Mal Schulkind, mal Kleinkind

Wo sind die vergangenen Jahre hingeflogen? Erstklässlerin am ersten Schultag. Foto: Sabina Bobst

Manchmal steht sie vor dem Spiegel, kämmt sich die Haare und schaut sich dabei selbstvergessen an. Wenn sie sich neben mich stellt, reicht sie mir bereits bis unter den Arm. Meine Grosse. Beim Morgenessen erzählt sie mir von der Entstehung der Welt, von Tutanchamun und den Sternen, die aus Wasserstoff und Helium bestehen, und von den Bäumen, die Sauerstoff zum Atmen produzieren. Ich staune, was Erstklässler alles lernen.

Wenig später weiht sie mich in die Pläne einer Übernachtungsparty ein, die sie mit der Hälfte der Klasse bei uns veranstalten will. Wenn ich einräume, dass sie für gewisse Dinge vielleicht doch noch zu klein ist, wird sie fuchsteufelswild und findet mich die allerletzte Mutter, die es auf dieser Wolke aus Gas und Staub gibt.

Wenn ich sie zur Schule begleite – weil ich denselben Weg habe und zur selben Zeit zur Arbeit muss, nicht, weil sie ihn nicht selbstständig zurücklegen könnte –, lässt sie meine Hand augenblicklich los, wenn ihre Schulkameradinnen am Horizont auftauchen. Anstatt eines Abschiedskusses vor der Schule erhalte ich neuerdings ein kurzes Winken, wenn ich Glück habe. Wenn nicht, rennt sie mit ihren Freundinnen davon und lässt mich einfach stehen.

Dann verharre ich einige Sekunden, um sicher zu sein, dass sie sich nicht doch plötzlich noch einmal kurz umdreht, bevor ich meines Weges gehe. Ich bin stolz, wie gross und selbstständig sie geworden ist. Und trotzdem.

Wahnsinnig gross – unendlich klein

Nur sieben Jahre sind es her, seit dieses winzige Menschenkind auf meinem Unterarm Platz hatte. Wo sind diese sieben Jahre hingeflogen? Mit einer gewissen Sehnsucht erinnere ich mich an vergangene Zeiten und bin doch gleichzeitig froh, dass die zunehmende Selbstständigkeit meiner Tochter auch wieder neue Freiheiten für mich bedeutet.

Doch kaum gewöhne ich mich an diese neue Lebensphase, kommt sie angerannt, jammert und weint, weil sie ohne meine Hilfe unmöglich ihren Pyjama ausziehen, die Zähne putzen oder das Butterbrot streichen und auf gar keinen Fall alleine zur Schule gehen kann. Auf dem Pausenplatz bleibt sie an meinem Jackenzipfel hängen, bis es mir peinlich wird vor all den neugierigen Blicken der anderen Mütter, Väter und Kinder.

Dann brauche ich die Worte, die ich eigentlich nie sagen wollte: «Aber du bist doch schon gross!»

Die Zeit geniessen, die nie wiederkommt

Es ist anstrengend, das Hin und Her der Gefühle in dieser Phase der Wackelzahnpubertät: mal Kleinkind, mal Schulkind, mal Vorpubertierende. Die Phasen wechseln sich fliessend ab, und oft weiss ich nicht genau, welche gerade im Vordergrund steht. Natürlich gebe ich mir die grösste Mühe, die Konstanz zu wahren, die ihr fehlt, aber einfach ist das nicht.

Vor ein paar Tagen, als ich nach ihrem Zubettgehen gerne noch einiges für mich erledigt hätte, wollte sie partout nicht ohne mich einschlafen. Nach langem Gezeter und Geheul ihrerseits und einigem Knurren meinerseits gab ich schliesslich nach. Glücklich kuschelte sie sich an mich, legte ihren Kopf auf meine Schulter und schlief innert Sekunden ein. Lange blieb ich so liegen, lauschte ihrem Atem und sog ihren Kindergeruch ein.

