Gebären ist ein bisschen wie sterben
Lange Zeit konnte ich nicht glauben, dass es wirklich Sterbende gibt, die friedlich einschlafen und einfach nicht mehr aufwachen. Kämpft man nicht bis zuletzt um dieses Leben? Mein Grossvater belehrte mich eines Besseren. Seit seinem Tod bin ich überzeugt: Wenn man sehr alt ist, ist man irgendwann bereit zum Sterben. Und seit meiner ersten Geburt weiss ich, dass es am Anfang des Kreislaufes genau gleich ist: Irgendwann ist eine Mutter bereit zum Gebären.
«Es geht nicht mehr lang»
Mein Grossvater hatte grosse Angst vor dem Sterben. Den Glauben an Gott hatte er im Laufe seines Lebens verloren, und deshalb war er der Meinung, nach dem Tod sei einfach nur: nichts. Das waren keine guten Aussichten für ihn.
Lange lebte er gut. Und als es langsam abwärtsging mit seiner Gesundheit, war er zäh. «Ich chumm scho dure», pflegte mein Grossvater zu sagen. Doch der Bluthochdruck machte ihm zu schaffen, er sah und hörte immer schlechter, das Gehen machte ihm Mühe. Irgendwann halfen die Tabletten nicht mehr richtig, das Hörgerät war an seine Grenzen gekommen, mit dem Rollator schaffte er es nicht über die Schwellen. Mein Grossvater konnte die Wohnung nicht mehr verlassen und war auf Hilfe angewiesen. Und er hatte Schmerzen. Dazu war er sehr einsam. Bei jedem Telefonat erzählte er mir, wer jetzt schon wieder gestorben war. Längst waren Kolleginnen und Freunde darunter, die zwanzig Jahre jünger waren als er.
Irgendwann war alles nur noch mühsam. Da war mein Grossvater bereit. Bereit, diese Welt zu verlassen. «Es geht nicht mehr lang», kündigte er mir ein paar Tage vor seinem Tod ganz ruhig an. Er habe sehr friedlich ausgesehen, sagte seine Haushaltshilfe, nachdem sie ihn eines Morgens tot im Bett vorgefunden hatte.
Das Baby musste raus
Auch ich war irgendwann bereit. Bereit, mein erstes Kind auf die Welt zu bringen. Obwohl ich grosse Angst hatte vor dem Gebären. Welche Schmerzen würden mich erwarten? Wie würde ich damit umgehen? Was, wenn das Kind einfach nicht rauskäme? Würde es gesund sein? Würde ich das alles schaffen? Obwohl ich mich mit dem medizinischen Ablauf von Geburten befasst hatte, konnte ich mir nicht recht vorstellen, wie das in der Realität klappen sollte.
Nach 40 Wochen Schwangerschaft war mein Bauch riesig. Die Haut darüber war so stark gespannt, dass ich fürchtete, sie würde aufreissen. Und sie juckte fürchterlich. Die leidigen Stützstrümpfe konnte ich kaum mehr ohne fremde Hilfe anziehen. Nachts wälzte ich mich schlaflos im Bett. Essen konnte ich nur noch Miniportionen, sonst bekam ich Sodbrennen. Beim Gehen wackelte ich wie ein Nilpferd von einer Seite zur anderen und kam rasch ausser Atem.
Irgendwann war alles nur noch mühsam. Und ich war bereit, auf der Stelle ins Spital zu fahren und dieses Kind zu gebären! Keine Stunde mochte ich mehr warten. Plötzlich war da diese Ruhe, diese Zuversicht.
Es gab keine Alternative: Das Baby musste raus. Irgendwann geht es nicht mehr anders. Am Anfang des Lebens. Und an seinem Ende.
Weitere interessante Postings zum Thema:
18 Kommentare zu «Gebären ist ein bisschen wie sterben»
Nach wie vor empfinde ich den Vergleich sehr unglücklich, zumal, es werden ja gar nicht beide Prozesse verglichen!
Sondern die Bereitschaft zur Geburt, mit dem Sterben als Vorgang samt Ende.
Im ersten Fall können alle Beteiligten im Nachhinein evaluieren,
im zweiten fehlt die Hauptperson.
Das hinkt also gleich auf mehreren Ebenen.
Eine Geburt bringt, wenn alles glücklich verläuft, eine unglaubliche Bereicherung ins Leben.
Der Tod, auch wenn in höherem Alter unter einigermassen friedlichen Umständen, ein grosser Verlust.
