Behinderung beginnt im Kopf
«Hat das Kind etwas am Bein?», fragt die Dame vor der Apotheke genau in dem Moment, als das Kind an meiner Hand stolpert, einen Vorwärtssalto macht, auf dem Rücken landet und mörderisch schreit. Das Geschrei verunmöglicht zum Glück ein Gespräch, und ich konzentriere mich lieber darauf, meine Tochter zu trösten.
Ich bin sowieso unschlüssig, was ich antworten soll. Eigentlich meint es die Dame nur gut, aber man wird hypersensibel mit einem Kind mit Einschränkungen. Es kommt, wie befürchtet, die fremde Dame will wissen, ob das Kind eine Behinderung hat. Hat es die? Nein, diesen Ausdruck gebrauche ich für meine Tochter nicht. «Labels are for jars», wie es im Englischen heisst: Etiketten gehören auf Einmachgläser, nicht auf Menschen.
All die düsteren Prognosen
Aber ich will nicht zickig sein. Ich gebe zu, dass ich es bis anhin auch nicht besser wusste. Muss ich wirklich «mit speziellen Bedürfnissen», «Einschränkung» oder «Beeinträchtigung» sagen? Ich muss nicht, aber nun, da ich indirekt betroffen bin, ist mir die präzise Wortwahl enorm wichtig.
Ebenso wichtig wie die Wortwahl war es mir von Geburt meiner Tochter an, den Blick nicht auf ihre Defizite, sondern auf ihre Ressourcen zu lenken. Ich war immer davon überzeugt, dass sie sich nur mit einer leichten Einschränkung würde abfinden müssen, doch beweisen konnte ich es nicht. Alle paar Monate zeigten mir Fachpersonen, wie stark sie der normalen Entwicklung hinterherhinkte. Äusserte ich meinen Optimismus angesichts ihrer stetigen Fortschritte, erhielt ich mitleidige Blicke und düstere Prognosen: Wollte sie wie so manch anderes Kind nicht mit nackten Füssen im Gras stehen, wurden ihr Sensibilitätsstörungen unterstellt. Ging sie offen auf Fremde zu, stand sofort die Frage nach einem Nähe-Distanz-Problem im Raum.
Bemerkungen wie «Vielleicht wird sie nie laufen oder sprechen» oder «Heute gibt es gute integrative Schulmodelle» machten mich immer wieder von neuem sprachlos. Meine Tochter war damals erst ein paar Monate alt; konnte ich nicht einfach meine Hoffnung behalten? Wenn es denn so wäre, wie prophezeit, würde ich mich zum gegebenen Zeitpunkt damit abfinden, aber sicher nicht früher als nötig.
Tränen des Stolzes
Ich sollte recht behalten mit meinem unerschütterlichen Optimismus. Die leichte motorische Einschränkung meiner Tochter hält sie heute nicht von Freizeitaktivitäten ab, die alle Kinder ihres Alters ausüben: Rennen, Klettern, Fahrradfahren, Schlittschuhlaufen und vieles mehr. Einfach ist dies nicht für sie, denn sie braucht viel Übung und Geduld, bis sie etwas kann. Daran hindern lässt sie sich trotzdem nicht. Im Frühling beharrte sie darauf, den Bären Grand Prix von Bern zu rennen, weil ihre Freundin daran teilnahm. Trotz allem Optimismus sah ich dem Unterfangen skeptisch entgegen. Würde sie es schaffen? Was, wenn sie – wie so oft – stolperte und hinfiel?
«Wir rennen langsam, und ich halte dich an der Hand», sagte ich. Dann fiel der Startschuss, sie riss sich von mir los und rannte davon. Nur mit Mühe konnte ich ihrem Tempo standhalten und keuchte hinter ihr her. Im Ziel blinkte meine Running-App auf: «Glückwunsch! Ihre neue Bestzeit für eine Meile!» Mit einem breiten Grinsen im Gesicht stand das Kind vor mir, dem man vor kurzem nicht einmal das Laufen zugetraut hatte. Voller Stolz und Dankbarkeit verdrückte ich ein paar Tränen.
Warum ich diese Geschichte teile? Weil am Samstag Welttag der Infantilen Cerebralparese ist, und weil ich hoffe, dass irgendwo, in diesem Augenblick, ein Mensch dies liest, sein spezielles Baby dabei anlächelt und allen düsteren Prognosen zum Trotz an der Hoffnung festhält. Es lohnt sich.
Schweizerische Stiftung für das Cerebral gelähmte Kind, Konto 80-48-4
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52 Kommentare zu «Behinderung beginnt im Kopf»
Ich bin behindert! Vor 23 Jahren wurde ich von einem Autobahnraser zusammengekarrt und erlitt eine Hirnverletzung. Die Behinderung kann man mir nicht ansehen. Im Alltag muss ich absolut verständlich erklären, was meine Grenzen sind, mit präzisen Instruktionen Hilfe anzufordern.
Ich habe immer die Helfer gefunden, die ich brauchte. Weil sie meine Behinderungen nicht sehen, sind sie auf meine unbedingte Ehrlichkeit angewiesen. Die treuen Helfer, Freunde, medizinischen Profi hätten sich für mich nicht eingesetzt, wenn sie nur den leisesten Verdacht von Missbrauch und Ver.schung gehabt hätten.