Wie gross und selbstständig das Kind geworden ist. Und trotzdem. Foto: Snapwire (Pexels)

Irgendwann wird es das letzte Mal sein, dass sie in dieser Nähe zu mir einschlafen will. Irgendwann wird auch die Phase der Wackelzahnpubertät vorüber sein und nie mehr wiederkommen. Mit Wehmut werde ich mich daran zurückerinnern, da bin ich mir sicher.

«Mein Baby», flüsterte ich ihr ins Ohr, bevor ich wieder aufstand und meine Dinge erledigte, «mein kleines grosses Baby.»

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20 Kommentare zu «Mal Schulkind, mal Kleinkind»

  • Paolo Martinoni sagt:

    Der Text ist sehr schön geschrieben, finde ich. Ich frage mich allerdings, was er in jemand, der echte Gründe zur Tristesse hat, auszulösen vermag. Ich jedenfalls würde ihn nicht einer Frau zum Lesen geben, die ihre Sehnsucht nach Mutterschaft begraben musste, und schon gar nicht einem Mann, der sein Leben in einem Rollstuhl verbringen muss oder einer Mutter, deren kleine Tochter unheilbar krank ist. Ich meine: Wer mit Glück gesegnet ist, seine Wünsche, Sehnsüchte, Bedürfnisse erfüllen kann, sollte nicht zu laut klagen, wirklich nicht …

  • Sonusfaber sagt:

    Ja, man kann an die Zukunft denken, an das, was früher oder später nicht mehr sein wird, weil die Zeit verfliesst. Man kann sein (im Grunde erfülltes) Leben damit vertrauern, dass man die Trauer, die einen früher oder später so oder so heimsuchen wird, weil etwas Schönes sein Ende gefunden hat, vorwegnimmt – präventiv quasi, um nicht auf dem falschen Fuss erwischt zu werden. Man sieht das Ende vor sich, nur das Ende, das traurige Ende dessen, was heute das Herz erfüllt, dabei vergessend, dass ein Ende Raum schafft für etwas Neues … schade, schade, wirklich schade (auch für die Tochter).

  • Frau takataka sagt:

    Danke für den text – wunderschön beschrieben. Mein grosser ist 9 und befindet sich in ner ähnlichen phase. Es ist etwas vom schönsten, wenn man ein kind begleiten darf und es dann irgendwann loszieht um eigene spuren auf der erde zu hinterlassen.

  • Regina Bischof sagt:

    Ja, wirklich sehr schön geschrieben.

  • Marmotte sagt:

    Sehr schoen geschrieben! Hat mich richtig beruehrt; wurde nostalgisch, musste Traenen trocknen und an meine zwei Kids denken…

  • No Fear sagt:

    Die Zeit, die mir als Vater von der Mutter gestohlen wurde, trotz identischem teilzeitpensum…

  • annetta tamburini sagt:

    Schön geschrieben, danke. Ja, so ist es. Es kommt mit Kinder im Leben immer wieder etwas anderes. Natürlich auch ohne Kinder. Ich (63) bin dankbar auf eine sehr schöne Lebenszeit mit unseren 3 nun grossen „Kinder“ blicken zu können. Am schönsten ist es, dass immer noch alle 3 (nun auch mit Enkel) gerne auf Besuch zu uns nach Hause kommen! Wir Eltern sind immer noch für sie da, wenn sie Hilfe brauchen, und auch sie können uns „Alten“ immer wieder mal gute Tipps geben.

  • Kerstin Moser sagt:

    Danke für diese Zeilen.
    Genauso geht es mir auch. Ich betrachte meine kleinen, besonders wenn sie schlafen oder vor Freude glucksen und denke mir, wenn ich diesen Moment nur in einem Glas festhalten und wenn sie dann gross sind, ein bisschen dran schnuppern könnte.

  • Maike sagt:

    Diese Meilensteine im Leben eines Menschen betreffen alle Beteiligten. Für die Kinder sind es Meilensteine in Richtung Freiheit, Selbstbestimming. Für uns Eltern Meilensteine in Richtung Loslassen und merken, wie die Zeit verrinnt.
    Man sollte versuchen, jede Zeit mit ihnen intensiv zu geniessen – sie kommt nie wieder.
    Meine ‚Kleinen‘ sind jetzt 28 und 30….

