Der wahre Held meiner Geschichten

In allen wichtigen und unwichtigen Momenten war und ist sie da: Eine Mutter mit ihrer Tochter. Foto: Getty Images

Mein Vater war immer wieder Held meiner Geschichten. Ich schrieb über ihn in meinen Kolumnen und Essays, nun erscheint ein ganzes Buch, das ihm gewidmet ist. «Eine Frage der Zeit» handelt von Fragen, die er nicht mehr beantworten konnte, weil er so früh gestorben ist. Dass er so oft in meinen Texten vorkommt, hat er verdient: Er war ein grossartiger Vater, entspannt und humorvoll, der ruhende Pol der Familie. Er war emanzipiert und modern. Er arbeitete nur Teilzeit und war Hausmann – in den 90er-Jahren war das sehr aussergewöhnlich –, damit er oft bei uns Kindern sein konnte. Jeden Abend las er uns Geschichten vor. Er brachte mir das Velofahren und das Kochen bei, und wenn ich eine Frage hatte, ging ich zu ihm. Mein Vater wusste alles. Alles.

Fragen an die Welt: Das Cover von Yvonne Eisenrings neuem Buch «Eine Frage der Zeit». Foto: PD

Über meine Mutter schreibe ich praktisch nicht. Und wenn doch, erzähle ich, dass sie fünfmal anruft, wenn ich nicht gleich rangehe, weil sie befürchtet, dass ich «tot im Strassengraben liege». Oder dass sie ungefragt meine Gewürz- und Teesorten sortiert und meine Heizung rauf- oder runterstellt, weil sie natürlich weiss, welche die «richtige» Temperatur ist. Ich berichte von ihren fragwürdigen Kochkünsten und den Weihnachtsguetsli, die nach nichts schmecken, was sie energisch dementiert. (Und später erklärt, sie habe sie dänk ohne Zucker gemacht, sei gesünder.) Ich schreibe von den ausgeschnittenen Zeitungsartikeln, die sie mir regelmässig mitbringt, weil mich diese «ganz sicher interessieren», oder von den SMS, die ich bekomme, wenn ich nach einem langen Flug nicht sofort ein Lebenszeichen schicke: «Halloooo? Was isch passiert? Säg em Pilot, er söll lande!»

Es ist einfach, jemanden zu verehren, der nicht mehr da ist. Und es ist einfach, sich über jemanden aufzuregen, der immer da ist. Man merkt oft erst, was man hat, wenn man es nicht mehr hat. Als mein Vater noch lebte, war mir nicht wirklich bewusst, was für ein Glück ich mit ihm hatte. Ich habe es ihm bestimmt auch viel zu selten gesagt. Ich war noch klein.

Aber jetzt bin ich nicht mehr klein. Ich weiss, was für ein Glück ich habe. Ich weiss, wem meine tiefe Bewunderung und grosse Dankbarkeit gehört.

Sie hat mir Streiten und Verzeihen beigebracht

Es war meine Mutter, die zwei Mädchen grossziehen und gleichzeitig mit dem Verlust ihres Partners umgehen musste. Sie hat mich getröstet, obwohl sie ebenfalls Trost brauchte. Sie war es, die den Haushalt führen und daneben Geld verdienen musste. Es war meine Mutter, die mit mir den Tod so oft diskutierte, bis ich verstanden oder das Nichtverstehen akzeptiert habe. Sie hielt mich in Teenagerjahren aus und stritt mit mir über Ausgehzeiten während Prüfungsphasen. Meine Mutter hat mich bei allen Ideen und Plänen beraten und unterstützt. Sie war und ist es, die meine Erfolge feiert und bei Misserfolgen mitleidet. Die all meine Texte gegenliest, jede TV-Reportage schaut und mir differenziert Kritik und grosszügig Lob gibt.

Meine Mutter steht bei jeder Grippe vor der Tür und holt mich nach langen Reisen vom Flughafen ab. Sie hat mir Streiten und Verzeihen beigebracht und mich gelehrt, wann es wichtig ist, durchzuhalten, wann es sich lohnt, zu kämpfen, und wann man loslassen soll. Es ist meine Mutter, die in allen wichtigen und unwichtigen Momenten da war und da ist.

Der wahre Held meiner Geschichten ist sie.

An ihrem neuen Buch «Eine Frage der Zeit» hat die Schweizer Bestsellerautorin Yvonne Eisenring 17 Jahre lang geschrieben – ohne zu wissen, dass daraus einmal ein Buch wird. Nach dem Tod ihres Vaters hat sie angefangen, Fragen zu notieren. Fragen an die Welt. Fragen an sich selbst. Fragen, die sie mit ihrem Vater hätte diskutieren wollen, aber nicht mehr konnte. Bestellen kann man es unter www.flv-kollektiv.com

Zur Videoserie «Wie geht Leben?» von Yvonne Eisenring.

20 Kommentare zu «Der wahre Held meiner Geschichten»

  • Gabriel sagt:

    ohje, Weihnachten mit all seinen Gefühlsduseleien steht wieder an.

    • Johann Kurt sagt:

      An „Gabriel“ Mich friert es richtig bei so viel Gefühlskälte. Der Text von Frau Eisenring ist einfach nur schön..!!

  • Hitch sagt:

    toller text, vielen dank!
    gerne mehr….

  • Laura Fehlmann sagt:

    Wie schön, und wie berührend! Wie sehr wünschte ich mir, dass meine Tochter so über mich schreiben würde.

  • asouka sagt:

    Ein toller Text!!! Ehrlich und berührend! Ich gratuliere Ihnen dazu!