Ich habe NULL VERSTÄNDNIS für Wortklaubereien. Mit Schönschwätz schafft man eine Behinderung nicht aus der Welt. Nur wenige Menschen können damit umgehen, wenn einer kompromisslos ehrlich ist.
Ich weiß wieviel dieses Glück wert ist. Meine Tochter ist 5 und läuft seit 4 Monaten . Es sieht ungeschickt und wackelig aus, sie stolpert und fällt hin aber sie kämpft und ist ein glückliches Kind. Was scheren mich andere mit ihren Problemchen….danke für diesen sehr schönen Artikel.
Dieser Artikel spricht uns aus dem Herzen, es könnte der Name unseres Sohnes sein.. vielen Dank
Das Problem ist ja nicht das Kind, sondern die Gesellschaft und der Wortgebrauch „Behinderung“ der einen negativen Touch hat. Das müsste nicht sein, aber bei vielen Begriffen hat man verlernt, dass dahinter lediglich eine teilweise Beeinträchtigung der Person besteht, und nicht alles an der Person einschränkt. Viele Menschen auf der Strasse sind durch ihre asoziale und empathielose Einstellung viel schlimmer behindert, aber oftmals nicht offensichtlich.
Das Schlimmste ist doch, dass wenn mn ein Kind mit speziellen Bedürfnissen hat, dass man überall behindert wird und um Dinge kämpfen muss, welche eine Selbstverständlichkeit sein sollten. IV und Haftpflichtversicherungen betrachten Behinderungen vor Allem als Kostenfaktor und sie würden es bevorzugen, wenn die betroffenen Personen tot wären.
Ich kämpfe gerade wieder einmal mit der Haftpflichtversicherung des Unfallverurdachers, um die Übernahme von Kosten für schulische Massnahmen bei meinem Sohn. Ich bin es so müde.
Das tut mir sehr leid, und ich staune einfach nur wie Sie trotz jahrelangem hinnehmen-müssen von schwerster Ungerechtigkeit immer noch dranbleiben und einen positiven Eindruck vermitteln; jedenfalls nehme ich Sie, über die Jahre hinweg, hier so wahr. Einfach einmal mehr: weiterhin ganz viel Kraft!!!
Vielen lieben Dank, liebe Brunhild, aber ich bin am Ende meiner Kräfte.
Manchmal weiss ich nicht mehr ein, noch aus. Mein ganzes Leben ist geprägt von Kampf, immer wiederkehrenden Depressionen und Weinkrämpfen. In Gegenwart meiner Kinder und Ehemann beherrsche ich mich, aber es ist erschöpfend.
Wies mommentan aussieht bleibe ich auf den monatlichen Kosten von über 600.- sitzen und das über ein oder zwei Jahre. Keine Ahnung, wie ich das schaffen soll.
Ich bin da keine Fachfrau, aber könnte mir vorstellen dass es schon noch Möglichkeiten gibt, das Problem ist bloss wie man sie findet. Ich denke an Stiftungen welche teilw Kosten übernehmen, und Unterstützungsangebote im begleitenden Sinn.
Manchmal zahlt es sich nicht aus, wenn man versucht alles alleine zu stemmen und „nicht von amtlichen Stellen abhängig werden will“, Sie gehören mit Sicherheit nicht zu jenen welche das System ausnützen; sondern zu jenen welche auf umfassende Hilfe Anspruch hätten!
Da dürfen Sie beim Hausarzt ruhig mal mit Nachdruck erweiterte Hilfe fordern, hilft niemandem wenn Sie zusammenbrechen (und es dann plötzlich x Möglichkeiten gibt- weil man nämlich keine Wahl mehr hat…). Besser noch selber die Dinge aufgleisen. Viel Glück!!!
Vielen lieben Dank liebe Brunhilde
Nächste Woche kommt der Anwalt meines Sohnes, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Ev Klage oder Stiftungen anbetteln. Es ist mir so zuwider. Die Schule ist darüber informiert und wird mich vorläufig auch nicht anmahnen.
Mein Ehemann hilft mir so gut er kann, aber infolge der Trockenheit haben wir hohe betriebliche von Einbussen zu verzeichnen.
Als Mutter eines Sohnes mit einigen Besonderheiten habe ich keine Problem mit dem Wort Behinderung. Mein Sohn wird durch seine Eigenheiten in vielen Situationen daran ge-hindert etwas zu tun. Probleme hat man mit diesem Wort wohl nur wenn man damit eine Wertung verbindet. Sollte eine solche mitschwingen reagiere auch ich. Ansonsten, man kann auch Tüpflischiisse. Dazu fehlt mir schlicht die Zeit.
Offenes Ansprechen schätze ich persönlich mehr als Mutmassungen und Urteile hinter dem Rücken. Ein „brauchst du Hilfe“ kann den Tag retten.
Optimismus und Ressourcenorientierung sind ein Muss. Sich dennoch im klaren sein, dass die Realität weniger rosig sein könnte als die Wünsche aber auch.