Das dem-Körper-ausgeliefert-sein erlebt jeder mit einer echten Grippe, über dem Waschbecken/Klo hängend.
Es ist müssig die zwei Prozesse Geburt und Sterben eins zu eins zu vergleichen. Es geht um die mögliche kurzzeitige Erfahrung von Transzendenz während des Prozesses des Gebärens. Ich habe es selbst erlebt, es ist aber schwierig in Worte zu fassen. Etwas, das alle normale Sinneswahrnehmung übersteigt. Losgelöst von allem und trotzdem in einer unendlich empfundenen Geborgenheit. Mein einziger Gedanke war, es könnte jetzt sein, dass ich sterbe. Darum möchte ich auch auf den Titel des Artikels hinweisen: Gebären ist ein b i s s c h e n wie sterben.
Genau deshalb ist es ja auch so unglücklich, es kann eine sehr einschneidende Grenzerfahrung sein und diese kurzzeitige Erfahrung von Transzendenz braucht keinerlei „Aufhänger“ oder „Andockvergleiche“, dafür ist sie zu speziell.
Sie würde durchaus auch viel mehr Zeilen verdienen, das Ja zur Bereitschaft ist ja erst der Beginn.
Beim Titel bin ich nach wie vor der Meinung dass er unnötig verletzen kann, denn nicht alle überstehen eine Geburt komplikationslos, wie ja auch Wortmeldungen hier zeigen.
Ihre Schilderung Ihres Geburtserlebnisses ist unhintergehbar – und eben deshalb nicht für Analogien geeignet. Wie BS schreibt, ist die Geburt evaluierbar, das Sterben definitiv nicht. Gerade weil wir manche Widerfahrnisse extrem intensiv erleben und so wiedergeben, ist Vorsicht mit Vergleichen angebracht: wir berichten über Phänomene, die naturgemäss extrem subjektiv und kontextabhängig sind – der einen Freud‘, der andern Leid! Können wir uns Kriterien denken, nach welchen wir wiedergeben und vergleichen wollen?
Als ich ins Zimmer kam, er seine letzten Atemzüge machte & sich dann von dieser Welt verabschiedete. -In dem Moment wich der Kampf & die Anstrengung einer unglaublichen Ruhe, Entspannung und Zufriedenheit.
Und mein Gedanke war: „Geboren werden & Sterben haben eine sehr ähnliche Energie & viel gemeinsam, obwohl es auf der anderen Seite des Lebens statt findet.
Man bedenke auch, dass jede Geburt einzigartig ist, unterschiedlich verläuft -ein Prozess ist, ein Weg, genau wie das Sterben auch.
Nicht alle sind bereit schon Geboren zu werden, nicht alle sind bereit die Welt schon zu verlassen & manchmal fallen Geburt & Tod zusammen:( -was besonders traurig & betroffen macht.
Aber die Energie in dem einen Moment, wo die Anstrengung weicht, ist für mich vergleichbar.
Die „Bereitschaft“ hat nur begrenzt mit dem automatischen Eintreten von Sterbe- oder Geburtsprozessen zu tun! Analogiebildend bei den von der Autorin genannten Ereignisse ist einzig ein als unerträglich empfundener vorangegangener Zustand. Konsequent können so nicht nur Sterbe- und Gebärbereitschaft enggeführt werden, sondern auch wesentlich profanere körperliche Unausweichlichkeiten. Deshalb kratze ich ein weiteres Mal nach der Lektüre eines Blogbeitrags ratlos den Kopf….
Ich finde diesen Bericht sehr, sehr schön – und den Vergleich sehr, sehr passend! Vielen herzlichen Dank!
Dem kann ich nur voll und ganz auch zustimmen. Sehr schöner und tiefer Artikel.
Der Titel ist inakzeptabel gesetzt in Relation zum brisanten Thema. Oder wollte man ‚le petit mort‘ damit ausdeutschen? Eine Geburt ist die erste Grenzerfahrung knapp 10 Monate danach …
Ich habe eine Sterbebegleitung gewagt beim krebskranken Ehemann einer guten Freundin, weil sie nur meine Unterstützung wünschte. So kam ich in eindrücklichste Situationen an mehreren Tagen am Sterbebett in einem abgeschirmten Spitalzimmer. Ich nahm eine weisse Kerze mit und ein Gedichtband im Wissen, dass ein paar Zeilen ihm ein bisschen Linderung geben könnten. Sein Stöhnen unter Schmerzen hallt noch nach und meine zitternde Stimme während des Lesens im Augenblick des nahenden Todes. Das leise Züngeln der Flamme der entzündeten Kerze reicherte ich mit Weihrauch an und das verströmte Trost.