  • Lina sagt:

    Ich gehöre zu den Regretting-Motherhood-Müttern. Ich würde diesen Job, könnte ich die Zeit zurückdrehen, kein zweites Mal mehr machen. Mit zu viel Negativem war er assoziiert, mit zu viel Geringschätzung, mit zu viel Verzicht. Oft kam ich mir vor wie der letzte Abfalleimer in der Familie, in den man den ganzen übrig gebliebenen Rest noch stopfen kann, wenn das was Spass macht, bereits von anderen gepachtet worden ist. Am Anfang des Textes war ich wütend und fühlte mich blossgestellt, gegen Ende musste ich weinen.

    • Brunhild Steiner sagt:

      @Lina
      wir können die Zeit nicht zurückdrehen, wir können bloss im Jetzt für unsere Veränderungen sorgen. Wer weiss schon ob es kinderfrei so ganz „unregretting“- möglicherweise auf was anderes bezogen- gelaufen wäre.
      Ob sich nicht in anderer Konstellation Geringschätzung/Verzicht/Abfalleimergefühl entwickelt hätte?
      Bei Fehlentscheidungen&Schicksalschlägen verlieren wir nicht jeglichen Handlungsspielraum.
      „Könnte ich die Zeit zurückdrehen, kein zweites mal mehr würde ich das machen“ frisst nur kostbare Energie weg und blockiert vor allem uns selber.

  • ama sagt:

    Wunderschön geschrieben. Hat mich sehr berührt.

  • Vreni Müller sagt:

    Wunderschöner Text und hat mich zu Tränen gerührt, da ich auch meinen Vater viel zu früh verloren habe. Ein Verlust der nie vergessen geht, einem wenigstens aber lehrt, das Leben zu geniessen und sich Zeit für seine Liebsten zu nehmen.

  • 13 sagt:

    Ein sehr schöner Text. Und es ist richtig, Dinge und Personen, die einfach da sind, schätzt man oft zu wenig. Man empfindet sie schnell als selbstverständlich. Ist gut, mal innezuhalten und auch für diese dankbar zu sein und nicht nur zu glorifizieren, was nicht mehr da ist oder vielleicht auch gar nie da war.

  • Anne sagt:

    Wie alle Ihre Texte, Frau Eisenring, ist auch dieser hier ein Meisterwerk. Und ist das Ying im Yang Ihres Vaters – der fehlende Punkt, um die Ehre ihres Vaters ins richtige Licht zu rücken. Ihre Mutter hat es verdient. Danke und machen Sie weiter so, ich freue mich auf nächste Einblicke in ihre Gedankenwelt.

  • tina sagt:

    jetzt hätte ich fast geflennt bei der arbeit :).
    ein wirklich schöner text. das idealisieren von elternteilen, die nicht ständig verfügbar sind, und die einem nicht erzieherisch und mit ihrer fürsorglichkeit und umsicht aus lebenserfahrung auf die nerven gehen, ist wohl ein naturgesetz. muss wohl so sein, sonst gäbe es da ein vakuum. ich weiss, dass ich eine nervensäge bin, aber dass ich es bin, zeigt, dass ich etwas richtig gemacht habe ;-).

  • Maike sagt:

    Also war bei mir ähnlich, die Mutter war für das seelische Wohlbefinden zuständig, und hatten den unschlagbaren Vorteil, sich als erfahrene Frau in eine junge Frau hineinversetzen zu können. Mein Vater war für das weltliche Wohlbefinden zuständig. Nie werde ich seinen Ratschlag vergessen, als ich, noch klein, immer von einem anderen Mädchen von der Schaukel geschubbst wurde. Er gab mir den Rat, doch mal kräftig zurückzuschubbsen. Gesagt – getan – danach war die Situation geklärt. Hat mir, abgewandelt für andere Situationen, sehr geholfen. So waren meine Eltern beide Helden, jeder für sich und keiner besonders.

  • Jan Holler sagt:

    Ein kurzer Text nur, aber mit so vielen Aussagen. Sie können sich wirklich gut ausdrücken, Frau Eisenring. Macht Lust auf mehr. Danke.

  • Barbara sagt:

    Wenn sie alle Texte gegenliest, wird sie wohl mehr als eine Träne bei diesem Text vergossen haben. Wunderschön geschrieben!

  • Reincarnation of XY sagt:

    Sie haben grosses Glück gehabt, solche Eltern zu haben.
    Und Sie sind ein Beweis, dass sich Liebe bezahlt macht.
    Danke für Ihren Beitrag.

  • Julia Berger sagt:

    So ehrlich und wunderschön.
    Musste weinen. Danke.

  • Marie sagt:

    Es gibt einen sehr richtigen Spruch der sagt „Nur wenn der Baum gefallen ist sieht man endlich seine wirkliche Grösse“. Aber man kann auch im Gegenteil aufschnaufen wenn jemand in den Himmel geht nachdem er oder sie hier unten viel auf die Nerven gab. Mit Distanz sieht man einfach die Dinge richtiger.
    Auch mir ging die Mutter sehr auf die Nerven, hingegen der Vater hätte eine liebe und herzliche Frau verdient. Es sind so Ehepaare die schwierig sind für die kinder. Andere finden es toll dass die trotzdem 50 Jahre miteinander verheiratet blieben. Ich nicht. Ich hätte mir sehr gewünscht meinen Vater, einen intelligenten und humorvollen Mann, hätte eine neue und liebe Frau gefunden. Ich meine : bleibt nicht mit jemanden der nicht gut für die Kinder und den Partner ist.

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