Mehr Beiträge über Familien mit solchen Herausforderungen täten gut und darf es öfter geben.
Absolut einverstanden mit all Ihren Voten. Herzlichen Dank!
Klar freut es mich aber was mich bisschen stört ist ihre Aussage das es sie stört die Ausdrücke Behinderung zu sagen klar jedem wie er meint aber im gegensatz zu ihrer Tochter ist meine wirklich schwerbehindert da gibt es einfach keine Umschreibung. Den Amy wird nie alleine sitzen oder geschweige spielen können . Bei ihrer Tochter kann man es vielleicht noch umschreiben bei meiner leider nicht
@Karin Hofmann
„…nun, da ich indirekt betroffen bin, ist mir die präzise Wortwahl enorm wichtig.“
Ganz offensichtlich hatten Sie aber kein Problem damit das Wort ‚Behinderung‘ für einen reisserischen Titel ihres Artikels zu verwenden. Schade, denn: Was von anderen eingefordert wird, sollte halt schon selbst auch vorgelebt werden.
Der Titel stammt nicht von der Autorin, sondern von der Redaktion. / gb
Lieber Röschu
Die Sprache ist wichtig, das heisst aber nicht, dass das eine Wort richtig und das andere falsch ist. Wichtiger ist, wie man es einsetzt. Der Titel bezieht sich darauf, wie man selbst Behinderung versteht und erlebt. Liebe Grüsse
Für die Autorin freue ich mich natürlich sehr über die Erfolge der Tochter. Habe im Bekanntenkreis allerdings gerade das andere Ende der Skala vor Augen, und hier nützt aller Optimismus überhaupt nichts. Selbst die moderatesten Prognosen werden nicht erreicht, und die Eltern leiden sehr unter der Situation. Der Sohn lebt mit riesigen Einschränkungen, allem Zweckoptimismus zum Trotz. Das gibt es eben leider auch. Man kann sich die Welt nicht schöndenken oder -wünschen, und das ist sehr bitter für die Eltern.
Ich denke es ist mit anderen gesundheitlichen Themen vergleichbar: Wer den Krebs besiegt oder Kinderwunsch mit einem Kind krönt, hat dies (angeblich) mit der richtigen Einstellung unterstützt. Was ist mit denen, die es nicht schaffen? Hatten die die falsche Einstellung?
Gute und wichtige Anmerkungen, Frau Peeterbach. Oder wie Sie es weiter unter schön formulierten:
„Unter dem Strich würde ich aber als Arzt lieber bei der statistischen Mitte bleiben, und den Optimismus der Familie überlassen.“
Trotzdem soll man nie den Optimismus nehmen, selbst wenn es wenig Grund dafür gibt. Was aber nicht richtig wäre: sich selber zu überhöhen nur weil man Glück im Unglück hatte.
1/Wir haben auch eine Tochter mit mehreren gesundheitlichen Defiziten. Von Aerzteseite her wurden eigentlich nie irgendwelche Prognosen abgegeben, ebengerade weil das Spektrum sehr weit ist. Auch das war für uns Eltern nicht immer einfach, oft hätten wir gerne gewusst, auf was wir uns einstellen müssen, aber so funktioniert es halt nicht und schlussendlich haben wir immer es immer geschätzt, dass wir ehrliche Antworten bekommen haben, auch wenn diese halt waren, dass man eben keine genaue Prognose machen kann.
2/Wo wir bzw. unsere Tochter viel mehr Schwarzmalerei und „auf den Defiziten herumreiten“ erfahren haben, ist die Physiotherapie. Natürlich muss da an den Defiziten gearbeitet werden, aber wenn ein Kind immer nur hört, was es alles nicht gut macht oder kann, ist das mit der Zeit ganz schön frustrierend. Brauchte dann mal ein Gespräch mit der Therapeutin, um ihr dies bewusst zu machen.
Die Gratwanderung zwischen „das Kind hat ein Handicap“ und „es soll nicht anders behandelt werden“ ist manchmal nicht ganz einfach. Schlussendlich gibt es halt immer Bereiche, in denen das Handicap tatsächlich zum Handicap wird und ich bin dann eigentlich dankbar, wenn darauf auch Rücksicht genommen wird. Das geht aber nur, wenn die Leute auch Bescheid wissen. Nicht immer ganz einfach, das Ganze.
„Was aber nicht richtig wäre: sich selber zu überhöhen, nur weil man Glück im Unglück hatte.“
Das „Problem“ ist: Jeder der glaubt, dass sein Glaube etwas nützt und dann sogar von der Realität die Bestätigung erfährt, dass es tatsächlich so gekommen ist, wie er geglaubt hat (obwohl viele zweifelten), der wird dann kaum zu der Überzeugung gelangen, dass alles reiner Zufall war. Er ist dann vielmehr bestärkt, dass er mit seinem Glauben eben recht hatte und diese Erfahrung gibt ihm Mut für die Zukunft.
Dass wir zu 100% einem chaotischen Universum ausgeliefert sind, bietet wenig spirituelle Kraft. Und agnostisch müssen wir festhalten, dass die Kraft des Glaubens weder messbar, noch beweisbar ist.