Wie ging es denn aus mit der Geburt? War es genau so friedlich wie beim sterbenden Grossvater oder wie kommt man auf diesen Vergleich?
2/
Auch hätte ich mir hier mehr Sensibilät bei der Titelgebung (das geht nicht an die Schreibende) gewünscht; die Fangemeinde dieses Gefässes ist doch genug gross dass kein Schaden entstehen wird wenn die Klickzahlen, mangels aufmerksamkeitsheischendem-knalleffekt-Titel, mal ein bisschen reduzierter ausfallen.
Eine Geburt kann eine einschneidende Grenzerfahrung sein, aber „wie sterben“ im Titel, wird all denjenigen welche mit schlimmsten Komplikationen konfrontiert worden sind, nur einen weiteren Stich versetzen; das ist es doch wirklich nicht wert!!!
Kann mich @asouka und @13 nur anschliessen,
sehr unglücklich verfasst.
Innere Bereitschaft zur Geburt und innere Bereitschaft zum endgültigen Gehen, insbesondere wenn „lebenssatt“, lässt sich schwer vergleichen,
insbesondere die Gebärbereitschaft noch gar nichts über einen glücklichen Ausgang sagt.
Sehr schöner Artikel. Und als jemand, der sowohl während des Sterbens einer nahen Person durch Herzinfarkt als auch bei einer Geburt anwesend war, kann ich bestätigen: es gibt Ähnlichkeit, und sie besteht in der Unausweichlichkeit, mit der der Prozess sich durchsetzt und sich den Körper zu eigen macht.
Der Artikel beschreibt genau das, was ich vor 36 Jahren bei der ersten Geburt erlebt hatte. Der Gedanke der Unausweichlichkeit, mit der der Prozess sich durchsetzt und sich den Körper zu eigen macht (siehe oben) hatte ich schon in der Schwangerschaft, u. ich war schon etwas überrascht über meine innere Erkenntnis, dass Gebären und Sterben nahe beieinander liegen. Wunderbar die grosse Ruhe und Zuversicht die einem unmittelbar vor der Geburt geschenkt wird. Bei der letzten Phase der Geburt überkam mich eine tiefe Grenzerfahrung von Beginn und Ende. Ich fühlte mich in unendlicher Ruhe aufgefangen trotz meines Gedankens: Entweder kommt das Kind oder ich sterbe. (Steisslage des Kindes.) Doch auch bei normalen Geburten gibt es sicherlich solche Grenzerfahrungen u. ich wehre mich gegen Abwertung
Welch abrupter Themenwechsel mitten im Artikel. Irgendwie gesucht die Analogie…
Ein sehr, sehr merkwürdiger Vergleich. Und umso merkwürdiger wenn ich an zwei wundervolle Frauen in unserer Familie denke, bei denen ganz unerwartet die Geburt ihres Kindes zu ihrem Todestag wurde, zu dem sie ganz sicher noch nicht bereit waren. Wie kommt man nur auf so etwas?
Lesen sie ihn nochmals mit Kinderaugen, ohne Vorurteile, ohne Vorwissen – verfasst ist dieser Bericht von einem feinfühligen Menschen, finde ich!
Warum? Es ist ja kein Kinderbuch, sondern ein Text für Erwachsene.
Er beschäftigte mich gestern noch ziemlich. Neben dem Erwähnten gibt es auch andere Gründe, dass ich den Kopf schüttelte. Gleich dreimal traf es uns, dass der Tod eines sehr geliebten Menschen mit der Geburt unserer Kinder zusammenfiel (wenige Tage davor oder danach). Das ist nicht leicht zu ertragen, wenn Freude und Schmerz so nach beieinander liegen. Nie käme ich da zum Schluss, ähnliches erlebt zu haben, wie die Sterbenden. Und soll das ein Trost sein, dass der gerade Verstorbene gerade etwas so kraftvolles wie eine Geburt erlebt hat? Ich halte den Text nicht für feinfühlig geschrieben, sondern eher ungenügend überlegt. Aber gerade um diese Zeit, wo geliebte Menschen besonders fehlen, ist er sehr fragwürdig.