regt die Fantasie an. Vielen Kindern wird heute zu viel pfannenfertig vorgesetzt, auch schon das Freizeitprogramm. Darum plädiere ich neben Hobbies wie Sport und/oder Musik mit festem Plan und fixen Zeiten zwingend für unverplante, freie Zeit, wo sich die Kinder mit sich und/oder anderen Kindern beschäftigen “müssen” und das “Programm” selber gestalten müssen bzw dürfen.