@Divi D.
Ich denke man muss hier auch unterscheiden zwischen rational begründbarem Optimismus (z.B. „über 75% der Betroffenen erreichen diesen oder jenen Meilenstein, das wird schon noch“) und kommunikativer Empathie (kleine Schritte loben, sich auf das Positive konzentrieren, ermutigen etc.) .
Letztere ist eben leider auch nicht allen Fachpersonen in die Wiege gelegt… Da kann man entweder konfrontieren (in Ihrem Fall offensichtlich erfolgreich :)), oder aufgeben und den Arzt / Physio / was-auch-immer wechseln.
Ihnen und Ihrer Tochter weiterhin alles Gute!!
Aus Sicht der Eltern ist der Optimismus sicherlich ein ganz wichtiger Faktor, und es macht überhaupt keinen Sinn, sich nur auf worst-case-Szenarien zu stürzen und in Sorgen zu ertrinken. Aus Sicht der medizinischen Fachpersonen sieht das allerdings etwas anders aus: zu viel Hoffnung zu schüren, kann auch zu grossen Enttäuschungen führen. Statistische Wahrscheinlichkeit bedeutet für das Individuum noch längst keine sichere Prognose, aber womit sollen denn Ärzte sonst arbeiten? Klar kann man über die Verteilung aufklären und sicherlich auch mal hoffnungsvolle Fallbeispiele erwähnen – und v.a. mit Empathie und Fingerspitzengefühl arbeiten. Unter dem Strich würde ich aber als Arzt lieber bei der statistischen Mitte bleiben, und den Optimismus der Familie überlassen.
/2 Zweckoptimismus nicht angebracht ist und es ehrlicher und hilfreicher ist, gewisse Dinge auszusprechen (die Beispiele oben sind natürlich damit nicht gemeint).
Wir sind nicht alle gleich, unsere Befindlichkeiten variieren ganz erheblich und für ’natürliche Pessimisten‘ kann ein betont optimistisch aufgestellter Arzt/eine Pflegerin/eine Sozialarbeiterin eine Qual sein. Insofern respektiere ich natürlich den heutigen Blog, sehe in ihm aber keine Handlungsanweisung für jedermann/-frau.
Ich persönlich glaube, wie eigentlich bei fast jedem Thema, dass wir mit den Schwächsten in der Gesellschaft und ihren Betreuern so umgehen sollten (!) wie mit allen anderen Menschen: mit einer Art Grundrespekt bzw -vertrauen, dass sie es auf ihre Art richtig machen (werden). Ich weiss: dream on!
Bei allem Respekt der Autorin, ihrer Tochter und der Lebenssituation gegenüber, manchmal ist es auch wirklich schwierig, es richtig zu machen: An anderer Stelle heisst es z.B. oft, man solle doch mal offen nachfragen, anstatt zu ignorieren. Was richtig und falsch ist in solchen Situationen ist sehr individuell, und Fremde können ja unmöglich antizipieren, welche Wortwahl / Herangehensweise diese eine Familie nun präferiert – die nächste könnte es ja schon ganz anders sehen. Ich denke, wichtiger ist hier vielleicht auch, die Mimik, Gestik, Körpersprache, Tonfall, Freundlichkeit etc. zu berücksichtigen: Die meisten Menschen möchten es ja richtig machen und diesen besonderen Menschen mit Respekt begegnen. Vielleicht gelingt es nicht immer 100%, aber der Wille zählt doch auch, oder?
Sehr schön ausgeführt, LP! Wichtig in diesem Zusammenhang, das sagten Sie ja auch, dass Achtsamkeit in Bezug auf andere Menschen wichtig, aber auch oft illusorisch ist. Die Bedürfnisse unterscheiden sich zum Teil fundamental! Ich habe schon völlig gestresste Elternpaare vor mir gehabt, die jedes fundamental andere Bedürfnisse und Befindlichkeiten hatten – aber beide darunter litten, dass sie sich vermeintliche Erwartungshaltungen und Belehrungen der Aussenwelt (jedes auf seine Weise) viel zu sehr zu Herzen nahmen. Daher ist es – ich weiss das aus der Trauerberatung – oft keine Sache des Optimismus oder Pessimismus, sondern einfach nur realistisch und seelenhygienisch, nicht jede Ungeschicklichkeit als Angriff bzw unfreundllichen Akt zu nehmen.
Wahrscheinlich können viele Eltern bzw Pflegende ein Lied davon singen, wie wichtig es ist, dass sie Einsatz, Durchsetzungsvermögen und Hoffnung für ihre Schützlinge zeigen. Und in viel kleinerem Umfang lernen wir alle im Laufe unserer Leben, wie beflügelnd es sein kann, wenn positiv und hoffnungsvoll gesprochen und gehandelt wird statt von vornherein negative Szenarien heraufzubeschwören.
