Eben war sie doch noch an der Brust

Mamablog

Man freut sich, die Kinder aufwachsen zu sehen, und trauert gleichzeitig den unwiederbringlichen Momenten nach. Foto: iStock

Gerade eben, da sass ich noch in diesem Sessel, in den Armen ein plüschig-weiches Neugeborenes, unser erstes. Wenige Tage alt wars und wollte deutlich gestillt werden. Ich seufzte – keine zwei Stunden seit dem letzten Mal – und legte es an. Anders als es selbst weckte sein Zug beim Trinken so gar keine Assoziationen plüschiger Weichheit, und ich sog vor Schmerz die Luft ein.

Fast zwölf Jahre ist das her. Ich sagte ja: grad eben! Jetzt sitze ich neben diesem Kind am Infoanlass des Oberstufenschulhauses, das es ab Sommer besuchen wird. Aus dem 50-Zentimeter-Menschlein ist eine eineinhalb Meter grosse Jugendliche geworden. Als ein Musterstundenplan an die Leinwand projiziert wird, flüstert sie mir zu: «Mama, ich bleib dann mittags jeden Tag in der Schule.» Obwohl sie nur zweimal wöchentlich eine kurze Mittagspause haben wird und in der Mensa essen müsste.

Freude, Dankbarkeit – und Herzschmerz

«Loslassen beginnt mit der Geburt», hatte man uns damals im Geburtsvorbereitungskurs gesagt. Ich glaubte, ich hätte mich verhört. Dieser kleine Mensch war doch gerade dabei, meinen Körper zu vereinnahmen, bevor er dasselbe mit unserem Leben tun würde. Loslassen schien mir da als Konzept eher unpassend. Vielmehr stellte ich mir vor, wie wir unsere Arme weit ausbreiten, das Kind umarmen, halten, festhalten.

Und doch: Erstmals fiel es mir richtig auf, als unsere Tochter fünf Wochen alt war. Am Telefon mit der Kinderarztpraxis wurde ich nach ihrem Alter gefragt. «Aha, kein Neugeborenes mehr», hiess es da. Nur eine kurze, bitter-süsse Ahnung…

Die Zeit verstrich. Bald war sie keine fünf, aber auch keine sechzehn Wochen mehr, sondern vier Monate alt. Und spätestens, wenn man als Eltern bei der Altersangabe von Monaten auf Viertel-, dann auf Halbjahre wechselt, hat man sie ja intus, diese Ambivalenz: Freude und Dankbarkeit dafür, dass sie gedeihen, auch dafür, dass manche Dinge leichter werden, sind stets vermischt mit etwas Herzschmerz. Weil mit jedem ersten Mal – ersten Zähnen, ersten Schritten, ersten Worten – etwas anderes still und leise zum letzten Mal geschieht, ob sabbern, krabbeln, brabbeln. (Und wann habe ich eigentlich aufgehört, ihr abends vorzulesen?)

Die Jahre sind kurz, aber die Tage lang

Jetzt also Oberstufe. Die Zeit bis hierher fühlt sich rückblickend an, wie es Abba singen: «Slipping through my fingers». Aber wann bleibt schon eine Minute im prallen Leben mit Kindern, um sich über die Flüchtigkeit von Stunden Gedanken zu machen? Zu besetzt der Kopf, vom Turnzeug, das gewaschen werden soll, oder vom Wunsch nach Schlaf nach drei Nächten mit kollektiver Magen-Darm-Grippe.

Die Zeit rinnt einem durch die Finger: «Slipping Through My Fingers» von Abba. Video: Youtube

Denn ja, wohl sind die Jahre kurz, so die gängige Elternweisheit, aber die Tage lang! Und wenn man mittendrin steckt in diesen Tagen voll des Apfelschnitzeschneidens und Steckperlenbügelns, oder auch der wüsten Worte, weil man nicht den gleichen Enthusiasmus für «Fortnite» oder «Germany’s Next Topmodel» aufbringen kann, ja, dann steckt man nun mal mittendrin.

Doch wünschte ich mir, ich spürte die Kürze der Jahre nicht nur in der Rückschau. Es würde einen wohl den Wert auch von so manchen langen Tagen mit Kindern besser erkennen lassen. Vielleicht selbst von jenen, an denen Türen geknallt werden. Sicher aber von jenen, in denen ein unscheinbares kleines Glück in gemeinsam gefertigten Knet-Elefanten liegt. Oder in den überraschend grossen Händen, die auch heute noch hin und wieder nach meinen greifen, nicht nur im übertragenen Sinn. Bei allem Loslassen halte ich sie dann immer sehr gern noch etwas fest.