  • Reincarnation of XY sagt:

    Gut, wenn man seine Kinder in einer Non-Stop Pubertät erkennt.
    Dann ist man auf dem richtigen Weg.

    Und geniessen und dankbar sein.
    Und nicht vergessen: Es ist ja auch unser Leben.
    Wir sollten jeden Moment geniessen. Den leisen, den lauten, den frohen, den traurigen, den entspannenden und den nervenaufreibenden.
    Wäre ja traurig, wenn wir stets wünschen, dass die Zeit endlich vorübergeht und am Ende uns wünschen, wir könnten die Zeit zurückspulen.

    • tina sagt:

      aber im alltag kriegt man das halt nicht immer hin und das ist auch nicht schlimm.
      meine jungs sind jetzt erwachsen und ich finde, wir haben gerade eine wirklich gute zeit. letztes und vorletztes jahr war für mich recht ernüchternd, weil ich viele vorwürfe zu hören kriegte. aber das hatte damit zutun, dass meine jungs in ein alter kamen, wo sie auf ihre kindheit zurück schauen konnten, erstmals. es lief halt nicht optimal bei uns, aber das konnte ich nunmal nicht ändern, egal wie sehr ich mich engagierte. darüber mussten wir zum teil sprechen, aber zum teil haben sie dann einfach über ein paar monate wieder eine andere perspektive gewonnen und vielleicht auch bereits erkannt, dass ich als mutter ein mensch bin wie sie 😉 und auch mir nicht immer alles perfekt gelingt

  • Diego sagt:

    Frei nach Konfuzius:
    Schöne Momente: Nicht weinen, dass sie vorüber. Lächeln, dass sie gewesen!

  • Brunhild Steiner sagt:

    @Redaktion
    das: „Ihr Kommentar wartet auf die Moderation. Dies ist eine Vorschau, Ihr Kommentar wird sichtbar, nachdem er genehmigt wurde.“
    (15. März 2019 um 08:19 Uhr)

    finde ich sehr erfreulich!!!
    So weiss man woran man ist, merci.

  • Brunhild Steiner sagt:

    „Slipping through my fingers“
    😀
    und ja, sich immer wieder bewusst machen: ich weiss nicht wann es das letzte Mal gewesen sein wird, jedes geöffnete Beziehungsfenster nutzen (oder sich zumindest bewusst machen „das war jetzt so eines, das nächste nicht verpassen“), unsere ist 16 und „Nähe-Distanz“ vermutlich noch länger aktuell, die Nähe geniessen, die Distanz nicht als persönlichen Angriff oder Abwertung empfinden sondern als gute Entwicklung; und Pubertät nicht als Schreckensherrschaft der Hormone ansehen deren Opfer wir armen Eltern sind 😉

    • 13 sagt:

      „und Pubertät nicht als Schreckensherrschaft der Hormone ansehen deren Opfer wir armen Eltern sind “
      Ein wundervoller Satz. Danke dafür. Den sollte man sich öfters vor Augen führen.

      • Maike sagt:

        … und nicht vergessen, das man selber mal ein pubertierender Teenager gewesen ist. Es rächt sich alles im Leben !!

  • Ena sagt:

    Einfach nur wunderbar treffend ge- und beschrieben… Mir kamen die Tränen…

  • Bluebel sagt:

    Genau so geht es mir auch! Der kleine grosse Sohn wird 7. Wehe ich begleite ihn zur Schule oder frage ihn nach dem Tag. Wenn er wütend wird, bin ich die allerdümmste Mami und Türen werden zugeknallt. Wenig später ist alles vergessen und abends will er ohne mich nicht einschlafen. Und das Schnittli am morgen! 🙂 Der Transit von im Jetzt agieren zu (wirklich minimal) mittelfristigerem Denken muss unglaublich anstrengend sein. Und doch unterstützen wir unsere Kinder, damit sie eines Tages selbständig werden und mit Freude an ihre Kindheit zurückdenken können. Viel Erfolg!

  • Gabi Meier sagt:

    Ein sehr schöner Text, danke.

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