Aber wie immer im Leben ist eben nichts einfach: manche Menschen haben diesen Optimismus einfach nicht, haben vielleicht eine eher melancholische Sicht auf ihre Welt und immer wieder gesagt zu bekommen, dass sie ‚einfach‘ mal positiver denken müssten, hilft überhaupt nicht. Kommt hinzu, dass manchmal (die Grenze ist ausgesprochen schwierig zu definieren und variiert natürlich individuell)
Was nun die Wortwahl anbelangt. Man darf die Kraft der Sprache nicht unterschätzen und es ist wichtig, dass wir uns zur korrekten Wortwahl Gedanken machen. Sprache wandelt sich. Sie ist stets auch Ausdruck unseres Denkens, bzw. prägt sie das Denken. Und ich finde es gut, dass wir heute nicht mehr von Bastarden oder Krüppeln sprechen. Und genauso ist es richtig, sicher immer wieder Gedanken zu machen, ob auch heutige Begriffe noch angemessen oder sinnvoll sind. Wir sollten dabei einfach tolerant bleiben und Menschen nicht sofort nach ihrer Wortwahl beurteilen. Man könnte der Omi also sagen. „Ja, Sie haben recht. Wir sagen heute Einschränkung dazu.“
Ist jetzt zwar etwas off-topic, aber für mich stellt sich schon noch die Frage, was die wohl jeweils korrekte Wortwahl sein soll, und wer das unter welchen Kriterien bestimmt. Habe gestern ja gelernt dass man offenbar nicht mehr „Friseuse“ sagt, obwohl das früher völlig Usus war. Aber item.
Viele solche Sprachveränderungen passieren ja nicht einfach so sondern sind ein Stück weit oktroyiert, basierend auf einem teils diskutablen Verständnis von pc. Bis hin zu inquisitorischen Exzessen wie an gewissen Unis und oft gepaart mit Brandmarkung von Leuten, die nicht mit den neuesten linguistischen „Errungenschaften“ mithalten. Was zu der Intoleranz führt die Leute nicht nach ihrem Denken sondern primär nach ihrer einstudierten Wortwahl beurteilt.
Was nicht der Sinn der Sache sein kann.
Die Autorin hat das auch zum Thema gemacht. Deshalb ist es On Topic.
Ich versuchte, darauf differenziert einzugehen.
Inwieweit solche inquisitorischen Zustände „herrschen“, kann ich nicht beurteilen, da meistens „Journalisten“ darüber, die sich als sehr einseitige Stimmungsmacher mit einer politischen Agenda entlarvt haben. Aber bestimmt gibt es solche Auswüchse, weil Menschen stets zum Extremismus neigen.
Nur – bloss weil es solche Auswüchse gibt, ist die Diskussion nicht per se falsch. Der Beweis sind wir selbst, die wir heute nicht mehr so reden, wie noch vor 30 Jahren.
D.h. selbst wenn es Auswüchse gibt, dürfen wir nicht reflexartig weitere Korrekturen ablehnen.
(Der Reflex ist natürlich, geht mir auch so.)
Wenn sich eine Sprache innerhalb sehr kurzer Zeit in Sprachen spaltet, die Politiker eine andere als die Bevölkerung und beide eine andere als die zeitgenössische Literatur benutzen, dann darf man von einer Fehlentwicklung ausgehen.
Wenn ich Worte nicht genau kenne, dann prüfe ich vor Erstverwendung die Etymologie und die kontextuellen Benutzungsregeln. Da sehe ich dann z.B., dass Linguistik und Semeiotik keine Wissenschaft von Sprache, sondern über Sprachen sind. Wenn ich also eine Wortverwendung prüfe, dann befrage ich nicht die Linguistik, sondern die Semantik.
‚Friseuse‘ ist zwar ein Kunstwort, aber als solches stimmig. ‚Krankenschwester‘ ist falsch, weil die Pflege kein Kranken-, sondern ein Gesundheitsberuf ist. Usw. usf..
Ein guter Text, danke.
Optimistisch sein, lohnt sich. Selbst wenn wir einen Krankheitsverlauf nur bedingt durch unsere optimistische Einstellung beeinflussen können. (Klar im Nachhinein scheint es, als wäre der positive Verlauf 100% auf unsere optimistische Haltung/Glauben zurückzuführen. Doch diese Kraft lässt sich weder messen, noch beweisen.) Aber selbst wenn der Krankheitsverlauf nicht so positiv verlaufen sollte, lohnt sich der Fokus auf das Mögliche, die optimistische Einstellung. Sie gibt uns Kraft, sie befähigt uns das Gute zu sehen. Und das ist schon die halbe Miete.
Die Autorin schildert ihre Geschichte mit ihrer Tochter eindrücklich. Sie findet den Umgang Dritter mit ihrer Tochter in ihrer Eigenart unpassend und stellt mit Genugtuung fest, sie hätte in ihrem unbedingten Optimismus in Bezug auf das Entwicklungspotential ihres Kindes entgegen negativer Prognosen Recht behalten. Die implizierten Wünsche nach optimalen Interaktionen und „Normalität“ sind verständlich. Bei der Erfüllungen wird es schwierig: Kinder mit wahrnehmbaren Einschränkungen fallen aus der Norm – sie benötigen einen jeweils spezifischen Umgang in ihrer Andersartigkeit, ihre Eltern sehen sich Herausforderungen gegenüber. Mir scheint aber, die Autorin konstruiert eine „wir gegen die Welt-Haltung“, welche unerfüllbare Ansprüche an die Umgebung stellt – wäre es auch anders möglich?