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8 Kommentare zu «Eben war sie doch noch an der Brust»

  • Nicole sagt:

    Der Artikel ist sehr herzig und wahr geschrieben!
    Auch mit all den Leserbriefen bin ich einig.
    Solch Geschriebenes können nur Eltern verstehen. Als Mutter von 3 fast erwachsenen Kindern durfte ich soeben auf einer Safari viel über das Verhalten von Tieren und ihren Jungen erfahren und beobachten und hej, wir sind gar nicht so verschieden!
    Familie ist, was zählt

  • Carlita sagt:

    Das haben Sie sehr schön geschrieben, ich empfinde es genau so, Glück und Leid liegen nah beieinander. Demut und Wehmut und vorgestern hab ich doch selbst ersz die Hand meiner Mutter losgelassen.

  • Miriam Widmer sagt:

    Wenn wir Glück haben, können wir sie auch mit über 35, wenn sie bereits eine eigene Familie haben, immer noch hin und wieder an uns drücken und mit ihnen auf Augenhöhe Elternerfahrungen austauschen. Eltern-Sein hört erst mit dem Tod auf und hat immer wieder andere, schöne Facetten.

  • Barbara sagt:

    Tränen in den Augen! Ja meine Tage sind lang (Kinder 3 und 1) und gleichzeitig möchte ich die Zeit einfach nur festhalten. In dem allgemeinen Kleinkind-Gewusel-Chaos versuche ich die vielen wunderbaren Momente bewusst zu erleben. Im Wissen, dass alles vergänglich ist…

  • Nick sagt:

    Liebe Eltern und ganz besonders liebe Mütter! Bitte tut euren Kindern einen Gefallen liegt ihnen nicht ständig damit in den Ohren, wie toll das alles doch früher war. Meine Mutter hat mich mit dem Spruch „Ach, war das schön , als du klein warst….“ kombiniert mit „Du warst ja sooo niedlich! “ schier wahnsinnig gemacht. Vor allem in Gegenwart gleichartiger Jungs fand ich das mega-peinlich. Danke!

  • Thomas Abderhalden sagt:

    Es ist nur ein paar Tage her, dass ich jemandem gesagt habe, dass man den Spruch „es geht so schnell“ gar nicht ernst nimmt, wenn die Kinder noch ganz klein sind. Nun wird mein Sohn in ein paar Monaten 18, und es stimmt mich schon ein bisschen wehmütig. Ich kann aber nicht sagen, ich hätte es nicht genossen, so gut es ging. Gerade als Vater ist das nicht selbstverständlich. Es kommt halt noch dazu, dass man heute oft in einem späteren Alter Eltern wird, und sich dann, wenn die Kinder erwachsen werden, bereits die Pensionierung am Horizont langsam andeutet. Bis sie das Haus in der Regel verlassen, ist es dann definitiv bei einigen schon bald so weit, dass sie auch diesen Pensionsumbruch auch noch bewältigen müssen.

  • Maike sagt:

    An den Kindern merkt man, wie die Zeit vergeht. Den Spruch kannte ich schon lange, habe ihn zuerst von meinen Eltern gehört. Dann wurde ich Mutter und weiss noch genau, wie mein Mann und ich abwechselnd mit der Älteren auf dem Arm nachts stundenlang durch die Wohnung gelaufen bin, damit die Kleine schläft. Sie hatte da diesen unsäglichen Kippschalter, der sie bei jeglicher Schräglage weckte…
    Und im September wird sie nun 30 ! DREISSIG !!!! Kinder wie die Zeit vergeht….

  • Claudia Rüegsegger sagt:

    ja, klar – im rückblick geht’s wahnsinnig schnell. aber warum die wehmut? man bleibt ja miteinander unterwegs, kinder sind sie ein Leben lang …. und meine noch-nicht-sehr-lange erwachsenen töchter sind jetzt soviel interessanter und ein anregenderes gegenüber als beim oberschuleintritt – kann man sich freuen drauf. einfach weiterhin im moment bleiben. das is es doch, was sie einen lehren, die kinder.

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