Guter Kommentar.
Selber empfand ich es nicht unbedingt so, dass die Autorin in eine „wir gegen die Welt-Haltung“ mit unerfüllbaren Ansprüchen an die Umgebung verfällt. Oft ist es aber so, dass gerade Mütter solcher Kinder sich sehr ins Thema eingearbeitet haben und mit Argusaugen über ihre Schützlinge wie auch deren Interaktionen mit dem Umfeld wachen. Dass man implizit ein vergleichbares Wissen und die nötige Sensibilität vom Umfeld erwartet, verstehe ich aus Perspektive der Betroffenen. Trotzdem wären sie gut beraten, nicht jede unglückliche Bemerkung oder aus ihrer Sicht inkorrekte Formulierung auf die Goldwaage zu legen. Der Wunsch nach „Normalität“ ist menschlich wenn auch nicht immer realistisch.
Ob es anders ginge? Schwierig zu sagen, wenn man selber nicht betroffen ist.
Danke. Ich teile Ihre Erfahrung, dass sich Eltern solcher Kinder oft über Expertise in Bezug auf deren Besonderheit verfügen . Was ich mit „unerfüllbaren Ansprüchen“ meine, hat direkt damit zu tun, dass ihnen oft die Reflexion abgeht, dass nicht alle anderen über den gleichen Informationsstand und dieselbe Sensibilität (zu)verfügen (brauchen) und deshalb wie gewünscht interagieren – auch Eltern von speziellen Kindern dürfen das Principle of Charity (Prinzip der wohlwollenden Interpretation) verinnerlichen. Auch der Wunsch nach „Normalität“, einem sozialen Konstrukt, ist menschlich. In Kombination mit dem „unbedingten Optimismus“ erscheint mir Haltung der Autorin doch eher für Illusionen anfällig und deshalb fragwürdig. Meinen Respekt für ihre Leistung hat sie nichtsdestotrotz!
Der Titel sagt einiges: Wenn ich die tägliche, teilweise exzessive Benützung des Smartphones von Mitmenschen aller Alterskategorien betrachte, scheint mir eine andere Behinderung bereits begonnen zu haben. Dieser allerdings ist durch positive Einstellung allein wohl kaum mehr beizukommen.
2/
Als es unsere „labels“ noch nicht gab, hats dafür andere gegeben-
und im Gegenzug keine besondere Unterstützung/Verständnis,
sondern Ausgrenzung/Verachtung.
Das ist falsch. Ein Blick in die Medizin- und Kulturgeschichte beweist, dass es bereits sehr früh eine Kultur der Sorgsamkeit gab, die alle Ränder mit einschloss.
Das begann vor 70’000- 120’000 Jahren, als die Menschen ihre Verstorbenen nicht den Aasfressern überliessen und Bestattungszeremonien erfanden. An dem Tag begann die Sozialgeschichte der Menschheit.
Von da ab beobachten wir eine wechselseitige Beziehung zwischen den leistenden und den alimentierende Teilen der jeweiligen Gruppen. Wenn es die Ressourcen erlaubten, wurden die Alten und Schwachen geehrt, bisweilen sogar verehrt. Wenn nicht, wurden die Alten und Schwachen in den Tod gefeiert und dieser Tod wird von den Gefeierten meist selbst vollzogen.
Wir kennen im Angesichts von Ressourcenüberschuss nur Ausgrenzung.
@Muttis Liebling
und was ist mit den „Rändern“ welche gemieden wurden, weil man befürchtete sie seien verflucht/dämonisiert/verhext/wahlweise was anderes? Mit den Rändern, welche keine soziale Unterstützung erhielten, ausgenutzt, zum betteln gezwungen (teilsweise in anderen Gebieten noch heute Alltag).
So raumübergreifend war diese Kultur der Sorgsamkeit wohl nicht, oder dann verstehe ich unter Sorgsamkeit was anderes.
Brunhild, Sie denken da in anderen Zeitkategorien als ich. Vergleichen Sie mal den Umgang mit und die Wertsetzung von Krankheiten und Behinderungen im Alten und im Neuen Testament.
Im Alten Testament sind Krankheiten und Behinderungen Strafen Gottes für unbotsmässiges Verhalten. Der junge Saul ist gottesfürchtig und wird von dem dafür mit Reichtum und vielen Frauen belohnt. Der alte Saul wendet sich von Gott ab und wird mit Siechtum bestraft. Nirgends sonst im AT wird jemand so beschrieben. Bei David hätte man es auch machen können, hat man aber nicht.
Jesus kehrt das ins Gegenteil. Er heilt die Kranken und Behinderten, endet selbst aber im Leid. Das führte dazu, Krankheiten und Behinderungen als Nachvollzug der Leiden Jesu zu sehen und positiv zu bewerten.
2/ Paradoxerweise hat gerade der zeitlebens kränkelnde, ‚Gott ist tot‘ Pastorensohn Nietzsche diese Haltung bin zum Exzess getrieben und Krankheit als eine Auszeichnung beschrieben, gegen die man nicht immer angehen soll. Der Kranke und Behinderte ist selbst dann Gott näher, wenn er ihn für tot erklärt. Denn tot kann nur sein, wen es mal gab.
Trotz Jesus und der Reformation verstehen wir derzeit, und damit meine ich die letzten 500 Jahre seit der Renaissance, Krankheit und Behinderung eher alttestamentarisch. Als Strafe, nicht als Nähe zu Gott und damit Aufforderung zur Akzeptanz, statt mechanischer Gegenwehr.
Jesus geht mit Krankheit und Behinderung so um, wie alle vorneolitischen Kulturen es wenigsten 70´000 Jahre lang es taten. Wir tun das nicht, wir sind im AT hängen geblieben.
3/ Ich möchte jetzt nicht zu philosophisch oder religiös werden. Es gibt aber noch eines zu bemerken. In unserer jüdisch- griechisch- christlichen Kultur gibt es nur zwei idealisierte Arztfiguren. Das sind Asklepios und Jesus.
Asklepios wird von den Göttern degradiert, schon weil er als Mensch, nicht als Halbgott konstruiert ist. Er darf nur körperliche Schäden, die dafür aber vollendet beseitigen. Er darf aber nicht heilen, denn das schliesse die Überwindung des Todes ein. Das Heilen steht in der griechischen Mythologie nur den Göttern zu.
Dem stellt das Christentum Jesus gegenüber, der zwei Fähigkeiten mehr hat. Er kann den Tod besiegen und die Seele heilen.
Unser Arztbegriff ist der des Asklepios, nicht der des zeitlich und kulturell näheren Jesus. Das ist ein Widerspruch.
@Muttis Liebling
das ist jetzt nochmal ne ganz andere Kategorie welche Sie da ins Spiel bringen und der ich sicher nicht abgeneigt bin; wobei wir da auch einiges zu verantworten haben… .
Aber mir gings mehr um den Punkt, dass ich sehr froh um „heutige labels“ und „Behinderungsüberschriften“, „Störungstitel“ bin, und das nicht als abwertend oder schubladisierend im negativen Sinn verstehe. Sondern als offenstehende Türe zu besserem Verständnis und Unterstützung was zu weniger „Biographieschädigung“ (wie Sie weiter unten bemerken) führt.
Brunhild, Sie artikulieren da etwas Pragmatisches, was heute eher Orientierungslosigkeit bedeutet.
Als Mensch und Arzt brauche ich keine Diagnose, kein Label. Leidensdruck reicht mir völlig aus als Handlungsantrieb. Selbst um eine Krankheit zu behandeln, braucht man keine Diagnose, Symptome reichen vollständig aus.
Was Sie formulieren ist die Kapitulation des Leidens vor deren Formalisierung. ADHS ist etwas, was wenigstens zwei Menschen leiden lässt, erst die Mutter, dann irgendwann das Kind.
Als Handlungsanweisung ist das mehr als genug, nur zwingt eine Formalisierung, dies in das auf den ersten Blick unpassende Konzept einer Krankheit zu zwängen.
So komisch das klingt, Medizin braucht keine Idee von Krankheit oder Gesundheit. Es reicht die Kategorie des Leidens.
4/ Nur um den Gedanken zu Ende zu führen, ich weiss das liest niemand mehr und verstehen will es auch niemand, ausser Sie Brunhild vielleicht.
Das Seelenheil ist 1900 Jahre nach Jesus in unserer Kultur im Zuständigkeitsbereich der Religion verblieben. Bis Siegmund Freud die Technik der Psychoanalyse erfunden hat, dem aber nicht aufgefallen ist, dass die nur eine erweiternde Methode der katholischen Beichte ist. Freud sah die Psychoanalyse als eine jüdische Kunst, die Nichtjuden nie beherrschen können. Aber immerhin wanderte das Seelenheil so zurück in das Heilen der Seele.
Es gibt nichts in unser heutigen Medizin, unserem heutigem Gesundheitsverständnis, was man sich unabhängig von Religion denken kann. Nur dumm, dass das unsrige noch vor Jesus ist.
@Muttis Liebling
in engerem Rahmen, und für einen umsichtigen&reifen Mediziner, kann ich mir das „Handlungsanweisung ergibt sich aus dem Leidensdruck“ einigermassen vorstellen. Doch wie gelangen Sie zum Wissensfundus, aus dem Sie die jeweilige Handlungsanweisung entnehmen? Und wie soll der Wissenstransfer ohne „Krankheitsdiagnosen/labels“ aufgebaut/vermittelt werden? Und auf der profanen Ebenen zuletzt, welche Versicherung wird dank beschriebenem „Leidensdruck“ Geld für Leistungen freisetzen? Wie sollen ohne Katalogisierungen Unterstützungsangebote (Therapien, Spezialschulen bis geschützte Werkstätten, begleitetes Wohnen etc) effizient strukturiert werden können?
2/
Was das Seelenheil betrifft, ich weiss nicht wie aktuell die Aussagen von Grawe noch sind, aber dass das menschliche Nähe/Anteilnahme-spüren einen positiven Einfluss auf den Verlauf einer Therapie hat, würde für mich ein bisschen in diesen Bereich gehören. Ein geschützter Raum kann Kraft freisetzen.
Selbstverständlich lohnt es sich immer (zumindest meistens) die Hoffung zu behalten, sie ist unser Motor und kannuns in ausweglos scheinenden Momenten über Wasser halten!
Dennoch bin ich froh um „labels“ und habe mit den „neutralen Umformulierungsversuchen“ eher Mühe, egal auf welchem Gebiet.
Mit mehr Einsicht/Wissen kann das Verständnis wachsen, und spätestens wenn es um sozialversicherungs-technische Aspekte gibt, um Kostenübernahmen, Therapien etc wird jeder Betroffene sehr dankbar für das „label“ sein, ich zumindest bin es.
Es gibt Krankheiten und Diagnosen. Krankheiten sind ein Glas Mischobst mt einem Etikett, auf dem die Diagnose steht. Man kann das Glas lassen wie es ist und statt Mischobst Früchtecocktail auf das Etikett schreiben.
Seit der 8. Revision ist der ICD, der Katalog der Krankheiten um > 100% Seitenzahl und Positionen gewachsen. Es steht kaum zu vermuten, dass es heute mehr Krankheiten als vor 1000 Jahren gibt. Es gibt gleichviel Gläser, aber ungleich mehr Etikette.
Es ist so, um an die Töpfe der Krankenkassen zu kommen, muss man ein Etikett schreiben. Krankheit muss nicht zwingend sein. Es reicht das Etikett.
Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Depression eine Krankheit ist. Melancholie war eine Tugend zur Zeit des Minnegesangs. Nur zahlen Kassen eben nur für Krankheiten.
Die Stärke einer Gesellschaft misst sich im Umgang mit den Rändern. Dem entgegen stehen Tendenzen in Richtung Leistungswahn und Selbstoptimierung, gepaart mit Ausgrenzung allen Nichtoptimalen. Wer den Konflikt für die nächste Zeit gewinnt, kann ich mir sparen, zu erwähnen.
Obwohl unter Soziologen, Medizinern, Pädagogen, usw. inzwischen weitgehender Konsens besteht, dass es das ‚Normale‘ nicht gibt, bewegt sich die öffentliche Meinung in die Gegenrichtung. Normen werde dazu erdacht und die es schon gibt, werden enger gefasst.
Die Erfindung der Krankheit ADHS ist ein markantes Beispiel dafür. Das Phänomen ist eine Gesundheitsstörung, hat die Potenz, die Biografie zu beschädigen und ist deshalb behandlungsbedürftig. Aber das Label ‚Krankheit‘ ist so überflüssig wie falsch.
ML – ganz nach dem Motto: „Menschen waren schon immer schlau, nur die gegenwärtige Gesellschaft ist blöd.“
Dann: „Mediziner etc. sind sich einig (=meiner Meinung) nur die Gesellschaft steuert in eine andere Richtung.“ Nur um dann als Beweis die „Erfindung der Krankheit ADHS“ zu nennen!
Dabei wird ja diese Diagnose von Medizinern gestellt. Und warum soll das negativ sein? Ich kenne genügend Erwachsene, die sehr dankbar sind für diese Diagnose. Weil ADHS die ganze Zeit ihr Leben belastet hat und sie keinen Plan hatten, wie sie damit umgehen können.
Ich frage mich manchmal schon, ob Sie auch mit realen Menschen Kontakt haben.
Sorry – diesmal ging meine Kritik zu weit.
Ich habe Sie nur oberflächlich gelesen. Sie schreiben „Das Phänomen ist eine Gesundheitsstörung, hat die Potenz, die Biografie zu beschädigen und ist deshalb behandlungsbedürftig. Aber das Label ‚Krankheit‘ ist so überflüssig wie falsch.“
Das ist sicher richtig.
Stimme auch überein, dass man besser das Wort „Störung“ als „Krankheit“ benutzt. Und dass unser aller Störungen mannigfaltig sind. – Wichtig scheint mir, dass diese selbst wenn sie „normal“ (weitverbreitet) sind, dennoch behandlungsbedürftig sind, das sie, wie Sie richtig sagen die „Potenz haben, die Biografie zu beschädigen“.
Mir geht es nur darum, sauber zwischen Krankheiten und Gesundheitsstörungen zu unterscheiden. Krankheiten gehören unteilbar zum Leben und lassen sich weder heilen, noch verhindern. Nur auf der biografischen Achse so weit verschieben, dass sie irgendwann nicht mehr auffällig werden.
Gesundheitsstörungen kann man wenigstens im Prinzip verhindern. Ich denke schon, dass man so etwas wie ADHS in dem Sinne in den Griff bekommt, dass es sehr selten wird. Aber nicht durch Medikamente, sondern durch Kultur. Infektionen sind ja auch keine Krankheiten, sondern mikrobielle Unfälle, die man mit hygienischen, also kulturellen Strategien, minimieren kann.
Behinderungen muss man einfach akzeptieren. Das ist auch eine Frage der Kultur. Medizin ist immer nur das letzte aller Mittel.